Der Titel „Dancing in the Dark“ lässt aufhorchen und einiges vermuten. Gibt es eine dunkle Seite des Tanzes? Der Tanz als etwas, welches die Aura des Dunklen in sich trägt, gar jene dunkle Seite offenbart und uns damit überrascht und auch ängstigt? Auf jeden Fall wird hier eine eher unbekannte Seite vorgestellt. Was kann genau damit gemeint sein? Deutet der Tanz eine geheimnisvolle, gefährliche gar eine böse und uns dennoch nicht fremde Art des Ausdrucks an? Denkt man sogleich an den Hexentanz der Mary Wigman (1886-1973) oder an einen Totentanz? Das im Wienand-Verlag erschienene Buch, zeigt bereits durch die Aufmachung in Schwarz und Lila einen gewagten Aspekt des Erotisch Geheimnisvollen. Die angedeuteten Linien eines Tanzpaares erwecken die Neugier auf den Inhalt des Werkes. Melanie Obraz ist den Tänzern:innen der Dunkelheit gefolgt.
Der Tanz ist im Besonderen im alltäglichen Leben ein Bereich, der zumeist mit Heiterkeit, Freude und heller Stimmung in Verbindung gebracht wird. So spricht man allgemein von einem Tanzvergnügen, einer Tanzparty, einem Ballettabend, der künstlerischen Hochgenuss aber eben oft auch Kurzweil und also Amusement verspricht. Doch kann es auch anders sein. Denkt man an die Schwäne im Ballett „Schwanensee“, die in weiß ihre Tanzfiguren ausführen und der zauberhaften Odile, ebenso eine Lichtgestalt, den Rahmen bereiten, so wird dennoch klar, dass sich auch hier Odette, der schwarze Schwan, bald zeigt. Es ist der Gegenpart, eben das Weiße gegen das Schwarze und ganz in diesem Sinne sind die Charaktere aufgebaut. Dem Tanz, hier dem klassischen Ballett, ist zumeist der dunkle Part inhärent – Schwanensee ist hier nur ein Beispiel. Doch das Buch weist weit über das Ballett hinaus und fächert den Tanz im Kontext des Historismus auf, um schließlich auch dem Tanz in der Gegenwart Aufmerksamkeit zu widmen.
Das Werk bespiegelt die unterschiedlichsten Arten der Tänze. Da wird der Tango zum Thema, der traditionell einen über das Melancholische hinausgehenden tiefbegründeten Schmerz bekundet und damit ein in seelische Abgründe weisendes Kulturgut offenbart. Musik und Tanzhaltung zeigen diese Verbindung in eklatanter Weise. Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen beschreiben die dazugehörende Geschichte der jeweiligen Tanzart und unterstreichen ihre Recherchen mit inspirativen Gedichten oder Anleihen aus der Literatur. Sebastian Brant (1457/58-1521), William Shakespeare (1564-1616), Joseph von Eichendorff (1788-1857), auch Verse aus dem Persischen und Bruce Springsteen (1949), werden unter anderem als unterstützende Zeugen angerufen. Darüber hinaus offeriert das Buch zahlreiche Abbildungen so Gemälde, Zeichnungen und Fotos, die in die Welt des Lasziven führen und ebenso in jene des Todes, um dabei sogar diese Sphären als geheimnisvolle Einheit zu zeigen. Tod und Eros gehen Hand in Hand, womit einmal mehr betont ist, wie sehr sich der Tanz dem Bitteren wie dem Süßen zuneigt und schon immer auch als Waffe oder Protest genutzt wurde.
War das Tanzen doch stets auch ein Ausdruck des Aufbegehrens? Man denke an den Rock‘n’Roll. Ebenso sei an den Capoeira erinnert, mit welchem sich Kampf und Tanz in einer Symbiose bekunden. Die Beiträge des Buches weisen weit darüber hinaus und deuten auch auf religiöse Bezüge des Tanzes hin, der so auch die unterschiedlichsten Kulturen beeinflusst hat. Das Religiöse wie das Profane werden gleichermaßen angesprochen und in einer prägnanten Art erzählt. Der Tanz entfaltet eine soziale Wirkmächtigkeit, die als ein gesellschaftspolitisches Phänomen erkannt werden muss und in alle Bereiche des Lebens hineinreicht. Glück, Freude, aber eben auch die Abgründe des Menschlichen treten in der Darstellung des Tanzes hervor.
