Ausstellungsbesprechungen

Städel Museum Frankfurt: Herausragend! Das Relief von Rodin bis Picasso. Bis 17. September; ab 13. Oktober in der Kunsthalle Hamburg

Dass es möglich ist, zu einem großen Teil aus den – freilich reichen – Sammlungsbeständen zweier bedeutender deutscher Kunstmuseen eine hochinteressante Sonderausstellung herauszudestillieren, wird derzeit im Frankfurter Städel Museum und ab Mitte Oktober in der Hamburger Kunsthalle vorgeführt. Aus einer fruchtbaren Kooperation beider Häuser ist die großartige Schau „Herausragend!“ hervorgegangen, die in Frankfurt mit dem Untertitel „Das Relief von Rodin bis Picasso“ läuft und anschließend in Hamburg mit dem leicht abgewandelten Untertitel „Das Relief von Rodin bis Taeuber-Arp“ gezeigt wird. Rainer K. Wick war in Frankfurt und hat das Katalogbuch gelesen.

Aristide Maillol, Das Verlangen, 1907, Foto Rainer K. Wick
Aristide Maillol, Das Verlangen, 1907, Foto Rainer K. Wick

Ausstellungen zum Thema „Relief“ sind rar, wie das Kurator:innenteam im einführenden Beitrag zum exzellenten, bei Prestel in München erschienenen Katalogbuch feststellt. Die letzten Überblicksausstellungen liegen mehr als vierzig Jahre zurück. Nun steht diese „faszinierend hybride Gattung“ erneut im Fokus musealen Interesses und kunstwissenschaftlicher Reflexion. Sieht man von der in der altägyptischen Kunst verbreiteten Form des sogenannten versenkten Reliefs ab, ist das Relief nach allgemeiner Lesart eine aus dem flächigen Grund herausragende plastische Form, und insofern könnte der – semantisch freilich doppelt codierte – Titel der Ausstellung nicht treffender gewählt sein. Wie vielfältig sich die Reliefkunst im 19. und 20. Jahrhundert darstellt, veranschaulicht der in dreizehn Kapitel gegliederte, höchst ansprechend inszenierte Parcours durch die Frankfurter Schau, die sich bewusst gleichermaßen der linearen Logik einer entwicklungsgeschichtlichen Reihung wie der Einordnung in stilistische Schubladen verweigert. Stattdessen sind es inhaltlich sehr unterschiedliche Aspekte, die die Auswahl der Exponate in den einzelnen Sektionen bestimmen und in ihrem Zusammenwirken ein lebendiges Bild von der Bandbreite künstlerischer Erscheinungsformen des Reliefs seit etwa 1800 bis in die 1960er/70er Jahre ergeben.

Bevor davon ausführlicher die Rede sein soll, seien auf der Grundlage des in das Katalogbuch einführenden Kurator:innentextes von Alexander Eiling, Eva Mongi-Vollmer und Karin Schick einige grundsätzliche Überlegungen vorausgeschickt. Nach dem Grad der Erhebung der Form aus der Fläche wird allgemein zwischen Flach-, Halb- und Hochrelief unterschieden. Je stärker das Relief der Fläche verhaftet ist, umso eher ist es der Malerei verwandt, je plastischer die Formen in den Raum hervortreten, umso eher wird man es der Skulptur zurechnen. Damit ist sein ambiguider Status „als Hybrid zwischen den künstlerischen Gattungen“ markiert. Folgerichtig geriet das Relief in der Kunsttheorie der Renaissance und der Folgezeit in den Strudel des sogenannten Paragone-Diskurses (ital.: Vergleich), in dem es um die zum Teil leidenschaftlich diskutierte Frage ging, ob der Malerei oder der Bildhauerei der Vorrang gebühre. Dieser Wettstreit der Künste verlor im 19. Jahrhundert an Brisanz, bot sich das Relief nun „nicht mehr als Streitfall, sondern als eine Synthese zwischen den Gattungen der Malerei und Bildhauerei an.“ So qualifizierte August Wilhelm Schlegel 1801 das Relief als „Mittelding“ zwischen Malerei und Skulptur und erklärte es sogar zu einem „vollständigen Kunstgebiet“, d.h., er sprach ihm deutlich mehr Autonomie zu als bis dahin üblich.

