Das schönste Museum Stockholms findet sich nicht in der Stadt selbst, sondern unmittelbar außerhalb auf der Insel Lidingö, spektakulär oben auf der Steilküste gelegen. Stefan Diebitz hat das einzigartige Haus Millesgården besucht.
Carl Milles (1875 – 1955) war ein eminent erfolgreicher Künstler, hoch angesehen nicht allein in Stockholm oder seiner schwedischen Heimat, sondern buchstäblich auf der halben Welt – nach längeren Aufenthalten in den USA fanden seine Skulpturen auch dort ihre Abnehmer, und in Europa waren seine fantasievollen Arbeiten ohnehin gesucht. Mit dem Ruhm seines Stifters erklärt sich der erstaunliche Reichtum des Museums, der nicht allein in zahllosen Kunstwerken von Carl und seiner Frau Olga Milles besteht, sondern zusätzlich noch in der umfangreichen Antikensammlung des Künstlers. Dazu kommt noch eine jährliche Sommerausstellung: in diesem Jahr werden unter dem Titel »Geliebte Blumen« Arbeiten aus mehreren Jahrhunderten gezeigt, unter anderem von Maria Sibylle Merian, aber auch von jüngeren Künstlern wie Roger Andersson. Vom 12. September an wird sich eine Ausstellung der russischen Zeit von Marc Chagall widmen.
Carl Milles eigene Arbeiten werden in zwei Häusern, dazu aber vor allem auf einer prachtvoll über der See gelegenen Terrasse auf hohen Stelen sowie in dem steilen Garten im Rahmen schöner Pflanzen präsentiert. Auf einer Art italienischer Piazza schauen von ihren hohen Sockeln Plastiken auf die staunenden Besucher hinab, deren Blick gelegentlich auch auf den Sund fällt, der Lidingö von dem dort sehr industriellen Stockholm trennt.
Und, als wäre das alles noch nicht genug: Eine Fülle schöner Pflanzen ergibt einen parkähnlichen Garten und damit den passenden, weil lebendigen Rahmen für die Kunst von Carl Milles. Besonders der ja schon selbst lebendige Grünspan mancher Plastiken profitiert von seiner Umgebung. Oder man sieht auf einer der hohen und steilen Treppen, wenn man nach oben schaut, zwischen den ausgebreiteten Ästen der Bäume den »Sonnensänger« von 1926. Es ist der Abguss einer seiner populärsten Plastiken, deren Original sonst auf dem Strömparterren in Stockholm steht – allerdings anders als in Millesgården mit Kopf und ausgebreiteten Armen.
Man weiß nicht, was den Besucher am meisten fesselt: Sind es die versteckten Brunnen und Wasserspiele? Milles liebte es, murmelnde, plätschernde und springende Brunnen mit mythischen Gestalten und Tieren zu bevölkern. Seine Skulpturen nehmen die Lebendigkeit des Wassers auf und spiegeln sie, so wie das Wasser sie spiegelt; er besaß wirklich eine besondere Gabe, schöne Wasserspiele anzulegen, und in Millesgården gibt es gleich deren mehrere.
Oder sind es die (zum Teil sehr steilen und hohen, dazu auch noch von Bodendeckern bewachsenen) Treppen, die immer wieder andere Blickachsen ergeben, oft durch die vom Wind bewegten Äste der Bäume hindurch oder vorbei an Pflanzen, deren Aussehen sich mit Tages- und Jahreszeit verändert? Sind es vielleicht die prachtvollen alten Bäume, die Eichen oder Kiefern, zwischen denen viele der Skulpturen erst richtig zur Geltung kommen? Selbst an prominenten Plätzen wie dem Platz vor dem Konzerthaus in der Innenstadt Stockholms können seine Plastiken nicht so beeindrucken wie in Millesgården an der Küste.
Manche Arbeiten von Carl Milles erinnern von fern an Wilhelm Lehmbruck, denn auch sie sind überschlank, also gelängt und wohl auch deshalb eminent expressiv. Ein Beispiel für seinen Manierismus ist die Plastik des Heiligen Franziskus. Aber die Schmalheit seiner Skulpturen ist nur ein Aspekt seines Stils. Ein zweiter hat mit seiner Bewunderung der Antike zu tun. Denn Milles hat nicht allein Themen und Motive der griechischen Mythologie aufgegriffen – das haben genug andere vor und neben ihm auch getan –, sondern er hat sich von ihrem Ausdruck inspirieren lassen, besonders von den archaischen Gesichtern der allerältesten Zeit.
So zeigt »Poseidon« das spitz zulaufende Gesicht mit dem »archaischen Lächeln« und den schmalen Augen der vorklassischen Epoche; und das ist ein Gesicht, das den Betrachter erschauern lässt, so abgründig und fremd scheint es uns. Ein anderes Beispiel für diese Fremdheit ist der »Astronom«, dessen schmales Gesicht natürlich himmelwärts gerichtet ist. In Milles’ Privathaus kann man eine große Anzahl antiker Plastiken und Porträtköpfe bewundern und sehen, wie sich ein bedeutender Künstler von ihnen zu einem eigenen Ausdruck anregen ließ, ohne sie zu imitieren. Besonders eindrucksvoll ist in Millesgården »Europa und der Stier« von 1926; gleich daneben schaut aber auch »Poseidon« von seiner Höhe auf den Betrachter hinab.
