Ausstellungsbesprechungen

Städels Erbe. Meisterzeichnungen aus der Sammlung des Stifters. Städel Museum Frankfurt, bis 16. August 2020

Mit dem Vermächtnis seiner privaten Kunstsammlung begründete der Frankfurter Kaufmann und Bankier Johann Friedrich Städel ein öffentliches, für alle zugängliches Kunstmuseum von internationalem Rang. Der Sammler hinterließ einen Schatz, der neben Gemälden und Druckgrafiken auch über 4.600 Zeichnungen umfasste. Viele davon sind aktuell im Städel Museum ausgestellt. Dietmar Spengler zeigt sich von der Schau begeistert.

Francesco Primaticcio (1504–1570) Der Tanz der Horen, ca. 1547–1548 Rote Kreide auf Papier 358 × 335 mm (Blatt) Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum
Francesco Primaticcio (1504–1570) Der Tanz der Horen, ca. 1547–1548 Rote Kreide auf Papier 358 × 335 mm (Blatt) Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum

»Meine Sammlung von Gemählden, Handzeichnungen, Kupferstichen und Kunstsachen, sammt dazu gehörigen Büchern, soll die Grundlage eines zum Besten hiesiger Stadt und Bürgerschaft hiermit von mir gestiftet werdenden Städelschen Kunstinstituts seyn« heißt es im Testament des Frankfurter Bankiers und Kaufmann Johann Friedrich Städel (1728–1816). Mit seinem Stiftungsbrief von 1815, zugleich Gründungsurkunde des »Städelschen Kunstinstituts«, überließ er eine private Kunstsammlung einer öffentlichen Stiftung, aus der das heutige Städel Museum hervorgegangen ist. Es war ein enormes Vermögen, 1,3 Millionen Gulden, die der Bankier investierte, als er das Dokument unterzeichnete: Verbrieft ist darin der Anspruch, die Sammlung durch Neuerwerbungen zu bereichern, um sie in ihrem Qualitätsniveau zu steigern. Daneben ging es dem Stifter um die Vermittlung des Bestands durch eine allgemeine Zugänglichkeit der Sammlung. Der »Liebhaber der Kunst« hinterließ unter den oben aufgeführten Kunstgegenständen mehr als 4600 Zeichnungen.
Dies alles erfährt man in der Ausstellung »Städels Erbe. Meisterzeichnungen aus der Sammlung des Stifters«, die zur Wiedereröffnung im Frankfurter Städel Museum veranstaltet wird. Auf den Informationstafeln der Ausstellung ist nachzulesen, wie die Stadt in den Besitz der Städelschen Kunstsammlung gekommen ist, im Katalog wie der Sammler eine derart exquisite Kollektion zusammengebracht hat. Um es vorwegzunehmen: Die großen Erwartungen, die in dieses umfangreiche Projekt gesetzt worden waren, haben sich rundum erfüllt.

Ausstellungsansicht Städels Erbe. Meisterzeichnungen aus der Sammlung des Stifters Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz
Ausstellungsansicht Städels Erbe. Meisterzeichnungen aus der Sammlung des Stifters Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Große Leidenschaft und bescheidene Kennerschaft
Nach Johann Wolfgang von Goethe Wort galt Städel als »der Dekan aller hier (in Frankfurt) lebenden echten Kunstfreunde«. Die »Zeitschrift für bildende Kunst« lobte seine »große Leidenschaft« und zieh ihn »bescheidene(r) Kennerschaft«. Sein Vermögen basierte auf profitablem »Geldhandel«. »Wechselherr« nennt ihn der 2. Band der »Allgemeine(n) Schulzeitung« von 1825, die reichsstädtische Überlieferung kolportiert seine Sparsamkeit. Dass er entfernte Verwandte und seine Bediensteten testamentarisch bedachte, auch Kinder »unbemittelter Eltern ohne Unterschied des Geschlechts und der Religion« an der Städelschule zugelassen werden sollten, unterstreicht seine soziale und egalitär–bürgerliche Verfassung.
Das, was sich an den Wänden im überwölbten Erdgeschoß aneinanderreiht, scheint von allererster Qualität zu sein. In einer Auswahl von 95 Arbeiten aus der Sammlung des Museumsgründers werden von Raffael und Carracci, über Dürer und Rembrandt bis zu Watteau und Fragonard, berühmte und weniger bekannte Könner im Umgang mit Kreide, Feder und Pinsel gezeigt. Entsprechend traditioneller Sammlungstradition sind die Zeichnungen nach europäischen Schulen geordnet und werden im Begleitkatalog ausführlich besprochen. Bis dato herrschte Unklarheit über die exemplarische Zusammensetzung von Städels Zeichnungssammlung, denn ca. ein Drittel des Grundbestands ging durch Verkäufe im 19. Jahrhundert verloren und exakte Aufzeichnungen der Ein– und Ausgänge fehlen. Zudem wurde der Städelsche Zeichnungsbestand mit nachträglich erworbenen Beständen vereinigt. Dem Museum ist es aber nun dank der akribischen Forschungsarbeit eines Kenners der Handzeichnung, Joachim Jacoby, der die Ausstellung kuratiert hat, gelungen, die Sammlung des Gründers weitgehend zu rekonstruieren und rund 3000 Werke aus dem Museumsbestand zu identifizieren. Durch die systematische Erfassung des Bestands können nun Einblicke in die Sammeltätigkeit und die Konzeptionsgedanken des Stifters sowie Erkenntnisse über Kunsthandel (Paris, Amsterdam, London), Herkunft (von französischen, holländischen und flämischen, englischen und schweizerischen Sammlern), Erwerbsumstände und das Sammeln von Zeichnungen im 18. Jahrhundert gewonnen werden. Auch wurde durch Jacobys Forschungen deutlich, dass Städel dabei ein enzyklopädisches Sammelkonzept im Auge hatte, wie viele der von der Aufklärung berührten Kunstliebhaber.

