Rezensionen

Hannelore Fischer (Hg.)/Käthe-Kollwitz-Museum Köln: Käthe Kollwitz. Der Werküberblick 1888-1942. Hirmer Verlag

Das Werk von Käthe Kollwitz (1867-1945) erfreut sich seit ihrem Tod einer ungebrochenen Beliebtheit. Die größte Graphikerin des vergangenen Jahrhunderts muss nicht neu entdeckt werden, und es bedarf auch nicht einer gewaltsamen Aktualisierung, indem man auf das gegenwärtige Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine verweist. Ihre Bilderfindungen sind zu eindrücklich, emotional zu aufrüttelnd und damit stets aktuell. In diesen Tagen wird Hannelore Fischer, die Direktorin des Kölner Käthe-Kollwitz-Museums in den Ruhestand verabschiedet. Unter ihrer Ägide hat sich über mehr als 30 Jahre die Sammlung weltweit zur größten ihrer Art entwickelt. Noch während sie an einem neuen Werkverzeichnis der Handzeichnungen arbeitet, legt Fischer jetzt sozusagen als Vermächtnis eine Monografie vor. Walter Kayser zeigt sich beeindruckt.

cover © Hirmer Verlag
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Auf den ersten Blick könnte man meinen, es müsse ein Relikt des Kalten Krieges sein, dass es von Käthe Kollwitz gleich mehrere Museen in Deutschland gibt. Doch das stimmt nicht. Zwar galt die Künstlerin als aufrichtige Repräsentantin eines anderen Deutschlands in dessen finstersten Zeiten, deren Erbe seinerzeit beide deutsche Staaten für sich reklamierten. Aber das Käthe-Kollwitz-Museum in Berlin liegt nicht im ehemaligen Ostteil der Stadt, wo die Künstlerin mehr 50 Jahre ihres Lebens verbrachte. Nein, die ehemals kommerzienrätliche Villa in der Fasanenstraße befindet sich, zwischen Literaturhaus und namhaften Galerien und Auktionshäusern, im feinen Stadtteil Charlottenburg und wird in Kürze in den Theaterbau des Charlottenburger Schlosses umziehen. Das heißt, das Berliner Museum bleibt auch weiterhin im ehemaligen Westen der Stadt und zumindest innerlich weit entfernt vom proletarischen Milieu des Prenzlauer Kiezes, in dem die Arztpraxis von Karl Kollwitz lag, wo die Künstlerin mit Kohlestift und Kreide festhielt, was sich ihr an Szenen der Armut und Trostlosigkeit aufdrängte.

Es ist vielmehr so, dass sich die Gründung dieses Museums genauso einer privaten Initiative verdankt, wie die bereits ein Jahr zuvor erfolgte des Käthe-Kollwitz-Museums in Köln. Der 40. Todestag der Künstlerin am 22. April 1985 unter der Trägerschaft (und noch innerhalb) der Kreissparkasse Köln gab den Anstoß. Dank des anhaltenden Mäzenatentums der Bank und nicht zuletzt, weil sein Anfangsbestand aus dem Nachlass der Künstlerin stammte und die Erbengemeinschaft mit dem Museum weiterhin eng zusammenarbeitete, entwickelte sich das Kölner Haus sehr bald zur bedeutendsten Sammlung ihrer Art. Immerhin nennt das Museum am Kölner Neumarkt mehr als 300 Zeichnungen sein Eigen. Darunter sind auch viele Neuentdeckungen der letzten Jahrzehnte, die in den Werkverzeichnissen von Otto Nagel/Werner Timm (1980), von Knesebeck (2002) oder Annette Seeler (2016) noch nicht erfasst werden konnten. Zudem gibt es hier seltene Zustandsexemplare des umfangreichen druckgrafischen Werks, sämtliche Plakate und das museal greifbare plastische Werk. Jutta Bohnke-Kollwitz, die im vergangenen Jahr verstorbene Enkelin von Käthe Kollwitz, war die Gründungsdirektorin des Kölner Museums. Natürlich stand es von Anfang an zu dem Berliner Haus in einer gewissen Konkurrenz, die der Rezeption dieser außerordentlichen Künstlerin nur guttun kann. 1990 folgte in seiner Leitung Hannelore Fischer, die nun, nach mehr als dreißig Jahren, in den verdienten Ruhestand verabschiedet wurde. Schließlich geht auch die 1995 eröffnete Gedenkstätte in Moritzburg bei Dresden, direkt am Rande der Schlossteiche gelegen, wo die Künstlerin nach dem Tod ihres Ehemanns Zuflucht suchte und sehr bald starb, maßgeblich auf das Kölner Museum zurück.

