Der Bildhauer und Maler Alberto Giacometti zählt zweifellos zu den eigenwilligsten und bedeutendsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Seinen zahllosen Porträts widmete die Londoner National Portrait Gallery eine umfangreiche Ausstellung, deren Katalog Stefan Diebitz gelesen hat.
Der Kurator Paul Moorhouse vergleicht in seinen den Band eröffnenden Sätzen Alberto Giacometti (1901 – 1966) mit keinem geringeren als Picasso, vor allem deshalb, weil auch der Schweizer ein »unermüdlicher Neuerer« gewesen sei. Aber wenn man seinen gute vierzig Seiten umfassenden biografischen Essay liest, wird man zunächst einmal mit der erstaunlichen Hartnäckigkeit und Treue Giacomettis zu Modellen, Themen und Konzepten konfrontiert. Dazu allerdings finden sich dann wirklich radikale Brüche, die aus einer unendlichen Folge von schöpferischen Krisen und nicht enden wollenden Selbstzweifeln resultierten.
Umso überraschender muss es dann sein, wenn Moorhouse mehr zwischendurch und nie zu ausführlich von Giacomettis großen Erfolgen mit einzelnen Werken oder Ausstellungen berichtet. Mit dem Glanz des ungeheuer selbstbewussten, seines Genies immer gewissen Picasso hat das kaum etwas zu tun, sondern in weiten Passagen dieses Buches scheint Giacometti nichts anderes zu sein als ein in ärmlichen Pariser Ateliers schmachtender, zwar hochbegabter, aber trotzdem von Selbstzweifeln zerfressener Künstler. Auf keinem der zahlreichen Schwarzweißfotos dieses Bandes ist irgendetwas Luxuriöses zu sehen, sondern die Umgebung des Künstlers wirkt immer ärmlich und sogar schmutzig, Giacometti selbst ernst und zurückhaltend, und angesichts dieser Bilder könnte man wirklich denken, dass ihm niemals der Durchbruch gelang.
Das Porträt war das erste, wofür sich das Kind Alberto interessierte. Er war nicht allein jemand, der immer wieder neu anfing, sondern sein ganzes Leben blieb er einigen wenigen Themen und Sujets treu – so auch dem Porträt. Als Dreizehnjähriger porträtierte er seinen jüngeren, zu diesem Zeitpunkt noch kindlich-pausbackigen Bruder Diego und schuf eine beeindruckende Bronzeskulptur. Diese Büste, die er sein ganzes Leben lang aufbewahrte, war sein erster großer künstlerischer Erfolg, und Diego sollte tatsächlich bis zum Tod des älteren Bruders – also mehr als fünfzig Jahre lang! – dessen wichtigstes Modell bleiben, noch vor den wenigen, allerdings ebenfalls immer wieder und wieder gezeichneten oder als Skulptur nachgeformten Frauen.
Schon bei dem allerersten Versuch eines Dreizehnjährigen zeigt sich eines der wichtigsten Merkmale seiner Porträtkunst: Der Porträtierte wird praktisch immer von vorn gesehen, en face, kaum jemals (oder wirklich nie) im Profil. Er oder sie schaut dem Betrachter direkt ins Gesicht, so wie er oder sie auch dem Künstler bei den Sitzungen ins Gesicht geschaut haben muss. Ein Foto aus seinen letzten Lebensjahren zeigt Giacometti, wie er eine Büste seiner Frau Annette formt – beide sitzen einander am Tisch gegenüber. Annette war sehr dicht bei ihm, eigentlich sogar zu dicht, denn Giacometti bevorzugte eine Entfernung von ungefähr drei Metern. Die richtige Entfernung war ein wichtiges Problem, mit dem er sich über Jahrzehnte immer wieder beschäftigte, weil es ihm darum ging, die Details mit dem Eindruck von der ganzen Gestalt in Einklang zu bringen.
Seine Treue zu seinen Modellen und Themen macht sich bereits an den Kapitelüberschriften bemerkbar, denn einige sind nach den Langzeit-Modellen des Künstlers benannt; außer seinem Bruder Diego, der selbst ein Künstler war und später das Musée Picasso in Paris einrichten sollte, waren es sein Vater, seine Mutter und natürlich seine Frau Annette, die er über sehr lange Zeiträume immer und immer wieder porträtierte – sowohl in Büsten als auch in Zeichnungen und Ölgemälden.
