Die Mutter des Sokrates war Hebamme. Die griechische Bezeichnung »Maieutik« für Hilfestellung beim Hervorbringen durch Gebären übernahm Sokrates für seine Methode. Er bot seinen Zeitgenossen an, ihnen bei geistigen Geburten zu assistieren. Was das alles mit Design zu tun hat? Melanie Obraz hat sich in das aktuelle Buch vertieft und eine Rezension verfasst.
Maieutik oder Mäeutik, die sogenannte Hebammenkunst, für die der Name des Sokrates steht, wird hier bereits im Titel des Buches in der Verbindung mit einem Stöhnen erwähnt. Was ist damit gemeint? Schon allein die Überschrift macht neugierig. Carius wählt die griechische Schriftweise Maieutik – maieutiké als Hebammenkunst. Es soll etwas hervorgehoben werden, etwas soll mit Hilfe auf die Welt kommen. Auch Carius geht es darum, die geeigneten Fragen zu stellen, um den Leser:innen und Betrachter: innen seines Werkes zum Selbstdenken zu bringen. Nur damit kann der Prozess eines selbstständigen Entscheidens herbeigeführt werden. Der/Die Leser:in soll und muss selbst herausfinden, wie sich Kunst, Aussage und Bildung in dem bestehenden Bildungssystem zeigen. Das Stöhnen mag auch darauf hinweisen, wie schwierig und oft auch schmerzlich das eigene Denken und eben auch die damit zusammenhängende Selbstreflexion sein kann/wird.
Unter Einbeziehung philosophischer Betrachtungen, zeigt das Buch wie sehr die Arbeitsweise von Carius konzeptuell interdisziplinär angelegt war und ist. Ganz in diesem Sinne geht es um ein Crossover von Kunst und Design, wie Verena Pietzner, die Präsidentin der Universität Vechta es in dem Geleitwort formuliert. Bildung steht hier zentral, aber unter dem Vorbehalt der Freiheit auch des Lernenden, des Schülers/Studierenden
Eigentlich ist es so doch nichts Neues, denn schon seit der Antike (eben Sokrates) ist es in dieser oder ähnlicher Weise bekannt. Das hier zur Debatte gebrachte Problem weist überdeutlich darauf hin, dass es jedoch nie oder nur äußerst selten umgesetzt wurde.
So besteht immer noch der Frontalunterricht, der mehr auf ein Abrichten angelegt ist, als auf ein Selbstdenken, welches im Schüler/Studierenden geweckt werden soll – obwohl es nicht nur daran liegen muss, an welcher Stelle des Raumes sich die lehrende Person befindet.
Carius will auch die Perspektive eröffnen, keine Angst davor zu haben, eine noch größere Begabung zu fördern, als der/die Lehrer:in selbst vorzuweisen hat. Ebenso darf es keine Angst vor Neuerungen und einer Intelligenz geben, die allein ihren Freiheitsaspekt lebt und vor allem so auch die Ästhetik und die Kunst erlebt.
Der Autor fordert damit jeden Menschen auf, sich etwas zuzutrauen. Der im Fokus stehende Gedanke: Vor allem sich selbst ein Urteil über die sogenannte Ästhetik zu erlauben. Es geht nicht um »Aufhübschung« – damit kann nichts Schöpferisches in die Gesellschaft eingebracht werden. Nichts soll schön geredet werden, um letztlich doch wieder nur zu klagen, dass unser Bildungssystem doch so schlecht sei.
Es geht darum, ein über–Sich–Hinaus–Sein in den Dingen zu erkennen und sich selbst so einzubringen, dass auch das Ich ein Über–Sich–Hinaus erlebt. Unterschwellig erfühlt man bereits: ein Risiko muss eingeplant werden, denn nur dadurch wird sich eine neue Erlebnisweise der Ästhetik auftun.
Nicht nur Design »machen« und darin feststecken, sondern den Blick auch auf die anderen Fächer, wie Literatur, Dichtung, bildende und allgemein musische Künste zu werfen, ist deshalb ein so mit Vehemenz zu vernehmender Aufruf dieses Buches. Die unterschiedlichen Fachrichtungen können und sollen miteinander in einer Symbiose stehen. »In meinen Seminaren befasse ich mich mit dem erweiterten Dingbegriff im crossover von Design, Kunst und Medien, woraus interdisziplinär und intermediär generierte Projekte entstehen.« So war es die Idee bei Carius, eine Idee, die wahrlich mehr als nur so etwas wie ein kurzer Einfall war. Idee kann hier im weiten philosophischen Sinne als etwas Grundlegendes wie ‚THE FORM‘ gedacht werden. Seine Studierenden waren aufgefordert das Eigene zu suchen, zu finden und in Projekten zu realisieren. Auf diese Weise entwickelt sich die kreative Intelligenz, die wiederum künstlerische Projekte verwirklicht.
