Interviews

Joseph Beuys–Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Autor Timo Skrandies im Gespräch

Joseph Beuys war nicht nur bildender Künstler, sondern auch Intellektueller, Sozialtheoretiker, politischer Aktivist, Naturforscher und Kunsttheoretiker - darüber hinaus eine der zentralen Figuren im Kulturbereich der Bonner Republik. Seine Forderung einer »Erweiterung des Kunstbegriffs« auf der Grundlage seiner »Sozialen Plastik« propagiert die Idee einer Verschmelzung von Kunst und Leben. Das aktuelle Handbuch von Timo Skrandies und Bettina Paust bietet nun eine systematische Darstellung von Beuys' interdisziplinärem Denken und systemüberschreitendem Handeln. Melanie Obraz hat einen der Autoren zum Gespräch getroffen.

cover © Metzler Verlag
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Melanie Obraz (M.O.): 100 Jahre wäre Beuys im vergangenen Jahr geworden. Einer speziellen Kunstrichtung hat er sich nie zugehörig gefühlt, vielmehr war er ein Künstler, der die althergebrachte Kunst um den Aspekt des Alltäglichen erweitern wollte. Sicher: Jeder Mensch ist im Grunde ein Künstler – doch wir sind nicht alle Maler und Bildhauer auf dem Niveau der wahrhaftigen Künstler. Was war für Beuys entscheidend?

T.S.: Unser Denken und unser Fühlen sieht Beuys als Transformationsprozesse. Wir als Individuen sind die Quelle von Transformationen, die zu immer neuen Gestaltungen führen kann. Das ist die Kunst an sich und das bewegt Beuys zu der Aussage, dass nicht der Beruf des Menschen entscheidend ist, sondern, dass es vielmehr gilt, die eigene Tätigkeit als Transformationsprozess wahrzunehmen. Damit ist auch der Transformationsprozess innerhalb der Gesellschaft zu sehen und darin besteht auch die Komplexität des Beuysschen Denkens und seiner Kunstauffassung.

M.O.: Beuys starb 1986. Knapp 40 Jahre nach dem Tod des ökologischen Vordenkers sind Natur, Naturschutz und Nachhaltigkeit noch immer zentrale Themen künstlerischer Produktion.

T.S.: Beuys hat aber in den Begrifflichkeiten seiner Zeit gedacht. Es sieht zunächst so aus, als sei er einer jener damaligen, am Beginn der Umweltbewegung stehenden Naturschützer. Obwohl er die aktivistische Ebene in dieser Hinsicht auch beförderte, würde man ihn heute aber wohl eher als Ökologen, als ökologisch denkenden Menschen sehen. Das Handeln der Menschen wollte er in einen Zusammenhang mit der Natur sehen und die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Individuum, Gesellschaft und Natur beobachten. Das ist eine Sicht, die wir heute mit dem Modell des Anthropozän beschreiben. So zeigt das Projekt 7000 Eichen, das 1982 auf der documenta 7 präsentiert wurde, dass es ihm nicht nur um die Pflanzung 7000 neuer Bäume ging. Für Beuys war es wichtig darauf hinzuweisen, dass die natürlichen Ressourcen immer in Relationen mit menschlichem Handeln zu sehen sind. Der wachsende. lebendige Baum steht in dieser Aktion daher nicht nur als Kontrast zu den Basaltsteinen. Die Bäume avancieren durch diese Zugabe zu etwas Besonderem. Der Basaltstein ist für Beuys eine Skulptur der Natur. Der Stein verdeutlicht: Der Baum erfährt eine Auszeichnung. Darüber hinaus erlangt diese Aktion damit über eine sehr lange Zeit Präsenz. Beuys zufolge rangiert der Stein als Mineral in einem »Reich unterhalb der Pflanzen«, der den Baum aber infolge der Verwitterungsprozesse ernähren wird. In diesem Sinne bewacht und kennzeichnet der Basaltstein gleichsam den Baum und erinnert an die natürlichen Ressourcen, die den technischen Bereichen gegenüberstehen. Damit kann Beuys im heutigen ökologischen Denken verankert werden. Doch hervorzuheben ist, dass nicht ausschließlich von Beuys als Person zu sprechen sei, sondern vor allem von seinen Arbeiten, die im Ganzen als gestaltete Form, als Kunstform, die verschiedenen Sphären miteinander verbindet. So sind die Natur,- Kultur-, Techno-Sphären gleichermaßen miteinander und ineinander verwoben. Auf jeden Fall war Beuys damit mehr als nur ein Vorreiter für den Umweltschutz.

