Klingt es nicht paradox oder gar abwegig, von einer »Geschichte des Gesichts« zu sprechen? Denn es geht ja nicht um die Geschichte eines einzelnen Gesichts, die man sehr wohl erzählen kann, sondern um die des Gesichts überhaupt. Hans Beltings »Faces« ist das Buch eines Kunsthistorikers, das sich nicht mit der Analyse berühmter Bilder begnügt, sondern anthropologische Einsichten ebenso enthält wie zeitkritische Elemente. Stefan Diebitz hat es gelesen.
Gleich zwei Mal betont Hans Belting die Größe seines Projekts. Zunächst, in der Einleitung, findet er, dass sein Vorhaben »jeden Rahmen sprengt«, später, im Nachwort, spricht er von seiner Beschäftigung mit einem »maßlosen Thema«. Ein wenig stimmt diese Einschätzung seines Gegenstandes wohl wirklich, denn schließlich ist das Gesicht der Fluchtpunkt und das Zentrum alles Menschlichen, wobei die Betonung auf »alles« liegt. Dabei hat Belting sogar anders, als er es noch in »Florenz und Bagdad« getan hat, auf Vergleiche mit außereuropäischen Kulturen verzichtet. Trotzdem finde ich das Vorhaben, eine Geschichte des Gesichts zu schreiben, eher paradox als maßlos – es ist paradox, etwas, das zu unserer Natur gehört, einer Geschichte unterworfen zu denken. Denn Belting macht zwar die Geschichte des Gesichts an der Geschichte seiner Abbildungen fest, also an der Geschichte von Porträt und Maske, aber er zielt trotzdem auf die Geschichte des Gesichts selbst, das für ihn also offensichtlich keine unveränderliche Konstante ist. Schließlich sieht er gar eine »Krise des Gesichts«, als deren Herolde er Rilke und Artaud erkennt.
Belting hat nicht eine einzige Geschichte des Gesichts geschrieben, vielleicht gar mit einer leicht zusammenzufassenden Generalthese, sondern reiht besonders in der zweiten Hälfte seines Buches einzelne Geschichten des Gesichts aneinander. Der Autor hat für sein Buch über Jahre hinweg Stoff gesichtet und zusammengefasst, und dank der enormen Vielfalt dieses Materials lassen sich seine Überlegungen, wie er selbst zugesteht, nur mit »abrupten Kurswechseln« vortragen. Sein Buch beginnt mit der Geschichte der Maske im Altertum, die Belting schroff von der Toten- oder Porträtmaske der Neuzeit absetzt, und endet in der zeitgenössischen Kunst.
Zunächst, im ersten Teil, stellt der Autor das Gesicht in einen Zusammenhang mit der Maske, wohl wissend, dass dieser Zusammenhang nicht von allen so gesehen wird. Jeder Versuch, »in ihnen ein gemeinsames Thema zu sehen«, erzeuge einen »geradezu reflexhaften Widerspruch.« Der Rezensent muss gestehen, dass zunächst auch er diesem Reflex unterlag. Aber Belting hat wohl Recht, denn dass sich Gesichter in Masken verwandeln, geschieht immer dann, wenn Porträts angefertigt werden – in Porträts findet sich schließlich nicht die Bewegung, die das Gesicht auszeichnet. Dem gemalten Gesicht ist das Leben ausgetrieben, und sein Ausdruck ist eingefroren. Und ist es nicht ihre starre Bewegungslosigkeit, welche die Maske vom mimisch bewegten Gesicht unterscheidet?
Dieser Vorgang, findet Belting, nimmt mit dem Alter des Bildes an Dramatik zu. Denn das Porträt kann »einem Gesicht nur ähneln durch dessen Abwesenheit, die sich mit der Zeit vergrößert.« Wie aber sollte sich Abwesenheit vergrößern können? Es gibt wohl nur einen Meister, dem eben dies gelingen könnte: Der Tod, der die Menschen dazu antrieb, sich Gedächtnisbilder anfertigen zu lassen. »Denn die wahre Bestimmung des Porträts erfüllte sich erst, wenn die dargestellte Person verstorben war«.