links: Adolf von Hildebrand, Elisabeth von Herzogenberg als heilige Cäcilie, 1893-97, Foto Rainer K. Wick; rechts: Auguste Rodin, Junge Mutter in der Grotte, 1885, Foto Rainer K. Wick
links: Adolf von Hildebrand, Elisabeth von Herzogenberg als heilige Cäcilie, 1893-97, Foto Rainer K. Wick; rechts: Auguste Rodin, Junge Mutter in der Grotte, 1885, Foto Rainer K. Wick

Wie unterschiedlich um 1900 die Reliefauffassungen exponierter Künstler sein konnten, verdeutlicht das Kurator:innenteam am Beispiel von Adolf von Hildebrand auf der einen und Auguste Rodin auf der anderen Seite. Während Ersterer eher einem gebundenen, klassizistischen oder akademischen Formideal verpflichtet blieb („Elisabeth von Herzogenberg als heilige Cäcilie“, 1893–97), sind es bei Letzterem die „frei in ihren schrankenlosen Reliefraum“ strömenden Figuren, die von einer anti-akademischen, „expressiv-dramatischen“ Formensprache und damit von kompromissloser Modernität zeugen („Junge Mutter in der Grotte“, 1885). In den Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts wie Kubismus, Futurismus, Dadaismus und Konstruktivismus kam es dann im Hinblick auf Materialwahl und Modalitäten der Gestaltung zu ungeahnten Grenzüberschreitungen. Zur sprachlichen Kennzeichnung neuartiger künstlerischer Hervorbringungen wie etwa Materialbilder und Objektmontagen, für die die Präsenz von Fundstücken und alltäglichen Gegenständen charakteristisch ist, etablierte sich im Anschluss an die maßstabsetzende Ausstellung „The Art of Assemblage“ 1961 im New Yorker Museum of Modern Art der Begriff der „Assemblage“ (engl.: Ansammlung). Exemplarische Belege liefern dazu in der Ausstellung etwa Christian Schad mit seiner „Composition in N“ von 1919 oder Daniel Spoerri mit einem seiner typischen „Fallenbilder“ (hier: „Restaurant Spoerri“ von 1968). Zu fragen ist freilich, ob es sich dabei nicht um etwas kategorial ganz andersartiges handelt, das mit dem herkömmlichen Begriff des Reliefs kaum adäquat fassbar ist – eine Frage, die sich auch die Kurator:innen der Frankfurter Ausstellung gestellt haben dürften. Wie auch immer: Zweifellos ist es gerade die Berücksichtigung dieser Phänomene einer „expanded art“, die den besonderen Reiz der aktuellen Schau im Städel mit ihren rund hundertvierzig Exponaten von knapp hundert Künstler:innen ausmacht.

