Buchrezensionen

Sandra Frimmel: Kunsturteile – Gerichtsprozesse gegen Kunst, Künstler und Kuratoren in Russland nach der Perestroika, Böhlau Verlag 2015

Die Aktionen russischer Künstler haben in den letzten Jahren immer wieder für Aufsehen gesorgt – und juristische Schritte nach sich gezogen. Sandra Frimmel analysiert die Inszenierungen der darauffolgenden Gerichtsprozesse mit noch nie dagewesener Tiefe und gibt damit zugleich Einblicke in das russische Kunstverständnis. Marco Hompes ist ihren Gedanken gefolgt.

2013 trieb sich der russische Aktionskünstler Pëtr Pavlenskij, nackt auf dem Roten Platz in Moskau sitzend, Nägel durch seinen Hodensack. Ein Jahr zuvor stürmten Mitglieder der Punk-Band Pussy Riot die Christi-Erlöser-Kathedrale in der russischen Hauptstadt, um dort eine wilde Performance aufzuführen. Und auch die russische Künstlergruppe Vojna machte in der Vergangenheit immer wieder Schlagzeilen, sei es, weil ihre Mitglieder im örtlichen Naturkundemuseum Geschlechtsverkehr hatten, Hinrichtungen von Homosexuellen und Gastarbeitern inszenierten oder ein übergroßes Genital auf eine Brücke malten.

Die meisten dieser Fälle wurden auch von westlichen Medien intensiv verfolgt, bisweilen ausführlicher noch als in Russland selbst. Dieser Umstand hat allerdings nicht nur mit der dezidiert politischen und radikalen Ausrichtung der Aktionen zu tun, sondern vor allem auch damit, dass Klagen und Gerichtsprozesse darauf folgten. Verurteilungen von russischen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich nicht als Kunstschaffende definieren, bleiben hingegen oft unbeachtet. Denn die Repression künstlerischer Aktivitäten entspricht so gar nicht dem freiheitlich-demokratischen Ideal der deutschen Kultur.

Doch was genau hat es mit den Strafverfahren auf sich und welche Debatten sind damit verknüpft? Diesen Fragen geht Sandra Frimmel in ihrer detaillierten Analyse von Gerichtsprozessen gegen Kunst in Russland nach. Sie unterscheidet in ihren Untersuchungen vor allem zwei komplementäre Blöcke: Da wäre zum einen das »Sprechen über Kunst vor Gericht« und zum anderen die »Inszenierungen vor Gericht«. Nach einer allgemeinen Einführung und einem historischen Diskurs zu Strafverfahren gegen Kunstschaffende, konzentriert sich die Autorin im Wesentlichen auf zwei Prozesse gegen Ausstellungen beziehungsweise deren Macher. Die erste Ausstellung fand 2003 unter dem Titel »Achtung Religion!« statt und zeigte Werke zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, die sich mit religiösen Motiven auseinandersetzten. Eine Marienikone aus Kaviar zu formen oder Mickey Mouse an die Stelle Jesu zu setzen, gefällt freilich nicht jedem und so wurde die Ausstellung von sechs orthodoxen Geistlichen verwüstet. Die Zerstörer wurden auf Druck von Staat und Kirche freigesprochen, dafür jedoch die Organisatoren wegen Schüren religiösen Hasses angeklagt und in Folge zu einer Geldstrafe verurteilt. Ein ähnliches Resultat hatte der Prozess gegen die Kuratoren der Ausstellung »Verbotene Kunst 2006«, in der Werke gezeigt wurden, die im offiziellen, staatlichen Kunstbetrieb nicht ausgestellt worden waren.

Was Frimmel an diesen Gerichtsverfahren interessiert, sind weniger deren Folgen oder die Ableitung eines gültigen Kunstbegriffs, sondern vielmehr die Fragen, welche sprachlichen Bilder die Anklage und die Verteidigung nutzen und worin sich letztlich die Vorstellungen dessen, was Kunst zu sein oder eben nicht zu sein hat, unterscheiden.

