Die 10. Ausgabe der erfolgreichen Kunstausstellung wagt eine bisher eher ungewöhnliche Perspektive auf die Welt. An fünf Ausstellungsorten in ganz Berlin werden Helden vom Sockel gestoßen und die westlichen Werte einer besonders kritischen Betrachtung unterzogen. Das ist heilsam, denn es gelingt den Künstlern, wichtige Bedingungen für das friedliche Zusammenleben in einer globalisierten Welt anzusprechen. Susanne Braun hat aus dem reichhaltigen Angebot ein paar Eindrücke mitgebracht.
Vor der Akademie der Künste steht eine Ruine. Man muss durch sie hindurch laufen, um in das Gebäude zu gelangen. Die Ruine ist schön, fast ein bisschen zu schön. Die runden, mit Mauerwerk verzierten Torbögen, die kunstvoll bemalten Wände, die an einigen rissigen Stellen die darunterliegenden roten Steine der Mauer zum Vorschein bringen, wirken täuschend echt und authentisch. Die in dunkelblauem Grundton gestalteten Wände erinnern ein wenig an das Ischtar-Tor aus dem 6. Jahrhundert v.Chr., das eine der Hauptattraktionen des Berliner Pergamon-Museums ist. Und tatsächlich: Klopft man an die vermeintlich starken Mauern, klingt es hohl.
Insgesamt könnte der Kontrast zur brutalistischen Architektur von Werner Düttmann aus den 1950er Jahren, die das Gebäude der Akademie der Künste am Hanseatenweg formt, kaum größer sein. Die Ruine, so lässt sich erfahren, ist ein Nachbau. Ihr Aussehen soll gleichermaßen inspiriert sein von der Potsdamer Sommerresidenz des preußischen Königs Friedrich II. und dem Palais Sans-Souci, das König Henri Christophe in Anlehnung an die preußische Sommerresidenz von 1810 bis 1830 auf Haiti hat bauen lassen. Außerdem spielt das Bauwerk auf den gleichnamigen haitianischen Revolutionär namens Oberst Jean-Baptiste Sans-Souci an, der 1791 Guerillatruppen in den Kampf gegen die Kolonialmacht führte. 1969 gegründet, ist die Akademie der Künste eine der ältesten Kulturinstitutionen Europas. Bis heute steht sie in der Tradition der Aufklärung und eben jener Zeit, die nicht nur in Europa, sondern auch an anderen Stellen der Welt grundlegende gesellschaftliche Umbrüche in Gang gesetzt hat. Die hier angedeuteten Zusammenhänge lassen sich als ein frühes Beispiel der Globalisierung verstehen.
Die Ausstellung im Inneren der Akademie der Künste legt dann den Akzent nicht mehr auf eine möglichst makellose Imitation westlicher Vorbilder. Bei den Gemälden und Skulpturen sind oft sichtbare Spuren des Gestaltungsprozesses zu finden. Das Gemälde »Wait for me in the lurking landscape« etwa, das Herman Mbamba aus Namibia in den Jahren 2017 bis 2018 aus Acryl- und Ölfarbe auf Leinwand geschaffen hat, macht Pinselstriche und Entwicklungen in der Komposition sichtbar. Das farbenfrohe Gemälde ist aus unterschiedlichen Formen aufgebaut, von denen keine der anderen gleicht und die doch in einander greifen und sich überlappen. Zerbrechliche und filigrane Materialien aus der Natur wie Blätter oder Samen rückt Ana Mendieta (1948-1985) ins Zentrum ihrer Malerei. Die Arbeiten der in den Vereinigten Staaten lebenden Exilkubanerin stammen aus den 1980er Jahren. Agnieszka Brzezanska Bild »Interdemeinsional MERCENARIES« aus dem Jahr 2014 macht Gewalt offen zum Thema. Lodernde Flammen und eine tiefschwarze Rauchwolke werden weitestgehend von einer geometrischen Konstruktion verdeckt, die entfernt an ein Fadenkreuz erinnert.
