Ausstellungsbesprechungen

Ziemlich beste Freunde - Hans Thuar & August Macke. Museum August Macke Haus, Bonn, bis 19. November

August Macke ist zweifellos die zentrale Gestalt der sogenannten Rheinischen Expressionisten – keine Künstlergruppe im streng soziologischen Sinne, aber ein Netzwerk Gleichgesinnter mit ähnlichen Formvorstellungen und Gestaltungskonzepten, die sich bei allen individuellen Unterschieden als „expressionistisch“ subsumieren lassen. Zu diesen Künstlern gehörte auch Hans Thuar, ein Maler gleichsam in der zweiten Reihe, den eine enge Freundschaft mit August Macke verband und dem das Museum August Macke Haus in Bonn eine Ausstellung widmet, die sein Werk zu jenem des berühmten Freundes in Beziehung setzt. Rainer K. Wick hat die Ausstellung besucht und den Katalog mit Gewinn gelesen.

links: Hans Thuar, um 1914, Nachlass Hans Thuar; rechts: August Macke, um 1905, Museum August Macke Haus
links: Hans Thuar, um 1914, Nachlass Hans Thuar; rechts: August Macke, um 1905, Museum August Macke Haus

Der Titel der Ausstellung lässt aufmerken: „Ziemlich beste Freunde“. Wer denkt da nicht reflexartig an den gleichnamigen französischen Spielfilm des Jahres 2011, an jene anrührende Tragikomödie, die von der freundschaftlichen Beziehung des reichen Pariser Querschnittgelähmten Philippe mit seiner senegalesischen Pflegekraft Driss erzählt? Ähnlich wie im Film (dessen Originaltitel übrigens „Intouchables“ lautet), in dem der Betreuer Driss dem Patienten Philippe neuen Lebensmut gibt, so war es der zwölfjährige August Macke, der sich intensiv um seinem kaum jüngeren Kölner Jugendfreund Hans Thuar kümmerte, nachdem dieser am 12. Mai 1899 durch einen tragischen Straßenbahnunfall beide Beine verloren hatte. Im Krankenhaus erhielt Thuar fast täglich Besuch von Macke, der ihn aufzuheitern verstand und ihn durch gemeinsames Zeichnen, später auch durch gemeinsame Malversuche, das Elend seiner Behinderung zeitweise vergessen ließ: „Ohne August wäre ich nicht am Leben geblieben“. Obwohl August Macke schon ein Jahr später mit seiner Familie von Köln nach Bonn umzog, riss der Kontakt zwischen den Freunden nicht ab – sei es, dass regelmäßig Briefe gewechselt wurden, sei es, dass August den Freund in Köln besuchte.

links: August Macke, Porträt Hans Thuar, 1903, Kunstmuseum Bonn; rechts: Hans Thuar, Selbstbildnis, um1908/09, Foto Rainer K. Wick
links: August Macke, Porträt Hans Thuar, 1903, Kunstmuseum Bonn; rechts: Hans Thuar, Selbstbildnis, um1908/09, Foto Rainer K. Wick

Damals reifte in beiden der Entschluss, Maler zu werden. So studierte Macke von 1904 bis 1906 an der Düsseldorfer Kunstakademie, gefolgt von Thuar, der, bedingt durch seine Behinderung, erst zeitversetzt in den Jahren 1907 und 1908 zum Studium nach Düsseldorf kam. Letztlich standen allerdings beide dem traditionellen Akademiebetrieb ablehnend gegenüber und teilten sinngemäß die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich zuspitzende Akademiekritik, wie sie etwa Max Liebermann treffend formuliert hat: „An und für sich ist ‚akademisch‘ kein Schimpfwort. [...] Aber allmählich [...] ist es dahin gekommen, daß kein Künstler, der sich einigermaßen respektiert, ein akademischer genannt werden will; obgleich eigentlich ein jeder es ist, oder es doch sein sollte. Jetzt heißt akademisch: zopfig.“ Andere brandmarkten die Akademien als Stätten, an denen die „Jungen zur masturbatorischen Imitation klassischer Modelle“ gezwungen werden oder als „Leichenhallen“, in deren „kalten Räumen [...] nur Tote“ seien und in die kein „Hauch der Außenwelt“ eindringe.