M.O.: Gleichzeitig mit dem women's liberation movement (WLM) der späten 1960er Jahre forderte er auch eine Befreiung der Frau. Inwieweit können die frühen Beuysschen Zeichnungen, seine äußerst eigene Sichtweise auf alles Weibliche, ja Feminine schlechthin, hier Auskunft geben?

T.S.: Ja und Nein. Er stand dem »Weiblichen« fördernd und auch positiv gegenüber. Beuys hat sich aber bei den konkreten Vorgängen des Feminismus, etwa hinsichtlich women’s liberation movement eher zurückhaltend gezeigt. In der Beuysschen Kunst steht das Weibliche vor allem für das Ursprüngliche, Aufnehmende, Nährende, Hervorbringende. Wenngleich dieser Aspekt werkimmanent schlüssig ist und eine Nähe zu seinem Konzept von Kreativität aufweist, muss man aber doch auch festhalten, dass die Gegenüberstellung von »dem Weiblichen« und »dem Männlichen« aus heutiger Sicht zu statisch oder essentialistisch gedacht ist.

M.O.: Die Themen Natur und Frau führen unweigerlich zum Bild der Urmutter. Finden sich also Ansätze des Mythischen, des Religiösen im Werk von Joseph Beuys?

T.S.: Religionsgeschichtlich müsste man eigentlich die Mythologie als abgehandelt sehen, da sie durch die Institutionalisierung der Kirche abgelöst wurde. Für Beuys waren solche Deutungshoheiten aber nicht relevant. Es ging ihm nicht darum, das Christentum als eine institutionalisierte Form zu rezipieren und sein Interesse erstreckte sich auch weit über die christliche Ikonografie hinaus. Jesus Christus ist ihm eine Transformationsfigur – sie zeigt, wie aus dem Leidensgedanken auch Heil hervorgehen kann. Hier verdeutlicht sich das Leid in einer Besonderheit: Es ist zwar eine Transformationskraft, aber dennoch eine, die eine dauernde Wunde hinterlässt. Das zeigt sich auch auf dem komplizierten Feld von Arbeiten wie etwa »Zeige deine Wunde« (1976) und der »Auschwitzvitrine« (1968). Wofür Beuys eigentlich heute so populär ist - also Filz, Fett und seine diesbezüglichen Arbeiten – zeigt sich auch in den Arbeiten, in denen er sich mit Auschwitz, der Shoah, der gesellschaftlichen Verdrängung in Deutschland nach 1945 auseinandersetzt. Die Verdrängung als Trauma, als Wunde spielt hierbei eine wichtige Rolle. Auch die Problematik des körperlichen Leidens. Die Auseinandersetzung hiermit, so Beuys, ist aber auch als Chance zu sehen.

M.O.: Gleichzeitig wurde Beuys aber in der NS-Zeit sozialisiert. Darüber hinaus ist seine Rhetorik an Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, orientiert. Ist Beuys vielleicht teilweise von der NS-Ideologie beeinflusst worden, wie es auch Hans Peter Riegel in der Biografie von 2013 thematisiert?

T.S.: Anders als etwa Günter Grass hat Joseph Beuys im Zuge seiner künstlerischen Laufbahn nicht verschwiegen, welche Rolle er im Zweiten Weltkrieg eingenommen hatte. Man kann schon in den Anfangszeiten seiner künstlerischen Tätigkeit eine intensive Auseinandersetzung mit Krieg, Gedenken und Auschwitz erkennen. Kunsthistoriker wie Benjamin Buchloh oder Hans Peter Riegel fokussieren in ihren Schriften stark auf eine Facette der Person Joseph Beuys. Riegel hat recht, wenn er hervorhebt, es sei seltsam, dass sich Beuys noch mit Alt-Nazis getroffen habe. Der Vorwurf, Beuys habe eine Begeisterung für den Krieg und rechte Ideologien gehabt und diese auch nie überwunden, ist aber eine Zuspitzung, die meines Erachtens unterkomplex ist. Über seine Arbeiten, vor allem der 50er, 60er Jahre, die verdeutlichen- dass er sich in und mit diesen immer wieder mit dieser Zeit beschäftigt hat – haben wir schon gesprochen. Hinzu kommt: Mit seiner Arbeit »Lebenslauf=Werklauf« (1964) wirft Beuys die Frage auf, wie Person und künstlerisches Werk zusammenhängen oder gar ineinander übergehen. Damit steht alles in Frage, kann alles befragt werden. Wir haben aber dadurch mit der möglichen Ambivalenz von Werk und Autorschaft umzugehen, die mit einem anderen Wahrheitsbegriff verbunden ist, als dies etwa bei der Authentizität eines Politikers/einer Politikerin, oder der argumentativen Legitimierung bei Wissenschaftler:innen der Fall ist. Die Doppeldeutigkeit bei Beuys ist seine Besonderheit als Künstler und daraus sind keine biografischen Schnellschüsse zu ziehen

M.O.: »Künstler und Verbrecher sind Weggefährten. Beide sind ohne Moral«, so jedenfalls glaubte es Joseph Beuys zu wissen.