In dem Parcours der Ausstellung gibt es in vielen Ecken und Nischen etwas Neues zu entdecken. Beispielsweise die nach traditioneller Art geflochtene Fischfalle aus Gouadeloupe, die den Schatten ihrer strengen Geometrie an Boden und Wand wirft. Die Künstlerin Minia Biabiany hat nur mit großer Mühe jemanden auf der unter europäischer Verwaltung stehenden Karibik-Insel finden können, der diese uralte Technik des Bambusflechtens noch beherrscht. In der Nähe der Reuse sind ältere Menschen zu hören, die ein fast vergessenes traditionelles Lied singen. Außerdem ist in einem Video ein Kinderspielzeug zu sehen, das in dem Lied besungen wird. Die westlich erzogenen Kinder auf Gouadeloupe kennen dieses Spielzeug und das Lied heute nicht mehr, genauso wie sie die traditionelle Art des Fischfangs nicht mehr beherrschen. Dennoch sind diese Traditionen Teil ihrer Geschichte und haben das Überleben in dieser Gegend für lange Zeit möglich gemacht.
Ein Höhepunkt der gesamten Ausstellung ist das Video »Again / Noch einmal« von Mario Pfeifer. Der Film stammt aus dem Jahr 2018 und dokumentiert die Ereignisse, die zum Tod eines Asylbewerbers aus dem Irak führen. Das Fazit des Films formuliert ein Verwandter des Toten: Er habe sich nicht vorstellen können, dass so etwas in einem Land wie Deutschland passieren könne. Ein Land, von dem es heiße, dass es die Menschenrechte hoch achte und deswegen vielen als ein Vorbild gelte.
An der vermeintlichen Überlegenheit der westlichen Kultur wird auch im Zentrum für Kunst und Urbanistik ZK/U gerüttelt. Die Zeichnungen von Tessa Mars setzen den kampfbereiten weiblichen Körper in Szene. Phantasievoll mit Messern, Hörnern und einer Art Schuppenpanzer gestählt, lauern die Frauen auf einen unsichtbaren Gegner. Doch gerade das enthüllt die Verletzlichkeit der überwiegend mit zartem Bleistift gezeichneten Frauenkörper in besonders deutlicher Weise.
Moralisch fragwürdige Allianzen im Freiheitskampf gegen die Kolonialmacht deckt die aus Indien stammende Künstlerin, Lichtdesignerin und Theaterregisseurin Zuleikha Chaudhari auf. Einen Raum der Ausstellung hat sie mit authentischen Accessoires ausgestattet und so die Umgebung nachempfunden, aus der einer der Führer des indischen Unabhängigkeitskampfs seine Radioansprachen produziert hat. In den 1940er Jahren war Subhas Chandra Bose eine Weile in Nazi-Deutschland zu Gast. Die Nazis waren bereit, seinen Freiheitskampf zu unterstützten und haben ihm die Möglichkeit gegeben, ein Radioprogramm zu produzieren, das nach Indien gesendet worden ist.
Im Erdgeschoss stellt Tony Cokes Zusammenhänge zwischen Musik und Protestbewegungen wie den Aufständen in Watts, Boston, Newark und Detroit im August 1965 her. Ein Dokumentarfilm geht auf die Geschehnisse von damals ein und erläutert in diesem Zusammenhang das Potential der Musik, Massenbewegungen zu entfachen und zu unterstützen. Während dessen fungieren mehrere alte Röhrenfernseher, die im ganzen Raum verteilt sind, als Protestbanner. Statements aus weißen Buchstaben auf farbigem Untergrund flimmern über die Bildschirme und deuten Parallelen zwischen damals und heute an.