links: Hans Thuar, Dorfstraße, 1911, Foto A. Hartmann; rechts: August Macke, Straße mit Fuhrwerk, 1911, Foto Rainer K. Wick
links: Hans Thuar, Dorfstraße, 1911, Foto A. Hartmann; rechts: August Macke, Straße mit Fuhrwerk, 1911, Foto Rainer K. Wick

Enttäuscht vom Akademiebetrieb setzte Macke seine Studien bei dem deutschen Impressionisten Lovis Corinth in Berlin fort und empfing dann vor allem in Paris durch die französische Moderne maßgebliche Anregungen. Derartige Primärerfahrungen blieben Hans Thuar vorläufig versagt, da ihm das Reisen infolge seiner unfallbedingt eingeschränkten Mobilität kaum möglich war. Gleichwohl war es der Freund August, ein Netzwerker ersten Ranges, der Hans im Hinblick auf die damals neuesten Entwicklungen in der bildenden Kunst regelmäßig auf dem Laufenden hielt und ihm so den Anschluss an die Avantgarde ermöglichte. Thuars frühes Selbstbildnis von 1909 lässt noch den Einfluss des Impressionismus erkennen, um 1911 – mit dem Umzug von Köln nach Bonn – begann dann die erste produktive Schaffensphase des Künstlers, die stark durch den französischen Fauvismus und die Nähe zu Macke geprägt war. 1912 und 1913 beteiligte sich Hans Thuar an den Ausstellungen der Cölner Secession, 1912 nahm er auch an der legendären Kölner Sonderbund-Ausstellung am Aachener Tor teil, 1913 zeigte er seine Bilder in der von Macke organisierten „Ausstellung Rheinischer Expressionisten“ im Kunstsalon Friedrich Cohen in Bonn und im selben Jahr in der Schau „Erster Deutscher Herbstsalon“ in Berlin. Thuar und Macke machten gelegentlich gemeinsame Malausflüge in die Umgebung von Bonn und schufen farbintensive, von den Fauves inspirierte Gemälde. Erwähnt seien etwa Hans Thuars „Dorfstraße“ von 1911 mit starkfarbigen, orange konturierten Schatten sowie die expressiv aufgeladene „Ziegelei“ von 1912 mit ihren dynamisch bewegten Formen. Direkte Vergleichsbeispiele von der Hand Mackes sind in der Ausstellung allerdings rar, da sie im Leihverkehr aus konservatorischen Gründen kaum mehr zu haben sind, doch belegen einige Zeichnungen Mackes, dass die beiden Freunde „Schulter an Schulter“ arbeiteten, wie die Kuratorin Ina Ewers-Schultz es ausdrückt. Während diese Zeichnungen Mackes in ihrer formalen Reduktion etwas von französischer „clarté“ erahnen lassen, sind die Kompositionen Thuars oft „expressiv bis zum Bersten“, um eine Formulierung Wolfgang Mackes, dem 1913 geborenen zweiten Sohn von August Macke, aufzugreifen.

oben: Hans Thuar, Ziegelei, 1912, Foto A. Küster; unten: August Macke, Landschaft mit Fabrik, 1913, Foto Rainer K. Wick
oben: Hans Thuar, Ziegelei, 1912, Foto A. Küster; unten: August Macke, Landschaft mit Fabrik, 1913, Foto Rainer K. Wick