Giulio Romano (1492/1499–1546) Cephalus trauert um Procris, ca. 1530 Feder auf Papier 326 × 563 mm (Blatt) Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum
Giulio Romano (1492/1499–1546) Cephalus trauert um Procris, ca. 1530 Feder auf Papier 326 × 563 mm (Blatt) Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum

Mit Kreide, Feder und Pinsel
Nach Passieren des Vestibüls beginnt der Parcours eingangs des Schauraums mit dem Paukenschlag dreier prominenter Namen: Michelangelo, Raffael, Correggio. Freilich hat man im Bestand mit allerlei Fehlzuschreibungen des Sammlers zu rechnen. Zum Beispiel der Auferstandene Christus (Inv. 3976), den Städel wahrscheinlich als Original–Michelangelo erworben hatte, ist wohl eine formatgetreue, bis in die Strichtechnik hinein perfekte Kopie der eigenhändigen Kreidezeichnung im British Museum.

Mit einem phänomenalen Blatt wird hingegen Giulio Romanos Kompositionstalent vorgestellt. Der Mitarbeiter Raffaels und Schöpfer der Fresken im Palazzo Te, Mantua, war fleißiger Rezipient antiker Mythologie. Seine braune Federzeichnung Cephalus trauert um Procris (Inv. 4336), um 1530 geschaffen und durch Weißhöhung reliefartig herausgeputzt, kam über die berühmte Jabach–Sammlung in den Besitz des Frankfurter Bankiers. Das monumentale Stück schildert in narrativem Aufzug das Drama um das ovidische Liebespaar und versammelt eine wunderliche Gesellschaft von Göttern und Halbgöttern, Theriomorphen und Tieren. Die präzise Ausführung der figurenreichen Komposition und die sorgfältige Modellierung der Gestalten lassen den Kurator »ein für sich stehendes Werk vermuten«.
Etwas weiter schaudert man vor einem kleinformatigen Entwurf (Inv. 4354) zu Christus, der einen Besessenen heilt (Lk. 8, 26 –39). Emotion pur wird dargestellt. Das fulminante Blatt, so klein, so ausdrucksvoll! Vermutlich handelt es sich um eine Vorstudie für ein Gemälde, das Salvator Rosa um 1660 gefertigt hat.

Raffael (1483–1520) Karyatide, ca. 1520 Kreide auf Büttenpapier 330 × 144 mm Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum - U. Edelmann
Raffael (1483–1520) Karyatide, ca. 1520 Kreide auf Büttenpapier 330 × 144 mm Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum - U. Edelmann

Unter den 450 Blättern in der französischen Abteilung ragen vor allem die des 18. Jahrhunderts – darunter Watteau, Boucher, Fragonard und Greuze – heraus. Doch einer aus dem 17. Jahrhundert übertrumpft sie alle: Claude Gellée, genannt Claude Lorrain, der große Lichtregisseur, dessen Landschaftsgemälde man bereits 2012 im Städel bewundern konnte. Mit seiner Landschaft mit rundem Turm und Meeresbucht (Inv. 1266), um 1637/1640 gezeichnet, bezaubert er in der Städel–Schau.

Mit den Engelsköpfen in Wolken (Inv. 1160), um 1748/1750 von François Boucher, hält himmlischer Charme Einkehr in die Hallen des Museums. Diese famose Studie in schwarzer, roter und weißer Kreide wurde für eine Geburt Christi der Hauskapelle der Königsfavoritin Madame de Pompadour gezeichnet.

Bei den deutschen Zeichnungen erwarten den Kunstfreund zwei Arbeiten von Albrecht Dürer (etwa ein Dutzend Dürer–Blätter wurden von Johann Friedrich Städel zusammengebracht). Der schöne Porträtkopf (Inv. 5433) eines jungen Mannes, der wohl um 1503/05 entstanden ist, gleicht einem Exerzitium der grafischen Darstellungskunst. Das Wesentliche ist präzise definiert, des Unwesentliche nur anskizziert. Rätselhaft, gar unverständlich kommt das kleine Kreideblatt Mann mit Löwe (Inv. 5432) von 1517 daher. Spielerei oder Bilderrätsel? Skurril, fast surreal mutet der Reiter vom Tod überfallen (Inv. 1942) von 1500/1510 an. So locker und lebendig hat sich der Apelles der Grafik zu zeichnen wohl nicht erlaubt. Auch Hans Baldung Grien, der Nacketeien–Maler, ist mit einer freizügig posierenden Lukretia (Inv. 649) in der Schau vertreten.

