Große Kunst geht ihre eigenen Wege. Sie sprengt alle gängigen Einordnungsschemata. Das gilt auch für die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller (*1953). Man kann sie durchaus auch als bildende Künstlerin würdigen, denn sie hat sich mit ihren Text-Bild-Collagen im Postkartenformat seit Jahren eine Gattung sui generis geschaffen. Walter Kayser zeigt sich begeistert.
Wer gedruckte Worte hier und da ausschneidet und die einzelnen Schnipsel zusammenklebt, will seine Spuren verwischen. Erpresser melden so ihre Forderungen an, Verleumder stoßen so ihre Morddrohungen aus, damit Ermittler keinesfalls zurückverfolgen können, von welcher Hand oder Schreibmaschinentype die geheime Mitteilung stammt.
Herta Müllers Collagen stehen in dieser Tradition. Sie konnotieren eine Sphäre von Geheimnis, Tarnung, Verschlüsselung. Denn ein figurativer Sprachgebrauch, der sich der Kontrolle und Denunziation zu entziehen versucht, war und ist in Diktaturen überlebenswichtig. Das, was gesagt wird, ist keinesfalls das, was gemeint wird, – weder auf Seiten der Täter, die von Lügen und Denunziation leben, noch auf Seiten der Opfer, die eine Schutzstrategie brauchen, um die Wahrheit zu verschleiern. Jedes Wort muss geprüft und dreimal gewendet werden. Wie in Kassibern (ursprünglich ein Szenen–, ein Rotwelsch–Wort für die heimlichen Mitteilungen zwischen Gefangenen) war ein solches Verhältnis zur Sprache für die 1953 im Banat geborene Herta Müller und ihren Freundeskreis bis in ihr Erwachsenenleben ihr bitteres täglich Brot. Das Leben in Angst und Diktatur ist das Lebensthema der Literaturnobelpreisträgerin. So beschreibt sie in ihrem Roman «Herztier», wie es im engsten Kreis der wenigen vertrauenswürdigen Freunde notwendig war, möglichst harmlose Sätze in Briefe einzubauen, die nur die Eingeweihten erkennen ließen, ob etwa das geheime Bücherversteck in einer Waldhütte von Geheimdienstlern inzwischen entdeckt worden war oder nicht. Ein harmloser Satz wie «Ich habe mir neue Schuhe gekauft» fungierte so als alarmierende Warnung vor den Häschern des rumänischen Geheimdienstes Securitate.
Bis vor kurzem hingen in nüchterner Reihung und schmucklosen weißen Holzrahmen 140 Collagen der Literaturnobelpreisträgerin in Baden, einer kleinen Stadt im Kanton Aargau. Das ist weit von Rumänien und jeder Diktatur entfernt, verströmt doch die Villa Langmatt nichts als gediegene Behaglichkeit. Im großbürgerlichen Ambiente einer Industriellenhauses mit schönem Park ist hier die größte private Impressionisten–Sammlung der Schweiz untergebracht. Der Münchner Hanser–Verlag hat unter dem Titel «Der Beamte sagte» ein Buch herausgebracht, das nicht nur als Ausstellungskatalog zu verstehen ist.
Die Schriftstellerin Herta Müller hat mit ihren Collagen eine ganz und gar eigene Gattung entwickelt, die in ihrem Werk immer mehr Raum einnimmt. Diese ist irgendwo zwischen Lyrik, Plakaten, Bildern und Kurzszenen oder Traumfetzen anzusiedeln. Dass der Untertitel des Buches sogar den Begriff «Erzählung» bemüht, erscheint zunächst verstörend. Doch tatsächlich gibt es zwischen den verdichteten Kurzmitteilungen viele intertextuelle Bezüge. Sie rekapitulieren Erinnertes und schreiben als Hypertext eine Autobiografie fort.
In Interviews der letzten Jahre hat die Autorin wiederholt berichtet, wie sich dieses Format entwickelte: Ursprünglich dienten die zusammengeklebten Wortcollagen als verschlüsselte Briefmitteilung an ihren früheren Ehemann, den Schriftsteller Richard Wagner. Und später, als sie beide nach ihrer Aussiedlung im Westen lebten und die Autorin viel herumreiste, gefielen ihr als Grußbotschaften die grellbunten Postkarten nicht. So schuf sie kurzerhand ihre eigenen. Bis heute ist sie beim diesem kleinen Format geblieben.
Die Kurztexte aus ein, höchstens zwei Sätzen bewegen sich an der die Grenze des Sagbaren. Sie sind in jeder Beziehung hermetische Flaschenpost voller kühner Metaphorik. Ihre Schönheit verdankt sich einer äußersten Kargheit und Dichte. Herta Müllers Collagen potenzieren das, was der österreichische Literaturwissenschaftler Raoul Schrott (*1964) in seinem Buch über Metaphern, welches er zusammen mit dem deutschen Neurologen Arthur Jacobs (*1958) schrieb, von allen Gedichten sagte: Da sie Bild, Musik, also Rhythmus und Klang, und Information synchron zu liefern verstünden, seien sie im Grunde ein «Kino im Kopf».