Das Jahr 1914 mit dem frühen Tod Mackes, der schon zwei Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der Champagne fiel, bedeutete für Hans Thuar eine scharfe Zäsur. Der Künstler verlor seinen besten Freund und maßgeblichen künstlerischen Wegbegleiter. Er stürzte in eine tiefe Depression, die bis um 1920 anhielt – Jahre, in denen er angeblich kein einziges Bild gemalt hat. In der Weimarer Republik begann unter schwierigen materiellen Randbedingungen dann Thuars zweite produktive Schaffensphase, in der immer wieder die Erinnerung an den „ziemlich besten Freund“ August Macke aufschien, so etwa in dem kleinen Gemälde „Begegnung im Park“ von 1921, dem in der Ausstellung die Macke-Zeichnung „Paar im Waldweg“ von 1914 gegenüberstellt wird. Obwohl sich spätestens mit der Mannheimer Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ im Jahr 1925 ein neuer Epochenstil zu etablieren begann, hielt Hans Thuar an einer Bildsprache fest, die – von gelegentlichem Liebäugeln mit dem Frühkubismus abgesehen („Kubistische Landschaft, Siebengebirge“, um 1922) – ganz im Zeichen eines formal kraftvollen und farblich gesteigerten Spätexpressionismus stand. Neben Landschaften, einem vom Künstler bevorzugten Bildthema, entstanden zahlreiche Porträts, die „markante Gesichter in sehr farbigem Ambiente“ zeigen und dem „expressionistischen Bestreben“ entsprechen, „das Innere, die Gefühle zum Vorschein zu bringen und nicht auf das Aussehen zu fokussieren“, so Ina Ewers-Schultz. Exemplarisch steht dafür in der Ausstellung das ausdrucksstarke „Porträt W. Sch. (Walter Schede)“ aus dem Jahr 1923. Was das Fígürliche anbelangt, nimmt die fünfteilige Serie „Mädchenakte“ von 1922/23 eine Sonderstellung ein, spielte doch das in der Klassischen Moderne als „akademisch“ geltende Aktbild auch bei Thuar insgesamt nur eine untergeordnete Rolle. In diesem Fall posierten die Töchter des Künstlers für Vorstudien im Atelier, die dann kompositorisch in eine fiktive Seen- oder Flusslandschaft eingefügt wurden – Gemälde, die an ähnliche Arbeiten der Maler der 1905 in Dresden gegründeten Künstlergruppe „Brücke“ erinnern, die etwa anderthalb Jahrzehnte früher an den Moritzburger Seen entstanden waren.

links: Hans Thuar, Begegnung im Park, 1921, Foto M. Hensel; August Macke, Paar im Waldweg, 1914, Foto Rainer K. Wick
links: Hans Thuar, Begegnung im Park, 1921, Foto M. Hensel; August Macke, Paar im Waldweg, 1914, Foto Rainer K. Wick

Da sich zumal in Zeiten der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise durch Bildverkäufe der Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren ließ, begann Hans Thuar zu Beginn der 1930er Jahre kaufmännisch tätig zu werden. So betrieb er im rechtsrheinischen Ramersdorf bei Bonn zunächst eine Tankstelle, dann ein Café, gefolgt von einem Labor für medizinische Salben und Cremes, um letztlich mit seiner Frau Henriette in Bonn ein Geschäft für Kunsthandwerk zu gründen. Dass angesichts dieser Maßnahmen zur Sicherung des Lebensunterhalts die künstlerische Produktion zeitweise fast ganz zum Erliegen kam, liegt auf der Hand. Das Fazit des Künstlers im Jahr 1935: „Kaufmann und Maler sein, das geht einfach nicht. Ich will Maler sein.“

links: Porträt W. Sch. (Walter Schedel), 1923, Foto Rainer K. Wick; rechts: Mädchenakte I, 1922, Foto Rainer K. Wick
links: Porträt W. Sch. (Walter Schedel), 1923, Foto Rainer K. Wick; rechts: Mädchenakte I, 1922, Foto Rainer K. Wick

