Es ist 12.51 Uhr, als die Erde in Christchurch bebt. An und für sich nichts Außergewöhnliches, denn in der Canterbury Region wackelt die Erde oft mehrmals täglich, allerdings selten spürbar. Doch an diesem Dienstag im Februar 2011 verändert sich die Stadt und mit ihr das tägliche Leben, auch die Kunst- und Kulturszene. Was es an Kunst und Kultur im öffentlichen Raum fünf Jahre nach dem Erdbeben zu sehen gibt, davon erzählt Berenike Knoblich.
Das Beben der Stärke 6,3 zerstört das Wahrzeichen der damals 360.000 Einwohnerstadt auf der Südinsel Neuseelands: Die Christchurch Cathedral. Wie durch ein Wunder kommt niemand zu Schaden, als Teile des Kirchturms einstürzen. Wenige Straßen weiter ereignet sich die größte Tragödie des Erdbebens: Das Gebäude des Fernsehsenders Canterbury TV hält dem Beben nicht stand und stürzt ein. 115 Menschen verlieren dort ihr Leben, insgesamt gilt es 185 Opfer zu beklagen. Wie nun umgehen mit dem Verlust so vieler Menschen? Wie verbildlicht man ihre Abwesenheit? Entscheidet man sich für eine Gedenktafel auf der alle Namen gelistet werden ohne jeglichen individuellen Bezug?
Der neuseeländische Künstler Pete Majendie entschied sich für eine Installation der anderen Art und nennt sie »185 empty white chairs«. Zu sehen ist genau das: 185 weiße leere Stühle wie in einem Klassenzimmer neben- und hintereinander aufgestellt auf 185m². Majendie ließ sie am ersten Jahrestag des Erdbebens dort aufstellen, wo ein Jahr zuvor noch eine Baptistenkirche stand. Aber es sind nicht irgendwelche Stühle die hier zu sehen sind. Jeder von ihnen ist anders und keiner gleicht dem anderen. Der große Ledersessel steht neben einem klassischen Gestell aus Holz. Der Barhocker neben dem Stuhl aus geflochtenem Bast. Die rückenschonende Sitzgelegenheit neben dem Rollstuhl. Der drehbare Bürostuhl neben der Babyschale. Diese Installation verkörpert und verbildlicht die Abwesenheit der Menschen mehr als alles andere. Es ist im Grunde genommen das Bild eines leeren Stuhls, mit dem sich die Hinterbliebenen kurze Zeit nach dem Erdbeben auseinandersetzen mussten. Der Ausdruck dieser Ohnmacht und Leere wurde von Pete Majendie in den öffentlichen Raum geholt, für jedermann sichtbar. Jeder, der hier entlangkommt, wird damit konfrontiert. Der Schmerz einzelner wird durch diese Installation zum Schmerz aller. Auch heute, mehr als fünf Jahre nach dem Beben, wird Majendies Werk täglich besucht. Die Betrachter verweilen vor den Stühlen, laufen durch die Reihen oder setzen sich. Das ist durchaus gewollt: Majendie fordert die Betrachter auf, sich einen Stuhl auszusuchen, sich niederzulassen und zu verweilen. Beim Platznehmen wird einem bewusst, dass einer dieser Stühle auch für einen selbst hätte stehen können.
Leere Stühle als Zeichen der Erinnerung oder Mahnung zu verwenden ist keine neue Erfindung. Nach dem schweren Bombenanschlag in Oklahoma 1995, bei dem 168 Menschen ihr Leben verloren, wurde dort, wo einst das Murrah-Gebäude stand, ein Feld leerer Stühle aufgestellt. Im Gegensatz zum Denkmal in Christchurch, wurden dort die Namen der Opfer in die Stühle eingraviert. Im Dezember 2005 wurde in Krakau ein Denkmal für die Opfer des Ghettos errichtet, bei dem es sich ebenfalls um leere Stühle handelt. Die 70 großen Stühle stehen hierbei die Tragödie der Juden, von denen nichts weiter als Möbel übrig geblieben sind.