Es sind insgesamt fünf über die ganze Stadt verteilte Orte, die Ausstellungen, Performances, Konzerte und Workshops der 10. Berlin Biennale beherbergen: die Akademie der Künste am Tiergarten, das Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U) am Westhafen, das Hebbel am Ufer (HAU) in Kreuzberg, das KW Institute for Contemporary Art in der Auguststraße in Mitte sowie der Volksbühne Pavillon am Rosa-Luxemburg-Platz. Ständige Ausstellungen sind vor allen Dingen in der Akademie der Künste, dem ZK/U und im KW Institute for Contemporary Art zu sehen. Im HAU und dem Volksbühne Pavillon finden vor allen Dingen regelmäßige Live-Veranstaltungen statt.
Dabei atmen auch manche Teile der Ausstellung im KW Institute for Contemporary Art etwas von dem Charakter eines Happenings oder einer Live-Performance. In einem Raum voller zertrümmerter Steine und anderem Bauschutt wird der Weg eines politisch aktiven Künstlers in den Wahnsinn nachgezeichnet. Videoaufnahmen und Installationen in wenigen Teilen des Raums erinnern an vorherige geordnete Verhältnisse und die politischen Ziele des Betreffenden. Während dessen tropft Wasser langsam, aber stetig, in die am Rand stehenden Behältnisse. Vermutlich solange, bis irgendwann der berühmte Tropfen kommt und eines der Fässer zum Überlaufen bringen wird.
Während dessen wird in einem anderen Teil des KW Institute for Contemporary Art eine Inszenierung des Ödipus-Stoffs gezeigt. Hier wird diese laut Sigmund Freud so grundlegende Konstellation für das soziale Gefüge der Menschen rein virtuell auf Videoleinwand gezeigt. Der weiße Hintergrund der Bühne kommt fast ohne Requisiten aus und wirkt ausgesprochen neutral. Und dennoch verweisen die wenigen Accessoires und die dunkelhäutigen Darsteller deutlich auf Elemente aus der westlichen wie auch anderen Kulturen.
Die aus Südafrika stammende Kuratorin, Gabi Ngcobo, und ihr Team verorten den politischen Anspruch der 10. Berlin Biennale in der direkten Nachfolge der südafrikanischen Studentenbewegungen #RHODESMUSTFALL und #FEESMUSTFALL aus dem Jahr 2015. Ziel der Proteste war, das Bildungssystem vom Einfluss der ehemaligen Kolonialmächte zu befreien und es, unabhängig vom Einkommen, für jeden zugänglich zu halten. Unter dem Motto »We don’t need another hero« unterzieht die 10. Berlin Biennale den Überlegenheitsanspruch der westlichen Kultur einer deutlich kritischen Betrachtung. Damit folgen sie auch dem Anspruch, die Beziehungen in einer globalisierten Welt von ihrer imperialistischen Geschichte zu befreien und zum Wohle aller neu zu verhandeln, wie es etwa der Oxford-Professor Timothy Garton Ash in seinem Buch »Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt« fordert. Die alten Vorbilder, männlich wie weiblich, werden von ihren idealisierenden Sockeln gestoßen und einer meist respektvollen, aber kritischen Betrachtung unterzogen. Ihnen folgen keine neuen Helden, die Sockel bleiben leer. Es geht Ngcobo um »Das Auflösen und Neukonfigurieren von jahrhundertelang unterdrückten Vokabularien und derer Komplexitäten«, wie sie im sehr lesenswerten Katalog zur Ausstellung schreibt. Statt dessen hofft sie, eine »Plattform für kollektives Träumen und Handeln« zu schaffen, die es ermöglicht »dem kollektiven Wahnsinn zu begegnen«. Das ist der Kuratorin und ihrem Team gelungen.
Gabi Ngcobo, Yvette Mutumba (Hg.)
10. Berlin Biennale: Katalog
DISTANZ Verlag, ISBN 978-3-95476-155-5, Ladenpreis 25,00 €
Timothy Garton Ash
Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt
Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-24494-8, Ladenpreis 28,00 €