links: Christian Schad, Composition in N, 1919, Foto Rainer K. Wick; rechts: Daniel Spoerri, Restaurant Spoerri, 1968, Kunsthalle Mannheim / Margita Wickenhäuser, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023
links: Christian Schad, Composition in N, 1919, Foto Rainer K. Wick; rechts: Daniel Spoerri, Restaurant Spoerri, 1968, Kunsthalle Mannheim / Margita Wickenhäuser, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Sowohl beim Rundgang durch die Räume als auch bei der Lektüre des Katalogbuchs wird deutlich, dass sich die erwähnten dreizehn Kapitel der Ausstellung nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen lassen, sondern häufig überschneiden und thematisch durchdringen. Dazu nur ein Beispiel: Obwohl der Mensch im Raum das zentrale Thema des Bauhaus-Künstlers Oskar Schlemmers gewesen ist, experimentierte der Künstler um 1920 kurzfristig mit rein abstrakten, geometrischen bzw. stereometrischen Form. So entstand zwischen 1919 und 1923 seine „Ornamentale Plastik auf geteiltem Rahmen“, die die Kurator:innen dem Kapitel „Entwürfe von Welt. Das Relief als Konstruktion“ zuordnen, die wegen ihrer Farbigkeit aber ebenso im Kapitel „Polychrome Reliefs“ und wegen ihres Rahmenmotivs im Kapitel „Gefasste Formen, offene Felder. Das Relief und sein Rahmen“ hätte verhandelt werden können. Die hier angesprochene Problematik mag als eine der Schwachstellen der an sich „herausragenden“ Ausstellung erscheinen, dürfte aber auch der enormen Komplexität des Themas und den daraus resultierenden Ansprüchen an die Kurator:innen geschuldet sein.

links: Oskar Schlemmer, Ornamentale Plastik auf geteiltem Rahmen, 1919-23, Foto Rainer K. Wick; rechts: Paul Gauguin, Seid geheimnisvoll (Soyez mystérieuses), 1890, Foto Rainer K. Wick
links: Oskar Schlemmer, Ornamentale Plastik auf geteiltem Rahmen, 1919-23, Foto Rainer K. Wick; rechts: Paul Gauguin, Seid geheimnisvoll (Soyez mystérieuses), 1890, Foto Rainer K. Wick

Die Ausstellung beginnt gleichsam klassisch mit dem Gipsabguss einer Reliefplatte des Parthenonfrieses, aber nicht, um von hier aus die Geschichte der gesamten abendländischen Reliefkunst aufzurollen, sondern um am Beispiel der Darstellung von Pferden und Reitern dem „Echo“ der griechischen Hochklassik in der Reliefkunst des 19. und frühen 20. Jahrhundert nachzuspüren – von Johann Gottfried Schadow über Degas und Hoetger bis hin zum hochbegabten, 1942 gefallenen Hermann Blumenthal.

Um den Realitätscharakter des Kunstwerks zu steigern, war seit alters her die farbige Fassung, also die Bemalung plastischer Bildwerke an der Tagesordnung. Erst der Klassizismus propagierte nachdrücklich das Ideal einer materialsichtigen Monochromie, im optimalen Fall als reinweißer Marmor. Kein Zufall, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht selten Maler waren, die sich dann von diesem Purismus ab- und der Polychromie zuwandten und der Reliefkunst die Farbe zurückgaben, so etwa Böcklin im deutschsprachigen Raum, Khnopff in Belgien sowie Maurice Denis und Paul Gauguin in Frankreich. Besonders eindrucksvoll präsentiert sich in Frankfurt Gauguins farbig bemaltes Holzrelief „Seid geheimnisvoll“ von 1890, das zwar noch in der Bretagne entstand, aber schon den späteren, von der Südsee inspirierten Exotismus des zivilisationsmüden Künstlers zu antizipieren scheint.

links: Jules Dalou, Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor, 1898-1902, Foto Rainer K. Wick; rechts: Hans Arp, Zwei Köpfe, 1927, Foto Rainer K. Wick
links: Jules Dalou, Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor, 1898-1902, Foto Rainer K. Wick; rechts: Hans Arp, Zwei Köpfe, 1927, Foto Rainer K. Wick

