Wahrscheinlich war der Geldmangel entscheidend, aber eine gute Idee ist es trotzdem: Das Lübecker Behnhaus präsentiert seine sehr ansehnliche Sammlung neu als »hundert Meisterwerke«. Stefan Diebitz ist durch das Haus gegangen.
Zu wohl jedem einigermaßen bestückten Museum gehört ein großes Depot, denn wer hat schon Raum für alle Bilder? Also muss eine Auswahl getroffen werden – manches steht außer Frage, aber keinesfalls alle Bilder und Plastiken sind in Qualität und Bedeutung unumstritten. Normalerweise wählt der zuständige Kurator aus der Masse der Werke aus, was er für gut und wichtig hält, aber im Lübecker Behnhaus, das für die Kunst zwischen der Romantik und der klassischen Moderne zuständig ist, hat man sich jetzt für ein kleines Experiment entschieden und das Publikum an der Auswahl der Bilder beteiligt.
Jeder Besucher durfte eine Postkarte mit seinem Favoriten abgeben. 1300 Stimmen gingen ein, die sich auf nicht weniger als 160 Werke verteilten, und wie ausgeglichen alles war, zeigt sich daran, dass nicht mehr als 70 Stimmen für die Spitzenposition ausreichten. Dieser erste Platz war trotz der beträchtlichen Konkurrenz keine ganz große Überraschung, denn das außergewöhnlich schöne Lübeck-Bild Lyonel Feiningers ist für den populären Künstler ein durchaus typisches Bild – sehr eckig und flächig, wie seine Frau Julia gesagt hätte –, und wurde erst 2014 im Rahmen einer eigenen Ausstellung dem Lübecker Publikum vorgestellt.
Auf Platz zwei findet sich wenigstens eine kleine Überraschung, aber man kann gut verstehen, dass das impressionistisch angehauchte, sehr stimmungsvolle Bild eines idyllischen Lübecker Altstadtgartens aus der Hand Hermann Lindes (1863 – 1923) nicht nur von Lokalpatrioten geschätzt wird. Linde ist in Lübeck ein bekannter Name, aber sehr weit reicht sein Ruhm leider nicht – er hätte größere Bekanntheit verdient.
Auf Platz drei landete ein Kunstwerk, das als eines der wichtigsten in Lübeck gilt, Edvard Munchs »Die Söhne des Dr. Linde«, seines großen Förderers und dazu Bruder von Hermann Linde. Und Platz vier ist schon fast eine Sensation: »Der wilde Jäger« von Johann Wilhelm Cordes (1824 – 1869), eines sehr respektablen, aber kaum je recht gewürdigten Malers. Dieses Bild sollte sein Meisterwerk sein und wurde mit einer Unzahl von Skizzen und Detailstudien vorbereitet, aber den erhofften Auftrag der Berliner Nationalgalerie erhielt er leider trotzdem nicht, weshalb es bei dieser spektakulären Ölstudie aus der zweiten Hälfte der sechziger Jahre blieb.
Warum wurde ausgerechnet dieses Bild von so vielen Kunstfreunden gewählt, trotz der relativen Unbekanntheit des Künstlers? Zweifellos ist das Geschehen dramatisch, und die Dynamik der wilden Jagd wurde glanzvoll umgesetzt; auch die mittige Beleuchtung wird der Unheimlichkeit des Geschehens vollauf gerecht. Handwerklich ist an diesem Bild nichts auszusetzen. Aber warum spricht ein solches Bild, angeregt von einem heute ganz unbekannten Gedicht, so viele an? Ich vermute den Grund in seiner Nähe zur Ästhetik von Gruselfilmen oder auch Heavy-Metal-Plattencovern; wer gerne Comics liest, hat derartige Totenköpfe schon oft gesehen, wenngleich wahrscheinlich nur selten oder gar nie in dieser Qualität.
In Verbindung mit der Ausstellung und unter demselben Titel ist ein Bestandskatalog erschienen, der eingangs mit außergewöhnlich schönen Fotos des Behnhauses, seiner hohen Diele, dem Treppenhaus und aller Ausstellungsräume, fasziniert, bevor er alle einhundert Meisterwerke ausführlich in Wort und Bild in chronologischer Folge vorstellt. Das älteste Bild, ein Doppelporträt aus der Hand von Friedrich Carl Gröger, stammt von 1802, und mit der Nummer vier beginnen die Bilder aus der Hand von Friedrich Overbeck und anderer Nazarener, die das heutige Publikum in seiner Mehrheit wohl weniger ansprechen.
Mit Caspar David Friedrich und anderen bedeutenden Romantikern wie Carl Gustav Carus und Carl Blechen, besonders dessen wunderbaren »Landstraße im Winter bei Mondschein«, ändert sich das; sie gehören zu den großen Anziehungspunkten der ständigen Ausstellung. Das sind sehr große Namen, und das gilt auch für Lovis Corinth und Edvard Munch, die beide mit fünf Werken vertreten sind. Heute viel weniger bekannt ist der zu Lebzeiten hoch geachtete Impressionist Gotthardt Kuehl (1850 – 1915), von dem gleich neun Bilder gezeigt werden – und er ist nie in Gefahr, sich zu wiederholen. Kuehl, in Lübeck geboren, schuf nicht allein sehr schöne Ansichten von Dresden, wo er als Professor wirkte (»Topfmarkt«), sondern auch Bilder aus dem Alltag von Waisenhäusern oder Szenen im Wirtshaus. In der »Braudiele in Lübeck« mit dem pfützenbedeckten Steinboden, den schweren hellen Balken der Decke und dem großen Fenster im Hintergrund wird trotz eines Mannes, der ein Fass irgendwohin rollt, der vom Maler glänzend gemeisterte Raum mit seiner großen, am anderen Ende lichtdurchfluteten Tiefe zum Protagonisten. Kuehl war ein großartiger Maler.
Heinrich Eduard Linde-Walther (schon wieder ein Linde!) war eher eine lokale Berühmtheit, aber er war ebenfalls ein sehr respektabler Künstler und ist gleich mit fünf Bildern vertreten. Ein ganz wunderbares Kinderbild von seiner Hand machte im letzten Jahr Furore, als der französische Streetart-Künstler Julien de Casabianca das »Kind im Spielzimmer« in gleich vierzehn Meter Höhe an die Giebelwand eines Mehrfamilienhauses projizierte.
Den Abschluss bildet Oskar Kokoschkas Bild von St. Jacobi, der Lübecker Seefahrer-Kirche – 1958 ein Auftragswerk auf Einladung des Lübecker Senats. Kokoschka entschied sich für eine ungewöhnliche Perspektive – also nicht die üblichen sieben Türme – und schnitt, was man ziemlich provokant fand, auch noch den Turm von St. Jacobi ab; damals sorgte das Bild für Ärger, heute dagegen zählt es zu den Meisterwerken.
Die Ausstellung der Meisterwerke sollte auch für Lübecker ein Anlass sein, sich die erstaunliche Sammlung des Behnhauses einmal aus einer anderen Perspektive anzuschauen; und der Katalog ist uneingeschränkt zu empfehlen.