Mehr als 50 Jahre nach ’68: Blicke auf Denkwege, Aktionen und antizipatorische Projekte des Künstlers Karl–Eckhard Carius (*1942). Das Buch enthält bislang unveröffentlichte Texte, autobiografische Reflexionen, Fotografien, Installationen, Zeichnungen und literarische Notate. Es ist das künstlerische Dokument einer Zeit des Aufbruchs und der Rebellion. Darüber hinaus gibt die Publikation Einblicke in ein nicht aufgearbeitetes Kapitel der Geschichte der Hochschule für bildende Künste (heute Universität der Künste) Berlin mit ihren Protagonisten und Motiven. Eine Rezension von Melanie Obraz.
Geboren 1942 assoziiert der Künstler und Kunsttheoretiker Karl–Eckhard Carius die Zeit der 68er Bewegung mit sehr persönlichen Eindrücken. In seinem Buch geht um das sich Einleben und den Spirit der 68er aber auch um die folgenden Jahre, das + und die Auswirkungen der sozialen Bewegung. Doch auch die Irrwege der 68er werden nicht ausgespart oder verschwiegen, Carius gibt einen ungeschönten Einblick in die geistige Welt der 68er, ihre Grundlagen, ihre Wünsche und auch ihre Verzweiflung. Fotografien dokumentieren diese Vielfalt und Lebendigkeit, dieses Aufbegehren und das Einfordern der Freiheit. Kunst ist dabei – laut Carius – das entscheidende Anliegen, der Mensch in seiner Verbindung zur Natur zugleich ein Kulturwesen, in einer sich neu erfindenden Kulturlandschaft.
»In der Phase der antiautoritären Revolte von ´68 habe sich für ihn die Dimension des künstlerischen Schaffens vollständig verschoben«, konstatiert Karl–Eckhard Carius. Kunst sollte vielmehr Vermittlungsfunktion für utopisches Denken sein und mit der Lebenspraxis vereint werden. Ein wesentliches Kapitel bildet dabei das Thema »Wer ich bin – sein könnte“, Carius´ Baustein einer lebensgeschichtlichen Choreographie, einer existenziellen und künstlerischen Selbstbefragung. Der besondere Anspruch: Die Erweiterung der kommunikativen Ebene – Bodenwort/Urwort Betonplatten mit Aufschriften – sowie die Erkundung des architektonischen Raumes als Kommunikationsebene.
Für Carius als Künstler, ist die Auflösung des traditionellen Kunstwerkes oder besser die Auflösung des traditionellen Kunstbegriffes das zentrale Anliegen seiner Arbeit. Ohne belehrend oder anklagend zu wirken problematisiert und hinterfragt er die Kultur der Zerstreuung. Eine künstlerische Konfrontation die auch als jene Selbstbefragung, gelesen werden kann, der sich jeder Mensch gegenüber sieht.
Dem Autor gelingt dabei ein schillerndes Aufbegehren und eine Untersuchung der bestehenden Augenblicke der Kunst, die gleichzeitig eine neue Kunstansicht heraufbeschwört. Sein Fazit: Kunst ist Leben, Lebendigkeit, Dynamik und stetes Fortschreiten. Nichts wird konserviert, nur um es auszustellen.
Das Werk #68+ zeigt kein ineinander festgebundenes Gefüge, sondern vielmehr eine neuartige sich stetig erneuernde Sichtweise, die sich dem traditionellen System versagt und gerade deshalb auch der Kunstphilosophie völlig neue Impulse verleiht.
Das Mysterium der 68er Bewegung tritt aber nicht nur im Jahr 1968 hervor, sondern schon davor und wirkt viele Jahre darüber hinaus, bis in die Gegenwart. Denn: Die 68er zeigen eine Krise auf, welche durch politische, philosophische und religiösen Ideen entstanden war. Die Kunst präsentiert sich dabei als unabhängige Totalität, die scheinbar jede Fremdheit überbrücken kann.
#68+ bringt Beobachtungen, Fakten und Fiktionen zusammen und wirkt dabei nie gekünstelt. Es ist das künstlerische Dokument einer Zeit des Aufbruchs, der Rebellion und des Ausprobierens, des Abtestens und Abtastens der Demokratie. Die hier vorgestellten Ausblicke spiegeln die fundamentale Erweiterung des Kunstbegriffs – insbesondere der Bildhauerei – zu einer umfassenden ästhetischen Praxis und zu einer politischen, selbstentfesselnden Kunst wider. Sie zeigen Wahrnehmungsformen, Prozesse der Selbstbegegnung und der ständigen Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen und Strategien. Auch das Scheitern einer Utopie wird auf diesen Seiten thematisiert, genauer: die mitgeführte Vergangenheit, die zu einer Verarbeitung der Sinnhaftigkeit gesteigert wird und sich aus Aufbruch, Neubetrachtung, Neuerung in jeder Beziehung speist. »Freiheit« ist deshalb das entscheidende Stichwort, da es auch die Bedeutung in sich trägt, dass jeder den Kunstgenuss nachvollziehen kann. Eine elitäre Nische für die Kunst darf es nicht mehr geben, ist sich Carius sicher.
In #68+ verdichtet sich eine Zeit der Befreiung, in der die Provokation nicht nur ein wichtiger Teil, sondern das Konzept war. Auch aus diesem Grunde bezeichnet Bazon Brock den Künstler im Vorwort auch als »einen der wenigen Überlebenden der damaligen Glücksradikalität«.
Das Buch selbst gleicht einem Theaterstück, besticht durch zahlreiche Querverbindungen und ist mysteriös, in dem Sinne, dass es der Leserschaft nicht nur Freiräume lässt, sondern jene einfordert. Gefühle, Ahnungen, Stimmungen und Assoziationen werden erweckt, Essentielles wie Existenzielles erfahren in poetischer Weise eine Ausformung, die Gefühle und damit wahre Bewegungen visualisiert. Alles fließt frei dahin, ohne Störung oder irgendeine lineare Dramaturgie. Carius offenbart seine Erfahrung in einer sehr speziellen Maßanfertigung, die sich jeder Verallgemeinerung verschließt. Ist es ein Roman, sind es Essays? Immer schwingt die währende Möglichkeit des doch ganz Anderen mit. Daher findet sich in dieser Publikation auch nie das eine und absolut entscheidende Merkmal der 68er. Es ist das + das zählt: Keine leidliche Abarbeitung, keine selbstverständliche Zufriedenheit, sondern das Wünschen auf eine Erneuerung, bildet den Mittelpunkt.
Karl–Eckhard Carius
Ralf Schnell (Hg.)
Carius#68+. Im Labyrinth der Ereignisse. Distanz Verlag
256 Seiten, 210 Farbabbildungen, Hardcover