Man muss Carl Milles für einen Manieristen erklären. Seine Arbeiten haben nicht allein ihre Schmalheit mit anderen großen Manieristen seit El Greco gemein, sondern vor allem besaß er Freude an dem Vorzeigen seiner enorm lebendigen Fantasie und erstaunlichen Virtuosität, und manches scheint allein aus der Freude heraus geboren, die Betrachter zu verblüffen. Während Lehmbruck oder auch Ernst Barlach und Käte Kollwitz im Verhältnis zu Milles nur wenige, dafür tief empfundene Figuren schufen, Plastiken, die in den meisten Fällen nach einer längeren Zeit der Vorzeichnungen und Versuche so etwas wie eine menschliche Ursituation darstellen, hat Milles ein Werk nach dem anderen herausgehauen – man ist erschlagen von der Vielfalt der Gestalten und Konzepte, wenn man an seinen Skulpturen vorbeigeht, und muss ihn sich als arbeitswütig vorstellen und wohl auch von der Menge und Intensität seiner Gesichte besessen.
Vieles, ja eigentlich alles ist technisch sehr gekonnt und dazu auch noch verspielt. So besaß Milles ein besonderes Faible für ein exakt ausgerechnetes Gleichgewicht und stellte viele Figuren, ja gelegentlich sogar aufeinander getürmte Gruppen so dar, als müssten sie gleich umfallen. Tun sie aber nicht. Manche seiner Plastiken treiben es buchstäblich auf die Spitze, wenn ein Delfin auf bloß einer Flosse, ein anderes Tier auf einer Pfote balanziert, und auf ihnen noch ein Mensch, und dann noch einer… Solche Arbeiten finden sich sowohl in dem Stelengarten auf der Piazza als auch in den Brunnen und Wasserspielen. Das berühmteste Beispiel dafür ist »Der Mensch und Pegasus« von 1950, dessen Orginal in Malmö steht – ein Abguss steht aber auch in Millesgården.
Eher fragwürdig scheint mir Milles’ Hang zur Gigantomanie. Bereits die erwähnte Plastik vor dem Konzerthaus ist riesig, aber viel mehr noch ist es im Süden Stockholms, an der Einfahrt in den Hafen, »Gottvater auf dem Himmelsbogen«, der tatsächlich 18 Meter hoch ist. Der Bogen, auf dem Gott steht, soll nicht weniger als das Himmelsrund darstellen. Die Skulptur wurde zwar bereits 1946 für das UN-Gebäude in New York konzipiert, dort aber letztendlich nicht akzeptiert und deshalb schließlich erst vierzig Jahre nach dem Tod des Künstlers von dem amerikanischen Bildhauer Marshall M. Fredericks im Sinne von Milles vollendet. Ihre fantastische Größe ist natürlich spektakulär, fügt aber der Bildidee selbst überhaupt nichts hinzu. Ähnliches gilt für den »Poseidon«. Ist die Statue in Millesgården schon eindrucksvoll genug, so ist das Original in Göteborg noch einmal wesentlich größer. Ähnliches gilt auch für andere sehr große seiner Arbeiten. Mag sein, dass sein Hang zur Gigantomanie mit einem problematischen Aspekt seines Lebens zu tun hat, mit seiner zeitweiligen Sympathie zu Dikatoren wie Mussolini, Franco und – ja, leider auch zu dem – zu Hitler.
Sind viele Plastiken – insbesondere die von Lehmbruck – ausdrucksvoll aus der Bewegung heraus, so ist für Milles’ Plastiken eher der Moment unmittelbar vor einer Bewegung typisch; es ist die Ansammlung von Spannkraft, die er darstellt, besonders deutlich im »Bogenschützen« von 1919, einer seiner gelungensten und wohl auch populärsten Arbeiten. Der Pfeil liegt noch auf der Sehne… Oder die Plastiken stellen Figuren dar, die im nächsten Augenblick umzukippen scheinen, es aber natürlich nicht tun; besonders schön sind hier Figuren in einem Wasserspiel, die sich so weit zurücklehnen, das sie sich kaum noch aufrecht halten zu können scheinen.
Wenn man über Millesgården spricht, so muss man zwischen dem Eingangsbereich mit den wechselnden Ausstellungen, dem Garten beziehungsweise Park, dem Wohnhaus des Künstlerpaares Olga und Carl Milles und endlich dem Atelier unterscheiden. Letzteres liegt oberhalb eines Gartenteils, den er seiner Frau zuliebe »Klein-Österreich« genannt hat und wo sogar ein Kruzifix steht, als wandere man durch einen österreichischen Tannenwald. Das Haus mit schwarz gestrichenem Giebel und hellrot in der Sonne leuchtenden Dachpfannen enthält die für einen Privatmann riesige Antikensammlung sowie das Atelier mit zahlreichen Arbeiten, und davor steht einer der wunderschönen kleinen, natürlich von Skulpturen umgebenen Brunnen. Dazu gibt es eine Terrasse, deren Rückwand mit ihrem feurig-dunklen Rot an Pompeji erinnert.
Trotz seiner wirklich gepfefferten Eintrittspreise ist Millesgården ganz unbedingt einen Besuch wert – jedenfalls dann, wenn das Wetter auch den Genuss der Außenanlage erlaubt. Bei Regenwetter sollte man nicht hingehen.