Durch seine je eigene Typographie wird jedes Wort in diesen Collagen isoliert. Jedes bekommt sein besonderes Gewicht, ist es doch aus dem ursprünglichen Zusammenhang buchstäblich herausgeschnitten wie ein überlebenswichtiges Organ vor einer Transplantation. Es ist ja bekanntlich das Wesen jeder Metapher, als Fremdkörper und «semantischer Verstoß» in einen widernatürlichen, völlig ungewohnten Bedeutungszusammenhang «verpflanzt» worden zu sein. Je nachdem, wie «kühn» oder wie «verblasst» das Sprachbild in der neuen semantischen Umgebung erscheint, wirkt es auf Anhieb einleuchtend oder aber als verstörender Kurzschluss. Als solcher kitzelt eine poetische Metapher die Imaginationskraft des Lesers und verlangt nach der Erschließung ganz neuer Sinnhorizonte.
Wo beim Lesen das wandernde Auge oder die Stimme einzuhalten hat und wo die sinntragenden Akzente sind, bleibt zunächst unklar. Denn es fehlt auch die hilfreiche Gliederung durch Interpunktion, die Unterscheidung von Groß– und Kleinschreibung. Überall lauern mögliche Versumbrüche wie Fallen. Diese Enjambements verzögern im Akt des Lesens die sich abzeichnende semantische Kohärenz. Der Leser muss die Taktstriche selber setzen. Er stolpert über unverhoffte Binnenreime, die an das «Spitten» erinnern, jenes verblüffende Spielen mit gleichklingendem Wortmaterial in Rap–Songs. So geht der Leser bei der Dekodierungsarbeit wie auf Eis, oder genauer: als würde er von Eisscholle zu Eisscholle springen.
Dabei gibt es durchaus ein wiederkehrendes Arsenal von hochpoetischen Bildelementen, deren Bedeutung sich oft nicht mehr dechiffrieren und verankern lässt: die demütigende Befragung in einer miefigen Amtsstube; die ungreifbare Figur eines verhörenden Beamten («Herr Fröhlich von der Prüfstelle B, der immer Oh Oh Oh sagt»); Tiere tauchen als vertraute Freunde auf (das Zebra oder der kleine «Vogel mit dem Silberkragen»); der Schnee ist ein auffälliges Leitmotiv; ebenso das Schweigen oder die Farbe Weiß.
Der verstörende Ton dieser Texte ist zugleich kindlich unbefangen. Szenen von einer schrecklichen Absurdität und Lächerlichkeit scheinen in der Erinnerung auf, wie sie der Alltag in Diktaturen so oft zu bieten hat. Angst und Verwundbarkeit mischen sich mit Widerständigkeit gegen die Willkür. Doch im Ausgeliefertsein an eine grausame Spießigkeit kippt diese plötzlich in Lächerlichkeit und groteske Komik um. Humor wird zur Bewältigungsstrategie. Das zeigt sich vor allem darin, dass die Gedichte mit einer Schlusswendung oder einem Stilbruch enden. Oft kleidet der sich in einen völlig unerwarteten Reim – karikiertes Sinnbild einer platt harmonischen Versöhnung. In solchen Pointen meldet sich die Möglichkeit, die Szene zu sprengen, sie in absurden Nonsens münden zu lassen. Auch das hat mit der Repressionserfahrung Herta Müllers zu tun. Denn Selbstbehauptung und Resilienz zeigen sich bekanntlich in der Fähigkeit, selbst unerträglichste Situationen unernst sehen und so Distanz aufbauen zu können. Es sind clowneske Purzelbäume gegen die Angst als dem Hauptinstrument aller Diktaturen. Die kleine Erzählung springt sozusagen aus dem vorgezeichneten Gleis und verdreht sich in den alles in Frage stellenden Aberwitz. Das eröffnet einen Freiraum, indem er das Kindliche im Menschen akzeptiert und eine liebevolle Selbstrelativierung ermöglicht.
Rezeptionsästhetisch sind in den Collagen zwei grundverschiedene Wahrnehmungsweisen verschränkt: Das Lesen eines Textes als Vorgang, der erst sukzessiv abstrakte Zeichen in Sinn verwandeln kann, während das Bild sich dagegen simultan und unmittelbar anbietet.
Für Kenner des Œuvres von Herta Müller ist offensichtlich: Es gibt absolut keinen Bruch zwischen der Romansprache und diesen Collage–Gedichten. Schon immer waren poetische Kühnheit und lapidare Kargheit für das Werk der Dichterin charakteristisch. Das zeigt sich bereits beim Blick auf so verrätselt schöne Romantitel wie «Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt», «Barfüßiger Februar», «Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett» oder «Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne». Hieß es in der Begründung der Nobelpreisjury 2009, dass die Dichterin «mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit» gezeigt habe, so gilt das erst recht für diese Plakatgedichte. Immer wieder stieß der Leser schon in den Romanen auf hart gemeißelte Sätze und eindringliche poetische Bilder. So ist etwa einer der Schlüsselsätze im bereits erwähnten «Herztier», ihrem 1994 erschienenem zweiten Roman, auch als Collagenplakat vorstellbar: «Aus jedem Mund kroch der Atem in die kalte Luft. Vor unseren Gesichtern zog ein Rudel fliehender Tiere. Ich sagte zu Georg: Schau, dein Herztier zieht aus.»