Infolge des Erdbebens wurden und werden immer noch viele Gebäude abgerissen, um- und neugebaut. Das liegt unter anderem auch an dem sandigen Boden, auf dem die Stadt in Küstennähe entstanden ist. Bereits durch ein Beben im September 2010 kam es zu Schäden. Vor allem durch die Erschütterungen im Februar 2011 kam es aber zu einer Bodenverflüssigung, sodass die darauf stehenden Gebäude gewissermaßen abgesunken sind. Im Osten Christchurchs befindet sich das sogenannte »red zone land«, das besonders stark betroffen ist. Hier wurden in den vergangenen Jahren über 7000 Wohnhäuser abgerissen. Durch die vielen Freiflächen in der Innenstadt haben sich für die Kunst im öffentlichen Raum völlig neue Möglichkeiten eröffent. Eine davon ist »Gap Filler«. Die Organisation gründete sich kurz nach dem Erdbeben 2010 und verstärkte ihre Arbeit im Februar 2011. Sie bezeichnet sich selbst als kreativ-urbane Aufarbeitungsgruppe, die die vielen Freiflächen in der Stadt für kreative Projekte nutzt. »Gap Filler« füllt im wahrsten Sinne des Wortes Lücken mit Kunst und Kultur. Dabei setzt die Organisation ganz bewusst auf Ideen und Vorschläge aus der Bevölkerung. Die Stadt, die teilweise an eine riesengroße Baustelle erinnert, soll wieder bunt und lebenswert sein. »Gap Filler« fungiert dabei als Vermittlergruppe zwischen Künstlern, Architekten, Landschaftsgärtnern und allen anderen Interessenten, die das Stadtbild verschönern wollen, indem sie sich um die bürokratischen Genehmigungen und die damit einhergehenden Hürden kümmert. Es geht dabei vor allem darum, die Bewohner an der Gestaltung ihrer Stadt teilhaben zu lassen und sie nicht darauf warten zu lassen, dass »die Großen« ihre Arbeit machen. So entstand im November 2010 das erste Projekt an einer leeren Stelle bei der Colombo Street: Es wurde ein Gartencafé eröffnet, eine Hauswand diente als Leinwand für Freiluftkino, es gab Live-Musik und die Möglichkeit Petanque zu spielen. Seitdem gibt es in regelmäßigen Abständen immer neue Aktionen. So wurde 2011 beispielsweise eine Ausstellung des deutschen Fotografen Peter Koppelkamm an einer Hauswand beim Worcester Boulevard gezeigt. Für »Ortszeit« begab sich Koppelkamm nach dem Mauerfall und noch vor der Wiedervereinigung in ostdeutsche Städte, um fotografisch das festzuhalten, von dem er wusste, dass es nie wieder so sein wird. Einige Jahre danach besuchte er diese Plätze und Häuser erneut. Für die Menschen in Christchurch war diese kleine Ausstellung besonders, da sie selbst in einer Stadt der ständigen Neugestaltung und Veränderung leben.
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[1] Vgl. Kochanowska, Róza: Krakau – Denkmal aus Stühlen auf dem Platz der Ghettohelden: www.erinnerungsorte.org/karte-polen/mpc/Memorial/mpa/pdf/mp-place/krakow-krzesla-pomniki-na-placu-bohaterow-getta/
Und heute? Überall in der Stadt sind die »Lückenfüller« zu finden. An derzeit vier verschiedenen Stellen kann kostenlos Minigolf gespielt werden. Auf Tafeln an den Minigolfplätzen wird auf die damaligen Gebäude verwiesen. So bleiben sie einerseits im Gedächtnis der Bewohner und geben Besuchern oder Neuankömmlingen andererseits einen Einblick in das frühere Stadtbild. In der Gloucester Street steht der Dance-o-Mat, eine münzbetriebene Waschmaschine, die zu einer Musikbox umgewandelt wurde. Hier kann jeder sein Handy oder den mp3-Player anschließen, 2$ einwerfen und den Platz beschallen – und dazu tanzen! Ob Breakdance, Salsa oder Flamenco, von 8 bis 22 Uhr darf und soll hier getanzt werden. Christchurch soll wieder laut werden, Christchurch soll wieder Spaß machen. In der Peterborough Street findet man seit 2015 den Klanggarten, der von Jonathan Hall von der Stiftung »Greening the Rubble« entworfen und von »Gap Filler« unterstützt wurde. Aus alten Betonrohren und Feuerlöschern wurden riesige Trommeln und Xylophone gebaut, auf denen jeder, der mag, spielen kann. Die Idee zu »Greening the Rubble« (dt. den Schutt begrünen) entstand ebenfalls nach dem verheerenden Erdbeben von 2011. Vakante Plätze der Stadt sollen durch temporäre Gärten ersetzt werden: Ein positives, grünes Zeichen der Genesung zu setzen, das ist das Motto der Stiftung. An der Ecke Kilmore Street/Barbadoes Street kann man seit vergangenem Jahr in der »Kräuterapotheke« verweilen. In dem kleinen Gartern wurden Wildpflanzen und Heilkräuter gepflanzt, an denen sich jeder bedienen darf. Bänke sowie ein Bücherschrank laden zum Verweilen ein.
