Rezensionen

Julia Voss: Hilma af Klint. Die Menschheit in Erstaunen versetzen, S. Fischer Verlag

Groß, radikal, ihrer Zeit voraus – Hilma af Klint (1862–1944) ist eine Pionierin der abstrakten Malerei. Sie schuf mehr als 1000 Gemälde, Skizzen und Aquarelle und hat die Malerei revolutioniert. Auf Basis umfangreicher Recherchen erzählt Julia Voss das ungewöhnliche Leben dieser Ausnahmekünstlerin, zerstört zahlreiche Klischees und Mythen und zeichnet zugleich das Bild einer Epoche, in der die weltpolitischen Umbrüche nicht nur die Malerei revolutionierten. Eine Rezension von Katja Weingartshofer.

Cover © S Fischer Verlag
Cover © S Fischer Verlag

 Stockholm 1906: Die schwedische Künstlerin Hilma af Klint (1862–1944) malt ihre erste abstrakte Gemäldeserie Urchaos in Gelb, Grün und Blau. Daraufhin schreibt sie in eines ihrer vielen Notizbücher: »Die Versuche, die ich unternommen habe, werden die Menschen in Erstaunen versetzen.«

Und wirklich: Hilma af Klint malt abstrakt bevor dies Wassily Kandinsky, Kasimir Malevich oder Piet Mondrian tun, bricht mit allen Regeln, die man ihr versuchte aufzubürden. Ihr Werk ist einzigartig, progressiv und kann dabei keiner der europäischen Avantgardeströmungen zugeordnet werden. Sie erfindet abstrakte Formen und wendet sich nahezu gänzlich von der gegenständlichen Malerei ab.
Es ist ein eigener Kosmos, den die Künstlerin erschafft, und den es so zuvor in der Geschichte der Malerei nicht gegeben hat – weder ihre in sich ruhende Andromeda, durch welche sie mit den Konventionen des Historiengemäldes bricht, noch die Symbole und Organismen ihrer abstrakten Malerei.
In Séancen trifft sie auf unsichtbare Wesen, die ihr Ideen zuflüstern, sie anstacheln überdimensionale Gemälde so groß wie Scheunentore zu schaffen und deren Realisierung sie an den Rand der Erschöpfung bringt. Die Reisen in andere Sphären sind gleichzeitig Quelle der Abstraktion in ihren Bildern, denn das Geistige kann nur abstrakt wiedergegeben werden, so Hilma af Klint. Ihre Vision: die Revolution der Gesellschaft durch die Kunst.

Zwischen 1906 und 1915 entsteht die umfangreiche Serie Gemälde für den Tempel für einen Bau, der zum Ursprung einer neuen Bewegung werden sollte. In ihrer Schrift Studien über das Seelenleben (1917–1918) spricht die Malerin und Vordenkerin von »der Notwendigkeit die Zweiteilung der Menschheit in Mann und Frau auf einer geistigen Ebene zu überwinden«. Die Hauptfigur ihrer Parzifal–Serie wechselt daher das Geschlecht, wodurch sie – ebenso wie Virginia Woolf 1928 in ihrem Roman Orlando – vorwegnimmt, was heute als genderfluid bekannt ist.

All das versetzte damals jedoch niemanden in Erstaunen. Frauen wurden zu Hilma af Klints Lebzeiten noch nicht oder äußert selten als autonome Künstlerinnen wahrgenommen. Die Malerin rechnete auch gar nicht damit, dass ihre Kunst verstanden wird, vielmehr war sie sich bewusst, dass die Zeit noch nicht reif für sie war. Vielen ihrer Werke fügte sie 1932 die Formel »+ x« hinzu, eine Anweisung, dass diese erst 20 Jahre nach ihrem Tod geöffnet werden dürfen. Sie versuchte so ihr Werk in die Hände zukünftiger Generationen zu legen.