Deutlich wird vor allem, dass die Anklage in den zeitgenössischen Werken eine Desakralisierung religiöser Symbole sah, die sich explizit durch die Vermischung von Erhabenem und Niedrigem, Heiligem und Vulgärem vollzog. Hierbei wurde ebenfalls betont, dass gerade im russischen Kontext andere Maßstäbe zu gelten haben, da die russische Mentalität mit der Orthodoxie verknüpft sei. Die heutige Kunst hingegen sei beeinflusst von einer westlichen Gegenkultur, die so gar nichts mit der russischen Seele zu tun haben könne. Die Verteidigung versuchte auf Basis dieser Thesen zu erläutern, dass die Künstlerinnen und Künstler just dieses vorgefasste Wertesystem zum Wanken bringen wollten. Nicht jedoch in aggressiver, zerstörerischer Form, sondern als verständnisvolle Auseinandersetzung.

Die Autorin beschreibt hervorragend, worin der wesentliche Kern des Konflikts besteht. Denn dieser ist eng verknüpft mit einem Bildverständnis, das in der russisch-orthodoxen Kunst, also der Ikonenmalerei, wurzelt. Während die Verteidigung die Werke nämlich als Kunst betrachtet, sie also in einen ästhetischen Kontext rückt, der eine historische Dimension besitzt, spricht die Anklage den verwendeten religiösen Motiven einen Kultcharakter zu. Jede Abbildung eines heiligen (Ur-)Bildes ist demnach sakral und dürfe nicht zweckentfremdet werden.

Wer glaubt, dieses Bildverständnis sei rückständig und sicher nicht in westlichen Ländern anzutreffen, dem zeigt Frimmel auch immer wieder durch Beispiele außerhalb Russlands, dass es andernorts ähnliche Prozesse gab. Auch dort, so das Fazit, wurden nahezu identische Argumentationsmuster angewendet. Zu nennen sind hier beispielsweise die Verfahren gegen den Basler Künstler Herbert Fahrner, gegen Georg Grosz in Deutschland oder gegen Andres Serranos sogenannten »Piss Christ« in den USA.

Eine weitere Strategie der Anklage war, die damals ausgestellten Werke als Nicht-Kunst zu diskreditieren. Sie zeichnete ein Bild, in dem Malerei und Plastik nach Harmonie und Schönheit streben und bei dem hochwertige Materialien und handwerkliches Können wesentliche Prämissen für gute Arbeiten sind.

In ihrem zweiten Untersuchungsfeld, den Inszenierungen vor Gericht, konstatiert Frimmel eine wesentliche Theatralisierung der Verfahren. Im Falle der Anklagenden bezog sich diese im Wesentlichen auf eine Manipulation des juristischen Prozedere. So wurde im Vorfeld bereits zu Klageeinreichungen aufgerufen und schablonenhafte Formulierungen im Internet angeboten. Die Aussagen der Zeugen wurden im Vorfeld festgelegt, ihnen wurden Spickzettel mit »richtigen« Antworten zugespielt und die Fragen der Verteidigung wurden konsequent ignoriert. Auch das Publikum kommentierte lautstark die Äußerungen der Aussagenden, wodurch die Verhandlungen gestört wurden. Auf Seite der Verteidigung äußerte sich die Inszenierung vor allem auf künstlerischer Ebene. So fanden regelmäßig Performances statt oder es wurden Kakerlaken im Gerichtssaal freigelassen – eine Aktion der Künstlergruppe Vojna.

Abschließend stellt Sandra Frimmel fest, dass der zuerst behandelte Aspekt, das Sprechen über Kunst vor Gericht, anderen, etwa westeuropäischen oder amerikanischen, Beispielen ähnelt. Die Theatralisierungen der russischen Verfahren heben sich hingegen deutlich von anderen, historischen Fällen ab. In einem letzten Abschnitt umreißt die Autorin knapp die Verurteilung der Pussy-Riot-Mitglieder. Denn hier wurden erstmals Künstlerinnen zu Freiheitsstrafen verurteilt, worin sich eine klare Verschärfung der juristischen Rechtsprechung zeigt.

Frimmels Buch ist eine bemerkenswerte und detailreiche Analyse der russischen Kunsturteile, wie es sie in dieser Tiefe bisher nicht gab. Die kenntnisreichen Schilderungen vermitteln den Leserinnen und Lesern einen umfassenden Einblick, nicht nur in die faktischen Begebenheiten, sondern auch in die Entwicklungen eines russischen Kunstverständnisses mit all seinen Licht- und Schattenseiten.

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