T.S.: Es gibt einige sehr irritierende Äußerungen von Beuys. So sagte er z.B., die Berliner Mauer sei um 5cm aus ästhetischen Gründen zu erhöhen. In diesem Sinne ist auch die Aussage über Künstler und Verbrecher zu bewerten. Darin ist selbstverständlich kein Plädoyer für Verbrechertum zu sehen, sondern in dieser Aussage zeigt Beuys, dass solche Personen aus einem ähnlichen Impetus arbeiten, von einem ähnlichen Impetus bewegt sind. Künstler wie Verbrecher arbeiten zunächst ohne die Zwänge der Moral. Auf einer symbolischen Ebene sollte der Ausspruch sicher eine Provokation sein, die wiederum eine Grundlage schafft, auf welcher etwas Neues angestoßen werden kann.

M.O.: Apropos Grundlage: Ist Beuys also nur auf der Grundlage eines gewissen Intellektualismus zu verstehen?

T.S.: Kunst geht doch stets mit Reflexion, mit Diskurs einher. Beides regt sich gegenseitig an. Vielleicht fällt uns das bei älterer Kunst aufgrund der historischen Distanz nicht so auf. Die modernen und heutigen Künstlerinnen und Künstler sind uns zeitlich sehr nah. Wir sind noch selbst in diesem von den Künstlern ausgeworfenen Netz verwoben – das macht Verstehen fraglich und aufwändig. Die erbosten Äußerungen, dass wir diese Kunst nicht verstehen können, weisen auch darauf hin, dass wir die Chance ergreifen sollten, unser eigenes Leben hier und heute besser zu verstehen. Was Beuys betrifft: Man könnte in diesem Zusammenhang immer über die Hintergründe seiner Rezeption von Schamanismus, Rudolf Steiner, Deutscher Idealismus, Naturwissenschaften etc. reden, aber ich finde es wichtig, nicht hauptsächlich über die Person des Joseph Beuys zu sprechen, sondern über seine Arbeit, seine Werke. Und hier bieten sich seine Materialien als Ansatz an, aber auch – ganz anders – seine sprachlichen Äußerungen durchaus als Provokationen zur Findung eines eigenen Standpunktes zu nehmen.

M.O.: Nach Beuysschem Verständnis ist eine Plastik nichts Feststehendes sondern vielmehr ein modellier- und formbares Gebilde, welches mit der Gesellschaft bzw. der Demokratie in Verbindung steht. Seine Forderung einer »Erweiterung des Kunstbegriffs« auf der Grundlage seiner »Sozialen Plastik« propagiert die Idee einer Verschmelzung von Kunst und Leben. Darf man aber auch davon ausgehen, dass Beuys mit Hilfe der sogenannten »Sozialen Plastik«, die Demokratie noch weiter befördern wollte?

T.S.: Ja, es geht Beuys in seiner Thematik der Sozialen Plastik darum, dass wir alle am Transformationsprozess gemeinsam arbeiten und so eine Entwicklung vorantreiben. Es ist eine permanente Konferenz wie es Beuys bezeichnete.

M.O.: Die Gesellschaft hat sich aber seit Beuys` Zeit enorm gewandelt - Smartphones und Social Media sind heute die bevorzugten Kommunikationskanäle. Wäre Beuys im Digitalen Zeitalter noch ein Weltstar der Kunstszene?

T.S.: Beuys wäre auf jeden Fall auch heute ein Weltstar, auch da er immer darauf aus war, mit den besten Galeristen und einflussreichsten Leuten der Kunstszene zusammenzuarbeiten. Er würde sicher im globalen Kunstmarkt auch heute eine Rolle spielen. Obwohl er Social Media nicht kennengelernt hat, ist dennoch eine Verbindung zwischen der Beuysschen Sozialen Plastik und den heutigen sozialen Netzwerken denkbar.

© HHU/ Medienlabor
© HHU/ Medienlabor

Prof. Dr.phil. Timo Skrandies
Professor am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf

»Joseph Beuys – Handbuch. Leben – Werk – Wirkung«
Timo Skrandies/Bettina Paust (Hrsg.)
J.B. Metzler Verlag 2021
518 Seiten

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