Das von Hannelore Fischer nun vorgelegte Buch kann also mit Fug und Recht als ihr Vermächtnis verstanden werden, stellt es doch, nachdem sich etliche Ausstellungen immer wieder mit bestimmten Schwerpunkten des Œuvres beschäftigten, einen repräsentativen Querschnitt des Gesamtwerks dar. Eine großzügige und geschmackvolle Aufmachung und die herausragende Bildqualität zeugen dabei vom Spitzenstandard des Münchner Verlagshauses Hirmer.

Das Buch gliedert sich in 15 Kapitel, die im Wesentlichen der Vita und der Werkentwicklung der Künstlerin folgen. In einer Einführung umreißt die Herausgeberin zunächst das Lebenswerk und die Bedeutung ihres Hauses; ein in Jahresschritten vorgehender tabellarischer Lebensüberblick von 1867 bis 1945 schließt den Band ab. Dieser geschichtliche Zugang ist in den einzelnen Textbeiträgen der sieben Autorinnen (- es sind tatsächlich sechs Frauen) mit thematischen Aspekten und den bedeutendsten Werkgruppen verschränkt. Es werden die von der naturalistischen Literatur beeinflussten Einzelblätter vorgestellt, noch bevor der Zyklus zu Gerhart Hauptmanns »Die Weber« (1893-97) mit einem Schlag der Künstlerin zum Durchbruch verhalf. Auch in dem Radierzyklus zum deutschen Bauernkrieg ist es der Aspekt des tragischen Scheiterns einer aussichtslosen Revolte, der die Künstlerin besonders anspricht. Unschuldiges Leiden und empathische Anteilnahme, darauf kam es ihr an. Davon zeugen auch immer wieder wirkungsvoll herausgehobene Sätze aus Tagebüchern, Briefen, Erinnerungen. Die symbolistischen Radierzyklen Max Klingers waren ihr Vorbild, der große Impressionist Max Liebermann ihr Mentor und vor allem zwei Reisen nach Paris, 1901 und 1904, der entscheidende Kontakt mit den modernen Kunstströmungen.

cover © Hirmer Verlag
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Gleichwohl ist es nicht einfach, Käthe Kollwitz einer Stilrichtung zuzuordnen. Sie ging von Anfang an ihren eigenen Weg. Schon aus Gründen einer unbedingten Verständlichkeit waren symbolistische Verschlüsselungen ebenso wenig ihre Sache wie expressionistische Verzerrung, Entgrenzung und pathetische Überhöhung. Sie folgte zwar der naturalistischen Losung »le beau c’est le laid«, versuchte aber bei aller sozialkritischen Anklage das Überzeitliche zu treffen und rutschte niemals in Elendskitsch ab. Es ging ihr nicht um Erzählungen, sondern um die Verdichtung einer existenziellen Grund- und Grenzsituation von Liebe, Geburt, Abschied und Tod in einer möglichst reinen Ausdrucksgeste. Das Bemühen um eine schonungslose, drastische und emotional aufrüttelnde Intensität äußert sich sehr bald in der stilistischen Beschränkung auf die Kontrastierung von Schwarz-Weiß, auf das Spiel von Licht und Schatten, das sie mit ungemein sicherem Strich einzufangen weiß. Unnachahmlich virtuos setzt sie breit schraffierend die Kreide oder Kohle auf grob gekörntem Papier an und kommt ohne scharf gezogene Konturlinien aus, wenn sie ein Gesicht oder einen muskulösen Körper wie eine Landschaft modelliert.