Damit ist ein Aufbegehren spürbar, denn ein solches soll es und muss es sogar sein, um eingefahrene Wege zu verlassen und das Neue zu finden. Der ästhetische Sinn ist in dem Maße grundlegend, dass er als Anfang und Ende, gleichsam als Alpha und Omega, für jene hier propagierte Sicht steht. Es gilt, jenen Anfang zu entdecken – sollte dieser auch noch so verschüttet sein. Carius sieht den ästhetischen Sinn als ein Spezifikum. Damit steht er in prominenter Gesellschaft. Friedrich Hölderlin kommt zu Wort. Ein nicht allzu ferner Gruß aus hochromantischen Tagen. Mit einem Rekurs auf das Projekt Goethe und Pessoa gelingt damit eine erweiterte Perspektive und Aussage des vorliegenden Buches. Friedrich Hölderlin bekundet seine Ausführungen zum ästhetischen Sinn mit seiner Handschrift, die hier eindrucksvoll wiedergegeben ist. Unbequeme und damit selbstverständlich offene Fragen mussten gestellt werden und Carius betätigte sich in gerade dieser Weise. Nicht dem Mainstream verbunden, um des Erfolges willen.
Vor allem wird dem Staunen eine beträchtliche Bedeutung zugemessen. Einer Vision zu vertrauen, ist den meisten Menschen nicht mehr möglich. Also ist auch die Anlage einer persönlichen Vision so wichtig. Nicht alles schlucken, hinnehmen, um ja nicht aufzufallen, sondern das Eigene auch im privaten Leben versuchen, um so die Vision in und in der Realität umzusetzen. Damit erst gar nicht so etwas wie ein Gefühl der Ratlosigkeit und Ohnmacht aufkomme.
Die Bildungswüste besteht, weil so etwas wie die Ästhetische Bildung nicht ernst genommen wird, sondern im Abseits ein kümmerliches Dasein fristet. Grundsätzlich sind die der Ästhetik und also auch der Kunst gewidmeten Schulfächer wenn überhaupt, dann nur einer leichten Kurzweiligkeit gewidmet. Auch verschwimmen Bereiche wie Kunst, Ästhetik und Kultur. Nicht alles ist Kultur und erst recht nicht alles, was sich nicht klar in irgendeiner Begrifflichkeit festlegen lässt. Der Kulturbegriff ist verarmt oder sogar gänzlich ad acta gelegt, obwohl in aller Munde, wenn es etwas Nebulöses zu sagen gibt. Und Nebulöses gibt es, aufgrund der Bildungswüste, genug.
Diejenigen, welche diese Situation am lautesten beklagen sind dann auch jene mit dem kulturverarmten Blick! Was muss sich folglich ändern? Carius gibt Beispiele, die schon in der Romantik (und auch früher) als Aushängeschild fungierten: Phantasie, Intuition und stets das sich immer wieder selbst belebende Staunen. Das Festhalten an alten Vorgehens– und Sichtweisen wird auch von dem hier exponiert zu Wort kommenden Ästhetiker und »Geburtshelfer ästhetischen Denkens« Bazon Brock bemängelt. Damit wird ebenso, ein sich an den Alltagsgeschmack anpassendes Verhalten sichtbar. Zu hinterfragen heißt stets auch, eigene Gewohnheiten aufzugeben und etwas Neues auf den Weg bringen, zumindest sich dafür einzusetzen. Aber eben diese Eigenschaften verstummen im Menschen. Carius geht hier einen radikalen Weg, denn etwas anderes ist nicht hilfreich und kann nicht die erstrebenswerte Änderung und Neuerung herbeiführen. In diesem Sinne handelt es sich in dem vorgelegten Werk nicht nur um eine Anleitung – eigentlich wäre die ohnehin überflüssig – sondern hier werden gesellschaftspolitische und soziale Konflikte– wie auch Brennpunkte markiert.
Darum heißt es letztlich auch nicht zurück zur Romantik, zurück zur Natur oder zurück zu unseren Wurzeln. All dies wären nur Phrasen. Nein, es geht um das sich immer wieder von Neuem zur Reflexion aufmachende menschliche Wesen. Kein in Erstarrung Verharrendes und ebenso auch nie ein Rückblick, der eben dem Rückwärts gewendeten ausschließlich gewidmet ist und jenes Zurückliegende glorifiziert. Damit entsteht nur ein selbstzufriedenes und träges Wohlgefühl.