Spielt also die seit der Anfertigung eines Bildes vergangene Zeit wirklich eine Rolle in unserer Wahrnehmung eines Gesichts? Sollte die Intensität des Ausdrucks in einem Porträt abhängig sein von seinem Alter? Das kann doch nur dann Sinn ergeben, wenn der Betrachter den Dargestellten kannte. Aber hiervon abgesehen, vermisse ich in diesen Passagen die Behandlung einer zugegeben extrem schwierigen Frage. Was ist Ähnlichkeit? Warum kann ein Bild überhaupt einem Menschen ähnlich sein, warum können wir manchmal in einigen lässigen Bleistiftstrichen ein Gesicht, vielleicht gar ein bekanntes Gesicht wiedererkennen? Was hat ein zweidimensionaler Gegenstand mit einem dreidimensionalen Objekt gemeinsam, dass wir in dem einen die Abbildung des anderen wiederfinden? Bei einer dem Gesicht abgenommenen Maske kann man das vielleicht verstehen, bei einem Foto oder Gemälde schon weniger.
Die Geschichte des Gesichts wird von Belting als die Geschichte von Porträt und Maske erzählt, also als die Geschichte jener beiden Aggregatzustände, in denen uns das abgebildete Gesicht begegnet. In dieser Geschichte wird immer der Tod mitbedacht werden müssen, schon deshalb, weil viele Porträts ja Gedächtnisbilder sind. Aber noch wichtiger ist für den Autor der soziale Kontext, denn er sieht die Maske immer im Zusammenhang mit der Rolle, die ein Mensch spielt, und gebraucht Maske sogar als Synonym für Rollenbild (»Rollenbilder […], also Masken«). Schon zu Beginn des dem Verhältnis von Gesicht und Maske gewidmeten ersten Teils des Buches kündigt er an, dass er den Maskenbegriff betont unscharf und flexibel zu gebrauchen gedenkt, und an dieser Stelle muss man kritisch fragen, ob es hier nicht ein wenig zu unscharf zugeht. Denn ist ein Porträt immer und in jedem Fall ein Rollenbild? Das würde doch jedem Versuch der Abbildung eines persönlichen Ausdrucks zuwiderlaufen, und eben darum geht es oft genug.
Für Belting verwandelt sich ein Gesicht in jedem Fall in eine Maske, wenn es porträtiert wird – der Versuch mancher Porträtisten, dem gemalten Gesicht den Anschein der Bewegung und damit des Lebendigen zu geben, wird von ihm nicht recht akzeptiert. »Der ungelebte Bildträger kann im Porträt gar kein Leben auf die Weise verkörpern, wie es ein lebender Maskenträger immer getan hat.« Die Abhandlung focussiert nicht die Starrheit der Maske, aber der Autor findet es »unleugbar […], dass Gesichter sich in Masken verwandelten, wann immer sie reproduziert wurden. Sie hinterließen dabei ihr Aussehen, aber nicht ihr Leben, und wurden von dem Ausdruckswechsel auf dem Gesicht isoliert.« Für ihn besteht der Unterschied zwischen Maske und Porträt darin, dass die Maske (vor allem in anderen Kulturen, etwa der griechisch-römischen Antike) einen Menschen repräsentiert, »wogegen im Porträt die Abwesenheit des Dargestellten immer mitbedacht werden muss.«
Ein bedeutender Wechsel begegnet in der Frühen Neuzeit. Mit einem Text von Nikolaus von Kues unterscheidet Belting die Ikone vom Porträt und macht diesen Unterschied am Blick fest, der bei der Darstellung Gottes unbestimmt ist und so allem und jedem gilt, beim Porträt aber den natürlichen Blick abbildet, der sich auf etwas richtet. Oft genug wird der Betrachter angeschaut, der auf diese Weise in Kontakt mit dem Porträt kommt. Belting kann diesen Vorgang mit eindringlichen Analysen an verschiedenen Werken anschaulich machen, aber am deutlichsten wird seine Argumentation, wenn er auf die beiden berühmten Selbstbildnisse Albrecht Dürers von 1498 und 1500 eingeht. In dem früheren, in dem sich der Maler in einer Dreiviertelansicht darstellt, schaut er den Betrachter direkt an. »Er tritt dadurch in unser Blickfeld ein, als wollte er uns zum Blicktausch einladen, und erlaubt uns auch eine komplizenhafte Ansicht seiner Umgebung mitsamt einer gemalten Fensterbrüstung.« Das spätere Selbstporträt dagegen blendet die Umgebung ganz aus, indem es den Maler vor einem dunklen Hintergrund zeigt. Sein Blick (»visus abstractus« in den Worten des Kusaners) gilt nicht mehr dem Betrachter.