Mit 1500 Zeichnungen stellt das niederländische/flämische Kontingent den Hauptanteil der Sammlung. Nach Rembrandt sind es vor allem Hendrick Goltzius, Jacques de Gheyn, Abraham Bloemaert und Peter Paul Rubens. Als Glanzpunkt figuriert die Studie (Inv. 805) von Hendrick Goltzius, der 1588/89 mit schwarzer und roter Kreide vier Hände so veristisch dargestellt hat, dass der Kurator zurecht ein eigenständiges Kunstwerk mit Demonstrationscharakter dahinter vermutet. Traditionell wird sie mit der Kupferstichfolge der »Zwölf Apostel« in Zusammenhang gesehen, die Goltzius 1589 herausgebracht hatte.

Dann ist da auch noch Rubens mit einem Muskelmann. Ein Prachtstück in alter Montierung. »Pour un jugement universel« steht in brauner Feder am unteren Rand der Figurenstudie (Inv. 2834) aus dem beginnenden 17. Jahrhundert. Im Text erfährt man, dass man es mit dem gehäuteten Hl. Bartholomäus zu tun hat. Diese »Cut and paste«–Komposition konnte bislang nicht mit einem bekannten Vorhaben Rubens’ verbunden werden. Die seltsame Federüberarbeitung sowie die Anstückelungen werfen viele Fragen auf. Zu Städels Sammlung gehörten ca. 40 Blätter von und nach Rubens. Nur schade, dass die großartige schwarz–rot–weiße Brokatstudie der Frau nach rechts (Inv. 846) nach dem Großen Liebesgarten (um 1630), mit der Rubenssche Virtuosität in Kreide exemplifiziert wird, nicht ausgestellt ist.

Rembrandt Harmensz. van Rijn (1606–1669) Sitzender Greis, ca. 1630–1633 Kreide auf geripptem Büttenpapier 253 × 189 mm Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum
Rembrandt Harmensz. van Rijn (1606–1669) Sitzender Greis, ca. 1630–1633 Kreide auf geripptem Büttenpapier 253 × 189 mm Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum

Zu den Glanzleistungen der Ausstellung zählt Rembrandts Erbarmbild Sitzender Greis (ca. 1630–1633). Städel hatte das Schnäppchen (16 Gulden) aus Amsterdam bezogen. Ob der als »Trunkener Lot« für ein verlorenes Gemälde durchgehen kann, ist Spekulation. Die in seiner Rechten vermutete Trinkschale wird traditionell als Indiz dafür vorgeschoben. Schließlich fehlen die bildträchtigen Töchter, die in dem furios gezeichneten Feder–Pinsel–Blatt (Inv. 4170 Z) von Antonio Gionima heftig ans Werk gehen. Jedenfalls zeigt die fulminant gezeichnete Kreidestudie (Inv. 857) einen bärtigen alten Mann, der zusammengesunken die Beine ausgestreckt mit starrem Blick ein Bild des Jammers abgibt. Sensibles Zeichenwerk charakterisiert den Kopf des Alten, grob, mit breiten, kräftigen Strichen sind Körper und Kleidung gefasst. Stolz hat der Zeichner seine Signatur mit der Jahreszahl »1633« an prominente Stelle gesetzt.
Mit der Porträtkunst von Anton van Dyck, dem Bildnis des Hendrik van Steenwijk des Jüngeren (Inv. 791) von 1632/1635, endet der Gang durch die Frankfurter Zeichnungsschau. Johann Friedrich Städel besaß mehrere Zeichnungen der von van Dyck 1632 begonnenen Iconographie, einer Stich– /Radierungssammlung mit Porträts bedeutender Zeitgenossen. Die eigenhändige, mit schwarzer Kreide gezeichnete und grau lavierte Porträtvorlage dieses Architekturmalers wurde vom Rubens‘ Mitarbeiter Paulus Pontius gestochen. Mit dem Fingerzeig auf das leere Blatt, das Van Steenwijk in Händen hält, provoziert der Zeichner einen Dialog mit dem Betrachter. Perfektes Stilmittel zur Animation der Kataloglektüre.

Denn für den Besucher, der das Gesehene vertiefen will, empfiehlt sich der 336 Seiten starke Ausstellungskatalog, der nach Schulen und Künstlerchronologie aufgebaut ist. Er ist reich bebildert und gründlich recherchiert, historisch bestens fundiert und gut geschrieben. Die Beiträge des Kurators erhellen die Sammlungsgeschichte und informieren ausführlich über die dargestellten Zeichnungen. Ihre Lektüre bereitet nach dieser Genusstour anhaltendes Vergnügen.

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