Was viele im Westen heute nicht verstehen: Schikane, Verdächtigung und demütigende Bespitzelung sind Herta Müllers obsessives Thema geblieben. Wirft man ihr vor, dass sie sich doch mittlerweile von der belastenden Vergangenheit endlich trennen und neue Themen erschließen solle, so verweist sie mit Recht auf die alltägliche Gegenwart von diktatorischen Praktiken in Belarus, China, in etlichen Staaten des Vorderen Orients, der Türkei oder Russland. Auch ist es das Wesen jeder Traumatisierung, dass sie von einer Vergangenheit handelt, die nicht vergehen will. Peinlicherweise beziehen sich nun aber die jüngsten Arbeiten auf Situationen, die Herta Müller 1987, unmittelbar nach ihrer Ankunft im demokratischen Westen erlebte. Sie war damals schockiert, dass der Arm der rumänischen Securitate bis in die Bundesrepublik reichte. Plötzlich sah sie sich, ganz wie zuvor im Reich des Nicolae Ceaușescus Morddrohungen ausgesetzt, musste sich ebenso unversehens gegen die Unterstellung wehren, eine Spionin in den Diensten der rumänischen Diktatur zu sein.
Es ist müßig zu diskutieren, ob die Literatin in der Tradition der kunstgeschichtlichen Collagen steht. Dass die scharfe Trennung von Text– und Bildwelten in der Kunst des späten 20. Jahrhunderts immer mehr verschwimmt, ist offensichtlich; man denke nur an die so wichtigen Sinnhinweise in den frühen papier collé der Kubisten, an Hannah Höch und Kurt Schwitters, bis hin zu Jenny Holzers Truisms–Projektionen und Barbara Krugers wandhohen Plakaten.
Und umgekehrt: Sind eindringlichere Illustrationen zu jenem Joseph K. vorstellbar, der mit einem Mal aus völlig unerfindlichen Gründen sich vor die Schranken eines übermächtigen Gerichts gestellt sieht, als die flüchtig an den Manuskriptrand gekritzelten Zeichnungen des Autors Franz Kafka?
Auch die Bildelemente, die Herta Müller in den letzten Jahren den Worten zugesellt, reichern die Vieldeutigkeit durch offene, vieldeutige Bezüge an. Sie konfrontieren auf surreale Weise, die auch an die wackligen Schnitte der frühen Stummfilme denken lassen. Disparates, Fraktur, Farben, Größe der Buchstaben, graphische Platzierung und die hinzutretenden Piktogramme haben eine immer größere ästhetische Rolle gewonnen, sodass man die Dichterin genauso gut als bildende Künstlerin bezeichnen könnte. Betrachten wir das Wechselspiel von abstrahierenden Schriftzeichen und konkretisierenden Bildzeichen beispielhaft in der Collage «Der Beamte fragte»:
Es ist keineswegs unwesentlich, dass das Wort «ich» eine zentrale Position im Textbild zugewiesen bekommt, geht es doch hier ganz offensichtlich um eine existenzielle Situation der Selbstbehauptung und Entlastung gegenüber der Anklage. Genauso erscheint es bedeutsam, dass es im Unterschied zu den meisten anderen Wortschnipseln mit der Hand geschrieben und besonders markant Schwarz auf Weiß hervortritt. Das Wort «tot» ist fahrig hingekritzelt und korrespondiert ikonisch mit dem Bildelement am Schluss, welches neben dem Ohr (Sinnbild des Ab– und Aushörens im Ver–hör), ein Geländer zeigt, hinter dem sich ein ferner blauer Himmel als Sinnbild der verlockenden Freiheit öffnet. Dass das lakonisch bestätigende «Aha» des verhörenden Beamten ausgerechnet in einer Schrifttype erscheint, welche an die schnörkelhaft sorgfältige Schreibschrift von Erstklässlern erinnert, lässt erkennen, dass das verdächtigte Ich sich der scheinbaren Bestätigung und Harmlosigkeit des Dialogs bewusst ist. Es weiß, dass die Entlastung durch Zeugen, die ermordet oder gefangen gesetzt wurden, nicht hilft. Zugleich bewahrt das Ich aber dennoch seine Würde, indem es, auch im Zustand des Ausgeliefertseins die Wahrheit ausspricht und auf seiner Unschuld zu beharren wagt. – Große Kunst, literarisch wie bildnerisch!
Titel: Der Beamte sagte. Erzählung
Autorin: Herta Müller
Verlag: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München 2021
Gebundene Ausgabe, 164 Seiten
ISBN-10: 3446270825
ISBN-13: 978-3446270824