Die (im Grunde doch steife) Darstellung en face ist ein wesentliches Merkmal nicht allein seiner Skulpturen, sondern auch seiner Bilder. Auf den fast monochromen Ölbildern seines Spätwerks – eines von 1959 zeigt in grüngrauen Farben wieder seinen Bruder Diego – schaut uns der Porträtierte direkt an, und auch sonst ist vieles dem bildhauerischen Werk ähnlich, insbesondere das extrem kleine Format und die verzerrten, gelegentlich rasiermesserscharfen schmalen Köpfe, mit denen die ebenfalls »falsch«, nämlich viel zu groß, sogar klobig dargestellten Oberkörper korrelieren. Im Grunde sieht es bei vielen Skulpturen so aus, als stieße der Kopf aus dem Oberkörper, wie ein Pilz aus dem Rasen schießt. Erst stößt der Hals nach oben, dann sitzt ganz oben auf dem Erdenkloß der Kopf und schaut sich von seiner Höhe aus um. Mir scheint, dass die unerhörte Ausdruckskraft von Giacomettis Skulpturen (mehr als die seiner Bilder) mit einer Bewegung zu tun hat, die der Betrachter fast notwendig auf das Bild projiziert.
Man muss natürlich in Anschlag bringen, dass der Katalog sowohl diese späten Bilder als auch die Skulpturen viel größer darstellt, als sie in Wirklichkeit sind: die Maße vieler Arbeiten werden in Millimetern angegeben! Allerdings, mit dieser radikalen Reduktion des Formats begann Giacometti erst in seiner letzten Schaffensphase – sonst könnte man auf den Gedanken kommen, es sei eine Reaktion auf Bildhauer wie Arno Breker, Carl Milles oder die vielen anderen, deren Arbeiten oft überdimensioniert waren – auch (oder sogar besonders) dann, wenn nur der Kopf dargestellt wurde. Auf die Darstellung des Übermenschen hat Giacometti anders als viele seiner Kollegen offensichtlich nicht gezielt, aber die winzige Größe seiner Plastiken – man müsste sie Statuetten oder Figurinen nennen – scheint auch keine Gegenreaktion zu sein. Moorhouse interpretiert sie als den Ausdruck der Entfernung: Giacometti wollte nie zu dicht an seinen Modellen sein.
Erst 1947 begann Giacometti mit der Längung seiner schon damals nicht besonders großen Figuren, die für die meisten Bewunderer seiner Kunst zu ihrem wichtigsten Stilmerkmal werden sollte.
Moorhouse betont, dass Giacometti auf jede Psychologie verzichtet hat, weil es ihm allein um die Wiedergabe der äußeren Eindrücke ging – eine Absicht, die an die Phänomenologie erinnern muss, mit der er gelegentlich in Verbindung gebracht wird. Moorhouse fasst zusammen: »Seine Darstellung eines Modells ist in einem Maße, wie es nur wenige Künstler in ihrem Werk getan haben, in erster Linie mit dem inneren Prozess der visuellen Wahrnehmung dieser Person verbunden. Seine Porträts vermeiden demnach, die Psychologie, den Charakter seiner Modelle oder was auch immer über sie bekannt ist, wiederzugeben. Stattdessen sind sie ein intensives Protokoll der zahlreichen Versuche, dem, was immer wieder erscheint und wieder verschwindet, eine objektive Realität zu verleihen: seiner subjektiven Wahrnehmung einer lebendigen Präsenz.«
Anlässlich Giacomettis Arbeit an verschiedenen Porträts seiner Mutter vergleicht Moorhouse seine Bilder und Plastiken mit Landschaftsbildern: »Wie eine geologische Fläche verändert sich die Erscheinung des Modells unablässig und bleibt einem daher fremd – Dinge, die er innerhalb einer Matrix aus suchenden Pinselstrichen einzufangen suchte.« Moorhouse versteht die Ästhetik Giacomettis als den Versuch, »die Beziehung einer Figur zu einer sie umgebenden Leere« darzustellen: das allerdings ist eine Beschreibung, die mich etwas ratlos macht.
Könnte es nicht so sein, dass Giacometti etwas Ähnliches beabsichtigte wie Picasso, der nach den Interpretationen Jean Gebsers in »Ahnung und Gegenwart« versuchte, in einem Bild verschiedene Zeitpunkte darzustellen, also Figuren gleichzeitig im Profil und en face zu malen? So, wie es Moorhouse selbst darstellt, hat Alberto Giacometti die unentwegte, immer wieder neu aufgenommene Beschäftigung mit seinen Langzeitmodellen in Porträts münden lassen, welche die Geschichte dieser Beschäftigung selbst darstellen, also nicht allein einen Zeitpunkt. Vielleicht ist das ein anderer Grund für die unerhörte Ausdruckskraft seiner Bilder wie seiner Statuetten, die in den hochwertigen Fotos dieses Bandes sehr schön eingefangen wurde.