Über die narrativen Möglichkeiten, die dem Relief zu eigen sind, informiert das Kapitel „Plastisch erzählen“. Hier wird der Bogen von Klassizisten wie Bertel Thorvaldsen („Epitaph für Johann Philipp Bethmann-Hollweg“, 1830) und Christian Daniel Rauch („Friedrich II. nach der Schlacht bei Kolin“, 1850) bis hin zu Jules Dalous ungewöhnlichem „Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor“ (1898–1902 geschlagen. Dieses Hochrelief zeigt den bei einem Rennen ums Leben gekommenen Fahrer, wie er sich mit seinem Fahrzeug aus der Tiefe des Raumes nähert, das am Straßenrand jubelnde Publikum bereits hinter sich gelassen hat und frontal auf den Betrachter zuzurasen scheint (tatsächlich betrug die damalige Durchschnittsgeschwindigkeit nur 24 km/h). Thematisch am Puls der Zeit und stilistisch dem Impressionismus nahe stehend, ist diese dynamische Komposition ein Dokument der heraufziehenden Moderne in der Epoche des Fin de Siècle. Unklar bleibt im Unterschied zu Dalous Entwurf die erzählerische Dimension des aus Schnüren auf Leinwand gebildeten Tableaus „Zwei Köpfe“ des Dadaisten Hans Arp aus dem Jahr 1927. Handelt es sich um die Darstellung einer dialogischen Beziehung zwischen zwei Individuen, und kann hier überhaupt von einem Relief die Rede sei, nur weil die Schnüre sich geringfügig über den Bildgrund erheben, oder ist es eher eine Grafik mit anderen Mitteln? 

links: Henri Matisse, Rückenakt I (Nu de dos I), 1909, © SHK / Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto Christoph Irrgang; rechts: Medardo Rosso, Das Goldene Zeitalter, 1886, Foto Rainer K. Wick
links: Henri Matisse, Rückenakt I (Nu de dos I), 1909, © SHK / Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto Christoph Irrgang; rechts: Medardo Rosso, Das Goldene Zeitalter, 1886, Foto Rainer K. Wick

Derartige Ungewissheiten spielen im Kapitel „Malerisch-plastische Reliefs“ kaum eine Rolle. Hier faszinieren neben Reliefs von Daumier, Meunier, Degas, Rodin und Matisse vor allem die Arbeiten des Italieners Medardo Rosso, so dessen dynamische Figur „Lesender Mann“ von 1894 und das Ensemble „Das Goldene Zeitalter“ von 1886, die anrührende Darstellung einer Mutter, die sich an den Körper ihres kleinen Kindes schmiegt. Rossos malerischer Stil steht insofern im größten Gegensatz zu einem Klassizisten wie Canova und dessen Nachfolgern, als er der genau durchgearbeiteten und perfekt geglätteten plastischen Form Skulpturen entgegensetzt, die nach akademischen Maßstäben allenfalls für Bozzetti, also plastische Entwurfsskizzen (wie im Fall des oben erwähnten Denkmalentwurfs von Jules Dalous) akzeptabel waren und sich durch lebendig bewegte Oberflächen auszeichnen. Seine in flüchtig andeutender Modellierung gearbeiteten Skulpturen qualifizieren den Künstler unter den modernen Bildhauern an der Schwelle zum 20. Jahrhundert als einen der konsequentesten Impressionisten, wie Eduard Trier es formuliert hat.

Irritationen mag die Tatsache auslösen, dass die beiden Arbeiten Rossos eher Freiplastiken als Hochreliefs sind, und diese Irritation setzt sich im Kapitel „Gesichter im Relief“ zum Teil fort. Neben kleinplastischen Profildarstellungen auf Plaketten, Medaillen und Münzen sowie Porträtreliefs etwa von Gauguin und Kollwitz finden sich in der Ausstellung vollplastische Köpfe von Picasso („Kopf eines Picadors mit gebrochener Nase“, 1903) oder Giacometti („Kopf einer Frau. Flora Mayor“, um 1927), die man schwerlich der Reliefkunst zurechnen kann, auch wenn das Gesicht der Giacometti-Skulptur relativ flach gehalten ist. Sinngemäß dasselbe gilt für die Gestaltung der einzelnen Seiten der von Brancusi streng blockhaft konzipierten Skulptur „Der Kuss“ von 1907/08.