Besonders in der zweiten Lebenshälfte scheut sie niemals die Parteinahme für die Entrechteten. »Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat«, notiert sie ganz selbstverständlich in ihrem Tagebuch 1922. Mit ihren Bildern dokumentiert sie wie kaum jemand anderes die schrecklichen Jahre des 1. und 2. Weltkriegs und der turbulenten Zwischenkriegszeit, jener ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, für welche Historiker nicht ohne Grund den Begriff »zweiter Dreißigjähriger Krieg« vorgeschlagen haben. Dabei gründete ihre ethische Gradlinigkeit und »Authentizität«, wie man heute sagen würde, schon in der Königsberger Kindheit, denn bereits ihr Vater war ein christlicher Freikirchler und engagierter Sozialdemokrat (wie auch Käthe Kollwitz' Bruder und ihr Ehemann).

Es bleibt nicht aus, dass die verschiedenen Textbeiträge immer wieder auf die gleichen Lebensumstände zu sprechen kommen. Ohnehin richtet sich diese Monografie weniger an wissenschaftliche Fachkollegen als an ein breiteres Publikum. Wiederholt wird beispielsweise darauf verwiesen, dass die einschneidende Zäsur im Leben der Kollwitz ohne Zweifel der Tod des Lieblingssohnes Peter war. Dieses Ereignis wurde ihr zum verhängnisvollen Ausgangspunkt des »Grabzugehens«, wie sie gestand. »Von da an datiert für mich das Altsein«. Die näheren Umstände machen das Trauma noch verständlicher: Nachdem sich in der allgemeinen Begeisterung zu Kriegsbeginn der ältere Sohn Hans als Freiwilliger gemeldet hatte, half die Mutter, gegen den ausdrücklichen Willen des Vaters, dem noch minderjährigen zweiten Sohn Peter, sich als Soldat rekrutieren zu können. Schon vier Wochen später, am 22. Oktober 1914, war er bei seinem ersten Kampfeinsatz »gefallen«.
Umso erschütternder mutet es da an, dass die Kollwitz das Motiv der »Frau mit totem Kind«, eine von jedem sakralen Sinnzusammenhang entkleidete »Pietá«, schon Jahre zuvor wieder und wieder mit dem Sohn Peter als Modell zeichnete. Seit 1993 befindet sich in der Mitte der 1960 wiederhergestellten Schinkelschen Neuen Wache unter den Linden die 1938 geschaffene Kollwitz-Plastik »Mutter mit totem Sohn«.

Eingerahmt werden die unterschiedlichen Beiträge des Buches durch zwei Betrachtungen zu den mehr als 100 Selbstbildnissen. Das visuelle Gespräch mit sich selbst mag anfangs mehr der Vergewisserung und Identitätsfestigung gedient haben; später sucht die Künstlerin auch in diesem Genre hinter der individuellen äußeren Erscheinung des eigenen Spiegelbildes mit bohrender Eindringlichkeit das Allgemeinmenschliche. Wir sehen in das Gesicht einer Frau wie in ein offenes Buch. Wir sehen: Sie war uneitel, herb und am Ende verbraucht und »satt an Jahren«. Sie ging ihren Weg gradlinig nach dem Motto: »Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.«


Käthe Kollwitz: Der Werküberblick. 1888 - 1942
Hg. von Hannelore Fischer für das Käthe-Kollwitz-Museum Köln
Hirmer-Verlag, München, 2022
304 Seiten, 259 Abbildungen, 24 x 28 cm, Halbleinen mit Lesebändchen
ISBN: 978-3-7774-3078-2

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