Die Bonner Ausstellung bietet Einblicke in das kaum bekannte Spätwerk des Künstlers, das neben zum Teil hochdramatisch gestalteten Landschaften zahlreiche Stillleben umfasst, deren Entstehung der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass Thuars körperliche Einschränkungen, die abgesehen von der schwierigen wirtschaftlichen Lage immer wieder zu Depressionen führten, den Maler stark an seine häusliche Umgebung banden. Eine Ausnahme machte im Jahr 1937 die erste größere Reise nach mehr als zwanzig Jahren, die ihn zusammen mit seiner Tochter Gisela und seinem kurz zuvor angeheirateten Schwiegersohn Wolfgang Macke nach Ried in Oberbayern in das Haus von Maria Marc, der Witwe des 1916 gefallenen Franz Marc, führte. Wolfgang, wie schon erwähnt einer der Söhne August Mackes, bemerkte anlässlich seiner Verlobung mit Gisela, dass „die Freundschaft unserer Väter nun in uns und den Kommenden weiterleben soll.“ Und so war es dann auch, zur Freude von Hans Thuar, der den Verlust seines Freundes August nie hat verwinden können und der ihm innerlich immer verbunden blieb. Bei aller persönlichen Bindung an Macke und bei aller künstlerischen Prägung durch ihn tritt Thuar in der Ausstellung aber durchaus als eigenständige Künstlerpersönlichkeit in Erscheinung, und es ist das Verdienst des Bonner Museums August Macke Haus, den im öffentlichen Bewusstsein kaum präsenten Maler dem Vergessen entrissen zu haben.

links: Hans Thuar, Ährenfeld, 1934, Foto Rainer K. Wick; rechts: Hans Thuar, Kochel am See, 1938, Foto M. Hensel
links: Hans Thuar, Ährenfeld, 1934, Foto Rainer K. Wick; rechts: Hans Thuar, Kochel am See, 1938, Foto M. Hensel

Nach dem frühen Tod des Künstlers wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war es Wolfgang Macke, der sich nicht nur um den Nachlass seines Schwiegervaters kümmerte, sondern im Jahr 1969 auch die erste Monografie über Hans Thuar publizierte. Treffend heißt es da: „Hans Thuar war ein Maler der Farbe, und seine Farben besitzen eine seltene Leuchtkraft, die freilich nicht transparent, sondern eher erdig, kraftvoll und dunkel wirkt, wodurch eine kaum zu überbietende Intensität erreicht wird. Man darf sagen, daß er genauso malte wie er dachte und er ist immer, wie August Macke es gewünscht hatte, ein Sucher und Kämpfer geblieben.“

Im Michael Imhof Verlag ist ein reich bebildertes Katalogbuch mit Texten der Kunsthistorikerin und ausgewiesenen Spezialistin für den Rheinischen Expressionismus Ina Ewers-Schultz erschienen, die erfreulich sachhaltig sind und deren Lektüre durch die angenehm schnörkellose Sprache der Autorin überzeugt.

Postskriptum: Neben dem LWL-Landesmuseum für Kunst und Kultur in Münster besitzt das Kunstmuseum Bonn eine der umfangreichsten Macke-Sammlungen sowie zahlreiche Arbeiten anderer Vertreter des Rheinischen Expressionismus, unter anderem auch von Hans Thuar. Insofern bietet es sich an, einen Besuch der Ausstellung „Ziemlich beste Freunde“ mit einer Visite des Bonner Kunstmuseums an der sogenannten Museumsmeile vis-à-vis der Bundeskunsthalle zu verbinden.

Ausstellung
Ziemlich beste Freunde. Hans Thuar & August Macke
Museum August Macke Haus, Bonn, Hochstadenring 36
bis 19. November 2023

Katalog mit demselben Titel
hrsg. von Ina Ewers-Schultz u.a.
Michael Imhof Verlag
2. überarbeitete Auflage 2023
ISBN 978-3-7319-1352-8
24,90 €

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