Es ist wichtig Schüler:innen und Studierende mit der Sichtweise auf die Ästhetik, also mit dem ästhetischen Blick einer Faszination zuzuführen, so wie es die sich daraus entwickelnden Projekte bekundeten, die Carius 1988 und 1991 an der Deutschen Schule Lissabon realisierte.
Ganz im Sinne des Gedankens der Faszination, ist Friedrich Hölderlin die Doppelseite »In Lieblicher Bläue« gewidmet. Nicht nur namentlich so genannt, sondern auch in eben jenem Farbton erscheinend. Kein Maß gibt es für den Schöpfer und so auch ist ein Schaffen wahrlich maßlos – maßlos auch an Zuwachs an Göttlichkeit und Natur. Damit wird das Hölderlin–Projekt eingeleitet – wirklich »dichterisch wohnet der Mensch« schreibt Hölderlin 1808.
Die nun folgenden Projekte thematisieren das Wohnen. Eine überaus wichtige Grundlage für ein sicheres und behagliches Leben. Auch aus heutiger Sicht wird die Frage nach dem Wohnen gestellt und die Frage heißt: Wo bleibt hier das Dichterische? Ist es nur ein Raum, um von der Arbeit auszuruhen oder mehr? Ist das Wohnen geeignet, die Eigenheit des Lebens zu entfalten? Auch hierin geht es Carius um das »Erzeugen eines geistigen Raumes und das Einführen eines szenischen Raumes, ohne den«,… »die Räume nur eine Dramaturgie der Gemütlichkeit wären und meist eine Ansammlung trivialer Dinge.«
Das Projekt »Jenes bist Du« nimmt die Philosophie als etwas Visuelles und unternimmt es, das Philosophische visuell zu machen. In Anlehnung an Schopenhauer und die Upanishaden – eine Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus – wie auch an die Klangkomponenten von Pink Floyd. Das Tat twam asi der Upanishaden ist als »Jenes bis Du« für den diese Worte lesenden Menschen prägend. Er/Sie wird sich des Seins bewusst. Von einem Spirit ergriffen, so wie es jeder Mensch als Ästhet und Ästhetiker sein sollte. Die Besonderheit: Jedes Projekt wird mit dem erarbeiteten aussagekräftigen Exponat abgebildet.
Die Projekte tragen u.a. die Namen wie Augenblick, Palaststunden, Ballhaus, Kill Him, Open Your Mind, Raum+ Sprache und Irgendwo: Illusion und Ferne. Rockface mit Goethe. Vor allem die Imagination steht im Fokus, wenn sich auf Transparentpapier ein Zitat von Goethe befindet. Geistiges erfährt dadurch eine Materialität, es wird sozusagen ein Sprung vom Geistigen in die Materie vollzogen. Jedes Projekt wird mit einem Text und dem dazugehörenden Foto präsentiert.
Im Besonderen stellt der Autor auch in diesem Buch den Künstler Rolf Dieter Brinkmann vor, der in der Kunstszene als Paradigmengeber auftrat und das Wort in seiner Art als spezielle Waffe einzusetzen wusste: »Wort–Gewalt als Waffe«. Aus der Enge Vechtas fliehend, war auch er stets ein Gegner des Mainstreams. Sein gegen den Strom schwimmen, um Eigenes auszuprobieren ist das Credo und schon aus diesem Grunde konnte Rolf Dieter Brinkmann hier nicht fehlen.
So ist dann auch das Suchen des »neuen Lehrertyps und die Abkehr von der engen Lehrplanschule« für Carius das Anliegen schlechthin. Als Klappentext lässt Ralf Schnell verlauten, Carius schaffe ein »Crossover zwischen den Künsten und der Hybridästhetik von Einzelmedien«, und so komme es zu einem Novum in Richtung Kunst– und Medienwissenschaften. In diesem Sinne sollten Erkenntnisse endlich auch zur Einsicht führen – so die Hoffnung des hier vorgestellten Werkes.
Ob die Stimme des Autors eindringlich genug ist und ob man seinem Anliegen Gehör schenkt, oder ob jene hier zum Ausdruck gelangten Aussagen dennoch überhört werden – bleibt abzuwarten.
Maieutisches Stöhnen. Über Ästhetische Bildung. Ein Fall von Design–Poetik Autor: Karl–Eckhard Carius:
Verlag: wbv Media GmbH 2022
225 Seiten
ISBN 978–3–7639–7240–1