links: Käthe Kollwitz, Die Klage, 1938-41, Foto Rainer K. Wick; rechts: Alberto Giacometti, Kopf einer Frau (Flora Mayo), um 1927 (Guss um 1990), Foto Rainer K. Wick
links: Käthe Kollwitz, Die Klage, 1938-41, Foto Rainer K. Wick; rechts: Alberto Giacometti, Kopf einer Frau (Flora Mayo), um 1927 (Guss um 1990), Foto Rainer K. Wick

Die Kapitel „Der vielseitige Blick“ und „Zwischen Optik und Haptik“ loten Grenzbereiche und Übergangszonen zwischen Malerei und Relief aus. Unter anderem werden die revolutionären Bilderfindungen der kubistischen Malerei mit ihren facettenartigen Formzerlegungen im Hinblick auf deren Konsequenzen für das skulpturale Gestalten der damaligen Zeit thematisiert. Hervorgehoben seien nur Picassos Assemblage „Violine“ von 1915 oder Archipenkos „Badende“, ebenfalls von 1915, als sogenannte Skulpto-Malerei ein polychromes, multiperspektivisches Mischgebilde aus Malerei und Skulptur. Trotz „ihrer dreidimensionalen Form und der bildhaften Oberfläche“ besitzt diese Arbeit „einen ausgesprochenen Reliefcharakter“, wie Alexander Eiling, Sammlungsleiter für die Kunst der Moderne am Städel Museum und Co-Kurator der Ausstellung „Herausragend!“, feststellt.

links: Pablo Picasso, Violine (Violon), © Musée national Picasso, Paris, bpk / RMN - Grand Palais / Béatrice Hatala; rechts: Alexander Archipenko, Badende (Baigneuese), 1915, Foto Rainer K. Wick
links: Pablo Picasso, Violine (Violon), © Musée national Picasso, Paris, bpk / RMN - Grand Palais / Béatrice Hatala; rechts: Alexander Archipenko, Badende (Baigneuese), 1915, Foto Rainer K. Wick

Dass Reliefs nicht nur auf das Sehen zielen, sondern auch den Tastsinn ansprechen, ist eine Binsenweisheit (ebenso, dass das Berühren in Museen leider aus guten Gründen in aller Regel nicht erlaubt ist). In der Frankfurter Schau wird ein Gemälde des romantischen Malers Philipp Otto Runge mit dem Titel „Triumph des Amor“ von 1802 gezeigt. Es handelt sich um ein gemaltes Flachrelief, das inmitten eines Puttenreigens den kleinen, leierspielenden Amor zeigt. Das ist Illusionsmalerei in höchster Perfektion, so dass sich der Betrachter fast aufgefordert sieht, taktil nachzuprüfen, ob er hier ein Gemälde oder ein Relief vor sich hat.

Es ist sicherlich nicht abwegig, das natürliche Profil der Erdoberfläche mit seinen unterschiedlichen Höhenniveaus als Relief zu beschreiben. Umgekehrt können auch künstlerische Reliefs an Formbildungen der Natur erinnern, insbesondere dann, wenn Naturmaterialien wie beispielsweise Erde, Sand, unbehandelter Stein oder rohes Holz zum Einsatz kommen. „Annäherungen an die Natur“ heißt ein Kapitel der Ausstellung, in dessen Mittelpunkt Yves Kleins großartiges, in magischem Blau erstrahlendes Schwammrelief mit dem Titel „Relief éponge bleu (Kleine Nachtmusik)“ aus dem Jahr 1960 steht. – Ebenfalls in intensivem Blau präsentiert sich als Beitrag zum Kapitel „Vor und Zurück“ Lucio Fontanas Arbeit „Raumkonzept – Erwartungen (Concetto spaziale – Attese)“ von 1962/63. Ausgebildet als klassischer Bildhauer, begann Fontana Mitte des 20. Jahrhunderts, meist monochrom beschichtete Leinwände zu perforieren, dann auch mit scharfen Messern aufzuschlitzen. Über das aggressive, ja destruktive Moment derartiger Praktiken soll hier nicht spekuliert werden. An dieser Stelle nur so viel: Indem Fontana den auf Keilrahmen straff gespannten Bildgrund mit schrägen Parallelschnitten traktierte, entstand an den klaffenden Schnittstellen Räumlichkeit, und zwar nicht nur, weil der Blick auf das hinter den Spalten Befindliche provoziert wurde, sondern auch, weil sich die an sich plane Leinwand an diesen Stellen spannungsbedingt leicht krümmt und durch die entstehenden Licht-Schatten-Übergänge reliefartige Effekte entstehen, die der Transformation eines monochromen Bildes in ein plastisches Gebilde gleichkommen.

