Die Gruppenausstellung „The Myth of Normal. Vom Können und Gönnen“ beleuchtet zentrale Fragen des Verhältnisses von Körper und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der UEFA EURO 2024, die im Juni und Juli Hochleistungskörper in den sportlichen Wettkampf schickt, präsentiert der Kunstverein Hannover künstlerische Perspektiven zur Wahrnehmung und Erfahrung von Vulnerabilität, zu individuellen und kollektiven Traumata, zur Auseinandersetzung mit Schmerz, Krankheit und Therapie, zur Heilarbeit und – letztlich – Fürsorge und (Ver-)Teilung. Eine Rezension von Timo Merten.
Im September 2022 veröffentlichte der kanadische Mediziner Gabor Maté sein Buch „The Myth of Normal“, das titelgebende Werk zu einer Ausstellung, die jetzt im Kunstverein Hannover zu sehen ist. Maté beschreibt in seinem Buch, wie gesundheitliche und körperliche Normalität durch Gesellschaften konstruiert und dadurch eine Ungleichstellung und Abwertung bestimmter Körper vorgenommen werde. Der Kunstverein Hannover knüpft mit seiner Ausstellung nun an das von Maté eröffnete Feld an und zeigt Werke ausgewählter internationaler Künstler:innen, die nicht nur konstruierte Normalitäten hinterfragen, sondern ebenso auch aktuelle Diskurse der Disability Studies und Fat Studies berühren.
Schon unmittelbar vor dem Betreten der Ausstellung stoßen die Besucher:innen auf ein Werk von Peter Schloss, das wohl naheliegender nicht sein könnte. Zusammen mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen e.V. entwickelte Schloss „My Way“ (2024), ein Bodenleitsystem, welches den Weg durch die Ausstellung weist. Taktile Objekte in der Ausstellung, also solche, bei denen das Berühren oder Hinsetzen ausdrücklich erlaubt wird, werden durch die Markierungen von Peter Schloss auf dem Boden gekennzeichnet, auch auf QR-Codes, mit denen Audiodeskriptionen abrufbar sind, wird mit dem Leitsystem verwiesen. „How To Do Things With Words“ (2024) knüpft an diese Zusammenarbeit an. Schloss gestaltet großformatige Texte in Brailleschrift, die auf Brusthöhe an den Wänden angebracht sind und nur von Personen, die Braille lesen können, verständlich sind. Alle anderen Besucher:innen können demnach nicht unmittelbar erkennen, was in den Texten kommuniziert wird und sind auf übersetzende Personen angewiesen. Das Werk dreht also ganz selbstverständlich bestehende Beeinträchtigungen im Ausstellungsbesuch um und konfrontiert Besucher:innen mit ihren eigenen (Un-)Fähigkeiten, deren Normalität demnach wohl nur ein gesellschaftlicher Mythos ist. Die Werke von Peter Schloss werfen dabei immer wieder auch museumsgestalterische Fragen auf: Fühlbare Leitsysteme, Alternativtexte in Brailleschrift oder durchgehende Audiodeskriptionen sind wohl in den meisten Museen noch Mangelware. Der Kunstverein Hannover zeigt hier mit Peter Schloss und dem Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen e.V., wie es wirklich funktionieren kann – oder besser gesagt: wirklich funktionieren muss.
Im zweiten Raum des Ausstellungshauses präsentiert Julischka Stengele ihre Arbeiten. Die Installation „BALLAST | EXISTENZ“ (2020/24), die sich aus gestapelten Matratzen und abstrahierten Bettgalgen zusammensetzt, spielt mit der (post-)pandemischen Überlastung des Gesundheitssystems, nimmt aber insbesondere im Kontext mit ihrem Werk „Selbstportrait auf Winkel“ (2009/24) Bezüge zur Ermordung von sogenanntem „unwertem Leben“ im Nationalsozialismus. Stengele zeigt, auch in ihren Soundarbeiten „Das Ding“ und „Schamlos“, wie Personen mit nicht-normativen Körperformen im Gesundheitswesen diskriminiert und als Belastung für Gesellschaften definiert werden.