Auch die Organisation »Scape Public Art« verhilft dem Stadtbild wieder dazu, lebendiger und bunter zu werden. Die Installation »Tree Houses for Swamp Dwellers« der neuseeländischen Künstlerin Julia Morison war das erste Werk, das nach den Erdbeben durch »Scape Public Art« 2013 im Stadtzentrum an der Ecke Colombo/Gloucester Street im Rahmen der Christchurch Biennale aufgestellt wurde und bis heute dort zu sehen ist. Die Arbeit besteht aus zehn drei Meter hohen hexagonalen Holzrahmen, die zunächst wie Hütten aussehen. Beim genaueren Hinsehen fällt jedoch auf, dass die Stäbe aus Glasfaser als Baldachine von Bäumen fungieren. Bei Dunkelheit leuchten sie in verschiedenen Farben und tauchen den leeren Platz neben dem Dance-O-Mat in eine besondere Atmosphäre. Bevor die europäischen Siedler in den 1850er Jahren nach Neuseeland kamen, bestand die Gegend aus Sumpflandschaft. Wie eingangs bereits erwähnt wurde, sind die vielen Abrisse vor allem dem sandigen Boden der Stadt zu verdanken. Früher wuchs dort auch der Kahikatea Baum, an den die Installation erinnern soll. Die Künstlerin lädt Besucher ein, die Baumhäuser zu erkunden, sich dort niederzulassen, auszuruhen und sich zurückzuziehen. Und sollte der Platz einmal wieder bebaut werden, lässt sich das Werk problemlos woanders aufstellen. Morisons Installation gehört auch 2016 zum »Scape Public Art« Spaziergang den man entweder allein oder anhand einer Führung genießen kann. Er führt an über 20 Plastiken und Installationen entlang, die von nationalen und internationalen Künstlern geschaffen wurden – und unterschiedlicher nicht sein können.
Wer heute, über fünf Jahre nach dem verherrenden Erdbeben, durch die Straßen von Christchurch läuft, sieht eine Stadt im Wandel. Überall wird gebaut, weswegen Christchurch auch zeitweise als »Stadt der Kräne« bezeichnet wurde. Doch wer genau hinsieht, dem fallen die vielen kleinen (und auch großen) Lichtblicke auf, die davon zeugen, dass die Menschen ihre Stadt lieben und gestalten: Anstelle von langweiligen Verkehrskegeln werden seit 2014 beispielsweise an der Ecke Manchester Street Schafe aus Kunststoff eingesetzt. Der deutsche Designer Christophe Machet entwarf die kleinen Plastiken, die neben ihrer eigentlichen Funktion auch als alternative Sitzgelegenheiten genutzt werden können, was vor allem bei Kindern sehr beliebt ist. Besonders prägend ist auch die Street Art, denn an riesigen Hauswänden mangelt es nicht. Zwar werden durch den fortwährenden Abriss auch Graffitis zerstört, doch einige können bleiben. Der französische Street Art Künstler Tilt hat im vergangenen Jahr die Rückseite eines Pubs mit drei eindrucksvollen Lippen verschönert. Das Werk zählt inzwischen zu einer der Ikonen der Stadt. Die Vielzahl der Wandbilder kann einen ganz eigenen Bericht füllen.
Christchurch, die sich stetig entwickelnde Stadt, ist für Kunst- und Kulturinteressierte definitiv einen mehrtägigen Besuch wert. Mit Hilfe verschiedener Stadtpläne, die auf Street Art oder die Werke im Rahmen der »Scape Public Art« ausgelegt sind, können wunderbare Spaziergänge kreiert werden. Wer zum ersten Mal durch Christchurch läuft, der wird aufgrund der sichtbaren Erdbebenschäden zunächst schockiert und betroffen sein: Die Ruine, die früher mal die Kathedrale war, die vernagelten Geschäfte in der Innenstadt. Doch man wird schnell die vielen kleinen und großen wundervollen »Lückenfüller« sehen, die wie Pflaster bei einer Wunde zur Heilung verhelfen. Christchurch ist ein Beispiel dafür, dass es mit Hilfe von künstlerischen Initiativen möglich ist, in ein Leben und einen Alltag »danach« zurückzufinden und eine Stadt wiederzubeleben.