Die Tatsache, dass Kunstbegeisterte heute über Hilma af Klints Leben und Werk staunen können, ist neben der Ausstellung »Hilma af Klint. Paintings for the Future« am Solomon R. Guggenheim Museum in New York (2018) vor allem der Biografie von Julia Voss zu verdanken. Der Autorin gelingt es, das von der Forschung konstruierte Phantombild der Künstlerin aufzubrechen. Lange wurde das Werk Hilma af Klints als zufällig und ungeplant behandelt, wohingegen die Gemälde ihrer männlichen Kollegen als Ergebnis von Leistung und Intellekt betrachtet wurden.
Der Wirkungsgrad dieser Biografie geht zudem weit über das Schließen von Forschungslücken hinaus: die Autorin lernte Schwedisch und machte die biografische Forschungsarbeit zu ihrer Hauptbeschäftigung.
Bevor man also über Hilma af Klints Leben staunt, muss man über die schier unfassbare Rechercheleistung der Autorin staunen: 26.000 Seiten Text, 1300 Gemälde und zahlreiche weitere Nachforschungen und Quellenstudien fasst sie in eine Biografie von 571 Seiten. Julia Voss erschließt darin Leben und Werk der Pionierin und bringt zahlreiche (kunst–)historische Ereignisse mit Hilma af Klint in Verbindung. Nichts bleibt nur umrandet oder angerissen, jeder Aspekt, sei er noch so nebensächlich, wird ausführlich recherchiert und beleuchtet. Etwa die große Industrieausstellung, die 1897 in Stockholm stattfand. Das Besondere an dieser Schau war, dass zum ersten Mal in Schweden Kunstgewerbe aus dem Nahen Osten gezeigt wurde. So nennt Julia Voss nicht etwa in einem Nebensatz, wem diese Sammlung nahöstlicher Kunst gehört, nein, man erfährt, dass Fredrik Robert Martin ein Händler und Forschungsreisender war, der umfangreich zu seiner Sammlung publizierte und enge Kontakte zu europäischen Künstler*innenkreisen pflegte.

Dieses Beispiel ist nur eines von vielen Neuentdeckungen und Verknüpfungen, die dieser Band bereithält. Man merkt, dass dieses Buch sowohl mit kunsthistorischer als auch journalistischer Expertise geschrieben worden ist. Der Biografie schickt Julia Voss ein Kapitel mit den wichtigsten Fakten voraus: »5 Dinge, die man über Hilma af Klint wissen sollte«. Reisen und Wohnorte der Malerin sowie die Erschließung ihrer Bibliothek werden erstmals gelistet beziehungsweise rekonstruiert. Das Vermögen der Autorin komplexe (kunst–)historische Verbindungen und Sachverhalte prägnant darzustellen sowie ihre Beschreibungen von Gemälden und Fotografien sind einmalig. Malschicht für Malschicht erschließt sie die Gemälde und auch auf den Fotografien bleibt nichts unbeschrieben. Scheinbar belanglose Details ergeben stimmige Kompositionen, etwa in der Fotografie Hilma af Klints in ihrem Atelier Mitte der 1890er Jahre, wo sich eine welkende Blume, die Künstlerin selbst und das Porträt ihres Großvaters zu einem Kreis vereinen, in dem Leben und Tod zirkulieren.

Der mitreißende Schreibstil nimmt die Leser*innen mit in eine vergangene Zeit. Egal ob promovierte*r Kunsthistoriker*in oder Quereinsteiger*in in Sachen Kunst, man lernt oder verknüpft viel Neues und kommt nicht umhin, sich von dieser Biografie in den Bann ziehen zu lassen. Bereits nach wenigen Seiten hat man das Gefühl, Hilma af Klint zu kennen, ganz so als würde man der Künstlerin an der Akademie über die Schulter schauen, mit ihr durch das Stockholm der 1880er–Jahre spazieren oder sie ins Atelier begleiten.
Diese Biografie erschließt nicht nur Leben und Werk einer einzigartigen Künstlerin, sie regt Leser*innen darüber hinaus dazu an, den kunsthistorischen Kanon, der Frauen lange Zeit kategorisch ausgeschlossen hat, zu hinterfragen und neu zusammenzusetzen.

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