Finnegan Shannon transportiert diese Perspektive von Belastungen des Gesundheitswesens auch in andere öffentliche Bereiche. Sein Werk „Do you want us here or not“ beschäftigt sich mit dem Vorhandensein von Sitz- bzw. Liegeflächen, beispielsweise im musealen Kontext. Shannons Werk setzt sich dabei aus zwei blauen Möbelstücken zusammen, die Besucher:innen mit auf ihnen aufgebrachten Sätzen zum Sitzen oder Hinlegen auffordern. Ähnlich wie auch die Arbeit von Peter Schloss eröffnet auch Shannons Werk Fragen hinsichtlich der körperlichen Zugänglichkeit von Räumen, die hier insbesondere im Ausstellungsraum ihren Ausdruck finden: Bequeme Verweilmöglichkeiten und konsumfreie Pausenbereiche sollten im Museum vorhanden sein, um allen Besucher:innen einen angemessenen Aufenthalt zu ermöglichen. „Vom Können und Gönnen“, der Untertitel der Ausstellung, nimmt hier für die Gestaltung von Räumen eine zentrale Bedeutung ein und hinterfragt, besonders mit Blick auf die Bereiche abseits der Ausstellungsobjekte, museale Praxis als Spannungsfeld von Aufenthaltsqualität und Konsumorientierung.
Im abschließenden Raum eröffnet die Ausstellung mit dem Werk „Their Words / Ihre Worte“ (2019-24) von Nikita Kadan weitere aktuelle Bezüge zur Konstruktion von Normalität. Kadans Installation zeigt eine Beinprothese auf einem Podest, die – mit Mikrofon ausgestattet – vor verdunkeltem Hintergrund dem Publikum ihre Geschichte erzählt. Die Erzählung, die in ukrainischer Sprache vorgetragen wird, füllt den Raum, eine Tafel ermöglicht aber auch allen Personen, die kein Ukrainisch sprechen, das Mitlesen des Berichts, der von dem Verlust eines Beines durch eine Mine, den folgenden Operationen, Schmerzen, der Schmerzlinderung durch Cannabis und der dazu gehörenden Stigmatisierung berichtet.
Der Kunstverein Hannover hinterfragt mit seiner aktuellen Ausstellung Konstruktionen von Normalität und dessen gesellschaftliche Auswirkungen. Als offizieller Beitrag zum Kunst- und Kulturprogramm der Fußball-Europameisterschaft in diesem Sommer werden Diskurse um körperliche und mentale Gesundheit ermöglicht und in unterschiedlichen Formen künstlerisch aufgegriffen. Parallel zur Ausstellung in Hannover, die noch bis Mitte Juli zu sehen ist, zeigt der Salzburger Kunstverein „The Myth of Normal. Chronische Widersprüche“ (09.05 – 30.06.2024), gemeinsame Performances unter dem Titel „When the Body Says Yes (Or Maybe)“ runden das Ausstellungsprogramm beider Kunstvereine ab.
Titel: The Myth of Normal. Vom Können und Gönnen
Kunstverein Hannover
Mit: Panteha Abareshi, Manuela Bolegue, Jeamin Cha, Emilie L. Gossiaux, Itamar Gov, Nikita Kadan, Marcos Lutyens, Berenice Olmedo, Perel, Benoît Piéron, Peter Schloss, Finnegan Shannon, Julischka Stengele, Imogen Stidworthy
04.05. – 14.07.2024
Parallel dazu im Salzburger Kunstverein: The Myth of Normal. Chronische Widersprüche. Mit: Cat Chong, Jeamin Cha, Itamar Gov, Perel, Benoit Piéron, Marianna Rodziewicz, Finnegan Shannon, Anastasia Sosunove, Julischka Stengele, Imogen Stidworthy & Julia Zöhrer
09.05 – 30.06.2024