In »Florenz und Bagdad« hat Belting noch in ganz anderer Weise auf die Rolle des Blicks durch das Fenster und die Bedeutung des Horizonts hingewiesen. Ihr Zusammenhang zeigt, wie durch das Fenster auch das Hinausschauen selbst thematisiert wird. So öffnet sich »ein schwindelerregender Abgrund der Seelenerfahrung« – eben in diesem Blick vollzieht sich, so Belting in seinem früheren Buch, die Geburtsstunde des Porträts.
Das Buch ist sorgfältig komponiert. Jeder der drei Teile – eine Einleitung und zwei Hauptteile – enthält sieben Kapitel. Im zweiten Hauptteil, »Medien und Masken« überschrieben, erzählt Belting von der Krise des Gesichts und dem Reflex dieser Krise in der zeitgenössischen bildenden Kunst. Seine Hauptthese lautet, dass wir allerorten Gesichtern begegnen, ja sie geradezu konsumieren, dass aber alle diese Gesichter nur noch künstliche Gesichter sind. Uns begegnen Klischees, Masken, sogar synthetische Gesichter. So vollzieht sich eine »schablonenhafte Entleerung oder Verflachung«.
Das zweite Kapitel erzählt, in welcher Weise Künstler, aber auch Medien wie etwa die amerikanische Illustrierte »Life« auf die Krise des Gesichts reagierten, und präsentiert vor allem auch eine Menge oft überraschenden Materials aus der Welt des Kinos. Das Filmgesicht interpretiert Belting besonders überzeugend im Rückgriff auf das Gesicht Greta Garbos oder in seiner Darstellung von Ingmar Bergmans Film »Persona«, in dessen Mittelpunkt die Begegnung oder besser: Nicht-Begegnung zweier Frauen mit sehr ähnlichen Gesichtern steht.
Arnulf Rainer, Keith Cottingham und Chuck Close sind prominente Künstler, die sich an Porträts (oder besser: deren Destruktion) versuchten. Belting stellt die sehr verschiedenen Konzepte dieser Künstler vor, ohne auch nur andeutungsweise kritisch Stellung zu ihnen zu nehmen, was mir im Anschluss daran bei Andy Warhols Beschäftigung mit dem Gesicht Maos ganz unbedingt angebracht zu sein scheint. Es mag ja eine geniale Geschäftsidee gewesen sein, ganz viele Siebdrucke für ganz viel Geld zu verkaufen, aber sind diese tapetenhaft-unendlichen Vervielfältigungen auch ganz große Kunst? Die Banalität des Konzepts ist erschreckend, doch es scheint auch heute noch nicht angebracht, dies laut auszusprechen.
Hans Belting verfügt über die Sicherheit eines erfahrenen Autors, dem es immer wieder gelingt, in einer klaren analytischen Sprache auch komplizierte Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen. Das ist um so bemerkenswerter, als er in jahrelanger Arbeit ein enormes, aber doch naturgemäß ziemlich disparates Material zusammengetragen hat, das er gedankenreich und pointiert kommentiert. Die Lektüre des auch schön gedruckten und sehr sorgfältig hergestellten Buches mit seinen 138 Abbildungen ist ebenso anregend wie kurzweilig und kann nur dringend empfohlen werden.