Kataloge, Rezensionen

Wolfgang Urban (Hg.): Meisterwerke der Spätgotik. Bildwerk und Bedeutung, Thorbecke 2010

Dieser ansprechende Band erschien anlässlich einer Sonderausstellung des Diözesanmuseums Rottenburg. Präsentiert wurden siebzehn Skulpturen des Spätmittelalters, die dem Museum als Schenkung des Pfarrers und Kunstsammlers Roland Schweizer übereignet worden waren. Franz Siepe hat den Katalog für PKG gelesen.

Straßburger Frari-Meister von 1468: Madonna mit Kind, um 1470/80 © Foto: Wolf-Dieter Gericke Jörg Lederer: Christus auf dem Palmesel, um 1520 © Foto: Wolf-Dieter Gericke Württembergisch Franken: Christus am Ölberg, um 1450 © Foto: Wolf-Dieter Gericke Michel Erhart: Schmerzensmann, um 1470 © Foto: Wolf-Dieter Gericke
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Wenngleich es sich bei den Werken der Sammlung Roland Schweizer um Hervorbringungen von Meistern mit nicht unbedingt jedermann bekanntem Namen handelt, wird man nicht zögern, ihnen durchwegs Hochrangigkeit zu attestieren. Die Objekte sind fast sämtlich süddeutscher Provenienz und entstammen Zentren des damaligen Kunstschaffens wie Ulm, Nürnberg, Kaufbeuren oder Oberrhein.

Das vorliegende Buch bezieht seine spezielle Qualität indes nicht allein aus der Überzeugungskraft der – vom Fotografen Wolf-Dieter Gericke sachlich und zugleich empathisch eingefangenen – Sakralskulpturen, sondern ebenso auch aus seiner didaktischen Konzeption: Zunächst wird der Erhaltungszustand des einzelnen Exponats gründlich dokumentiert. Sodann gibt es profunde Auskünfte über Werk und Vita des jeweiligen Künstlers. Die wirkliche Besonderheit aber ist in den Bildbeschreibungen aus der Feder von Melanie Prange und Diözesankonservator Wolfgang Urban zu sehen.

Aus diesen Texten sprechen die souveräne Kenntnis der jeweiligen kunsthistorischen, theologischen, liturgischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexte sowie der methodologische Entschluss, den zeitgeschichtlichen Entstehungshorizont des jeweiligen Werks verstehend zu erschließen. Mit Blick auf das vom Straßburger Frari-Meister (einem Mitarbeiter Niklaus Gerhaerts) um 1475 geschaffene Stuckrelief »Madonna mit Kind« liest man beispielsweise: »Die in Maria verkörperte Schönheit, so die tiefere theologisch-ikonographische Bedeutung, ist als Makellosigkeit nicht nur Zeichen der Sündelosigkeit und Reinheit der Jungfrau und Gottesmutter Maria, sie ist zugleich Ausdruck der Gegenwart des Guten, Wahren und Schönen des von Gott geschaffenen Seins, ist Vor-Schein des Ewigen und Göttlichen.«

Kunstgeschichtlich ist das Relief des Frari-Meisters insofern von herausgehobener Bedeutung, als sich in dieser grazilen Arbeit die skulpturale Produktion der oberrheinisch-niederländischen Spätgotik mit der der italienischen Renaissance verschmilzt.

Ein weiteres Glanzstück der Sammlung Roland Schweizer ist der »Christus auf dem Palmesel«, um 1520 geschnitzt vom Kaufbeurener Jörg Lederer. Das Bildmotiv geht zurück auf den von den Evangelisten berichteten Einzug des Herrn in Jerusalem vor seinem Leiden am »Palmsonntag«. Lederers Palmesel-Skulptur ist wegen der Natürlichkeit ihrer Gegenstandsauffassung, besonders im hoheitsvoll-entschlossenen Gesichtsausdruck Christi, bereits der Renaissance zuzurechnen. Das fast lebensgroße Schnitzwerk gehört daher zu den jüngeren Stücken der Sammlung.

Offenbar hatte Pfarrer Schweizer eine sehr innige Beziehung zur Passionsgeschichte. Ein anonymes kleinformatiges Alabaster-Relief (um 1450) »Christus am Ölberg« stellt den knienden Gottes- und Menschensohn dar, wie er in unsagbarer Todesangst zum Vater betet. Das Antlitz mit dem leidensgeöffneten Munde erzwang geradezu das Mitleiden (compassio) des andächtigen Betrachters, der es nicht den in der unteren Bildzone schlafenden Aposteln gleichtun sollte. Ölbergszenen wie diese waren in der mittelalterlichen Volksfömmigkeitskultur ein weitverbreitetes Thema der bildenden Kunst. Und wie im Buch zu erfahren ist, gab es sogar »Todesangst-Christi-Bruderschaften«.

Vom Ulmer Bildhauer Michel Erhart stammt eine andere Mitleid erregende Figur: der »Schmerzensmann«, eine Holzschnitz-Arbeit von um 1470. Der dornengekrönte und verhöhnte Christus umgreift mit der nageldurchbohrten Rechten seine klaffende Seitenwunde und sieht mit unendlich traurigem Leidensblick in die Leere. Michel Erhart hat, so sieht es Wolfgang Urban, diesem Schmerzensmann »die Spannung von Erniedrigung und Größe [...] mitgegeben«.

Wie gesagt, insgesamt siebzehn plastische Bildwerke der Zeit des Übergangs vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit umfasst die Sammlung Roland Schweizer. Das mag sich von der Quantität her bescheiden ausnehmen, ist aber vom inhaltlichen Gewicht her fraglos bedeutend. Nach der Lektüre und dem Betrachten des besprochenen Bandes wird kaum jemand achtlos an der Neckarstadt Rottenburg mit ihrem Diözesanmuseum vorbeifahren wollen.

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