links: Yves Klein, Relief éponge bleu (Kleine Nachtmusik), 1960, Foto Rainer K. Wick; rechts: Lucio Fontana, Raumkonzept – Erwartungen (Concetto spaziale – Attese), 1962-63, Foto Rainer K. Wick
links: Yves Klein, Relief éponge bleu (Kleine Nachtmusik), 1960, Foto Rainer K. Wick; rechts: Lucio Fontana, Raumkonzept – Erwartungen (Concetto spaziale – Attese), 1962-63, Foto Rainer K. Wick

Bevor das Relief im 19. und insbesondere 20. Jahrhundert gleichsam autonom wurde, war es wegen seiner Bindung an die Fläche geradezu prädestiniert, architektonische Aufgaben zu übernehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten dann im Zuge des europäischen Wiederaufbaus architekturbezogene Reliefgestaltungen eine gewisse Konjunktur, was in der Ausstellung im Kapitel „Monumentale Aufgaben“ dokumentiert wird. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang Karl Hartungs dem Informel nahestehendes, aus Carraramarmor gefertigtes Wandrelief an der Fassade des Gebäudes des Westdeutschen Rundfunks in Köln (um 1961/62) und vor allem Entwürfe für Wandreliefs von Künstler:innen der britischen Avantgarde wie Henry Moore, Ben Nicholson und Barbara Hepworth, die nach 1945 ihre langjährigen Erfahrungen mit Bildformen der Abstraktion – von organisch bis geometrisch-konstruktiv – in der Dienst der sogenannten angewandten Kunst stellten. Abgesehen von kleineren Maquetten zeigt die Schau Fotos der ausgeführten Arbeiten, die sich natürlich nicht in die Ausstellung translozieren lassen, so etwa Moores Ziegelrelief am Bouwcentrum in Rotterdam oder das dreiteilige Metallrelief „Themes and Variations“ an der Fassade des Cheltenham House in Gloucestershire von 1970.

Barbara Hepworth, Maquette: Theme and Variations, 1970, Foto Rainer K. Wick
Barbara Hepworth, Maquette: Theme and Variations, 1970, Foto Rainer K. Wick

Das umfangreiche, großzügig bebilderte Katalogbuch mit sachkundigen Textbeiträgen ausgewiesener Autor:innen mag den enormen Facettenreichtum der Reliefkunst der letzten zweihundert Jahre auch denjenigen anschaulich vor Augen führen, denen ein Besuch der sehenswerten, in Frankfurt am 17. September schließenden Ausstellung nicht möglich gewesen ist. Eine zweite Chance eröffnet sich dem interessierten Publikum in der Hamburger Kunsthalle, wo die Schau vom 13. Oktober 2023 bis zum 25. Februar 2024 in leicht abgeänderter Form zu besichtigen sein wird.


Katalog „Herausragend!“
Prestel Verlag München
mit Beiträgen von Juliane Au, Alexander Eiling, Svenja Grosser, Eva Mongi-Vollmer, Karin Schick und Friederike Schütt
herausgegeben von Alexander Eiling, Eva Mongi-Vollmer und Karin Schick
Deutsche und englische Ausgabe
264 Seiten
€ 39,90 (Museumsausgabe)

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