Bruce Springsteen fordert mit seinem Song „Dancing in the Dark“ zum Tanz im Dunklen auf, ist es doch allemal besser, als sich dem Stumpfsinn zu ergeben. Der Tanz taugt also zum Aufbruch, zur Flucht und oft auch als Neubeginn. Schon in ähnlicher Weise zeigt sich der Tanz im Kult des Dionysos, womit auch das Mystische in den Blick gerät. Überhaupt scheint der Tanz erst interessant und über das Alltägliche hinaus zu ragen, wenn etwas Dionysisches und also das Rasende, das Nicht-Vorhersehbare einbezogen wird. Der Seiltanz wird in diesem Kontext als Beispiel genannt. Doch begegnet uns im Buch auch der Widerstreit in der Ästhetisierung der Bosheit und Hässlichkeit, als ein Etwas, welches uns überall auflauert. Mary Wigman brachte es auf die Bühne und bekundete damit den „positiven Willen zur Macht“. Das Publikum erlebte den Tanz „als Befreiungsakt“. Dies ereignete sich bereits ab 1914.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hielten nach dem 1. Weltkrieg die sogenannten wilden 20er Jahre eine wahre Schatztruhe an Kurzweil, Frivolität gepaart mit gewagten und sozialkritischen Aussagen bereit, welche durch den Tanz und das Varieté zum Publikum transportiert wurden. Josephine Baker und ihr Bananenröckchen, sind hier das Thema wie auch Anita Berber, die „skandalumwitterte Nackttänzerin“, deren Auftritte „regelmäßig zu Tumulten führten“. Ebenso thematisiert wird die „kleine Seejungfrau“, die sich vor Liebe verzehrt, dennoch mit Kraft und Mut zur Erlösung gelangt und sehr eindrucksvoll auch in einem Ballett von John Neumeier erscheint. Auch Roman Polanskis Tanz der Vampire erfährt hier Aufmerksamkeit und so bekundet das Buch einmal mehr den fast schon allumfassenden Blick auf den Tanz.
Die bunten Exponate der ungarischen Malerin Sala Lieber (geb. 1980) bereichern das Buch ebenso sehr wie jener Tanz der Gerippe des Künstlers Michael Wolgemut aus dem Jahr 1493. Der teilweise recht umstrittene Bildhauer und Graphiker Arminius Hasemann (1888-1979) liefert die Linien auf dem Cover des Buches, die vieldeutig auf zwei Tanzende hinweisen. Es handelt sich um einen Zyklus der Arbeiten (Holzschnitte) von Hasemann, die als „Eros Thanatos“ bezeichnet sind. Lust, Begehren, der Liebestod und die Décadence sind hiermit visualisiert.
Ebenso ist Ernst Barlach (1870-1938) mit den Visionen des Totentanzes vertreten, die in eine Welt der Finsternis verweisen, die ohne jeden Trost und sehr makaber und angsteinflößend erscheint. Daneben zeigt das Buch Bilder des Tanzes der Basler Fastnacht wie auch Tanzassoziationen von Anke Lohrer (1969) „Tanz so laut du kannst“. Die Vielfalt der Betrachtungsmöglichkeiten sind hier aufgefächert und wenden sich damit an ein Publikum ohne Altersbegrenzung, welches den Tanz nicht nur als „abgehobene“ Kunstgattung zu erleben wünscht. Dabei bieten die zahlreichen Illustrationen eine Inspiration zur eigenen Weiterentwicklung der im Buch behandelten Perspektiven und zeigen, wie sehr der Tanz auch mit den Kunstgattungen der Malerei und der Plastik symbiotisch verbunden ist. So beschert uns das Werk „Dancing in the Dark“ einen fulminanten Überblick über die andere Seite des Tanzes und spricht zugleich jeden am Tanz Interessierten an, ganz gleich ob aktiv oder als Zuschauer:in.
Titel: Dancing in the Dark
Herausgegeben von: Luisa Rittershaus, Anna Schiller, Jörg Vögele, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Verlag: Wienand
Beiträge von: Luisa Rittershaus, Anna Schiller, Jörg Vögele, Meret Brosterhues, Carla Burgi, Ibrahim-Kaan Cevahir, Loredana Fiorello, Joachim Fugmann, Petia Genkova, Timo Heimerdinger, Katherina Heinrichs, Natalie Hoffmann, Michael Imoberdorf, Linda Jarkovská, Jenny Kaufholdová, Antonia Pia Knöpges, Michael Martin, Julia Nebe, Julia Ortmeyer, Paulina Rauh, Nadja Rothenburger, Jennifer Sawatzki, Linda Schmitz-Kleinreesink, Katharina Schuler, Danara Schürmann, Melina Settele, Christina Thurner, Simone Vögele, Simon J. Walter, Berenika Wybitulová
192 Seiten, 66 farbigen Abb.
23,5 cm x 16,8 cm
ISBN 978-3-86832-658-1