Am 5. und 6. Juli fand im Rahmen der Ausstellung »Synaesthesia/4: Translating, Correcting, Archiving« die Tagung »Synaesthesia. Discussing a Phenomenon in the Arts, Humanities, and (Neuro )Science« statt. Gerhard Scharbert nahm daran teil und berichtet.
Alfred Vulpian führte 1866 zum Ende seiner Vorlesungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Physiologie des Nervensystems den Begriff »synesthésie« ein, um eine Bezeichnung zu finden für den Transfer von Reizen eines Sinnes auf Nerven, die nicht für die Weiterleitung der Reize jenes Sinnes spezifisch sind. Er ergänzte damit ein fundamentales Gesetz der Physiologie, das von Johannes Müller aufgestellt worden war und besagte, dass jeder Sinn, ganz gleich welche Eindrücke auf ihn wirken, in der ihm spezifischen Weise reagiere. Übrig geblieben von der Vorstellung Vulpians ist die Idee des Energietransfers eines Sinnesreizes auf Neuronennetze, die nicht mit dem empfangenden Sinn verbunden sind. Seit Vulpian hat Synästhesie an Kontur gewonnen und ist seit längstens 100 Jahren ein wichtiges Thema der Kognitionswissenschaften, aber vor allem auch der Künste. Synästhesie wurde spätestens mit ihrem gehäuften Auftreten im frühen 20. Jahrhundert auch zu einem Lebensstil, der zur Nachahmung einlud.
Am 5. und 6. Juli fand in Berlin die vom ART LABORATORY BERLIN veranstaltete Konferenz »Synaesthesia. Discussing a Phenomenon in the Arts, Humanities, and (Neuro )Science« statt. Parallel zu der mittlerweile vierten Ausstellung zum Thema unter dem Titel: »Synaesthesia/4: Translating, Correcting, Archiving« trafen sich Künstler und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, um ihre Ansätze vorzustellen und gemeinsam zu diskutieren. Wie die beiden Veranstalter Regine Rapp und Christian de Lutz in ihrer Einleitung sagten, sollte es darum gehen, das große Interesse, das der Kopplung verschiedener Sinneseindrücke von den Wissenschaften und der zeitgenössischen Kunst entgegengebracht werde, in einen theoretischen Rahmen zu stellen, der sowohl die rasante medientechnische Entwicklung der letzten Jahre, als auch die Erkenntnisse avancierter Forschung in den Bereichen der Neuro-, Bild und Kulturwissenschaft aufnehme und reflektiere.
Es ist nicht zuviel gesagt, dass die Konferenz diesen Anspruch in hohem Maße einlöste. Bereits der Keynote-Speaker Prof. Dr. med. et phil. Hinderk Emrich, Neurophysiologe, Psychiater und Philosoph, der Doyen der deutschen Synästhesieforschung, konnte in seinem Vortrag »Synaesthesia, Synaisthesis, and the Enhancement of Coherence« wichtige Aspekte des Themas, die später auf der Konferenz wieder aufgenommen wurden, beleuchten.
Sein Vorhaben, zum Verständnis dessen beizutragen, was er »die Welt der Synästhesie« nannte, führte er in einer eindrucksvollen Reihe von Thesen, Beispielen und Schlussfolgerungen aus. So stellte er zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Konstruktion und Wahrnehmung in ihrer Interaktion. Von Emrichs »neuro-philosophischer« Position aus besitzt das menschliche Gehirn die erstaunliche Fähigkeit »das gesamte Spektrum der Repräsentation zu realisieren, ausgehend von bloßer Sensitivität (Okzipitallappen, ‚bottom-up‘) über eine große Zahl an Zwischenzuständen zu reiner Konstruktivität (Frontallappen, ‚top-down‘). Daher sind Oszillationen zwischen den verschiedenen Arten von Repräsentation möglich.« Emrich wies auf die vielgestaltigen Implikationen dieser kortikalen Voraussetzungen hin, die es für Neurowissenschaft und Hirnforschung attraktiv machen, ein Phänomen wie die Synästhesie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu untersuchen. Schließlich könnten wir erstaunliche Erkenntnisse auch über die Ontogenese der menschlichen Wahrnehmung gewinnen, wenn wir synästhetische Fähigkeiten auch entwicklungsbiologisch untersuchten, so Emrich.
Das nächste Panel begann mit dem Beitrag der auch in der parallelen Ausstellung mit einer gleichnamigen Videoarbeit vertretenen dänischen Künstlerin Ditte Lyngkær Pedersen: »Why is Green a Red Word?«, in der sie, selbst Synästhetikerin, ihr Werk vorstellte. Zunächst beschrieb sie dem Auditorium ihre spezifischen Wahrnehmungen. In den Interviews der Videoarbeit, die sie mit anderen Synästhetikern führte, werden Aspekte der wahrnehmungsphysiologischen, aber auch die ihrer eigenen künstlerischen Verarbeitung, noch einmal auf eine sehr spezifische Weise aufgenommen und gespiegelt. Indem die Künstlerin ein Format wählt, das dem Dokumentarfilm oder einer wissenschaftlichen Evaluation gleicht, aber eben beides nur aufruft, ohne die damit verbundenen Erwartungen von Objektivität und Normierung zu erfüllen, wirken die Wechselreden über sehr persönliche Wahrnehmungen gleichzeitig sehr intim und doch respektvoll distanziert. Man könnte dabei an eine Bemerkung des französischen Aufklärers Pierre-Jean-Georges Cabanis erinnert werden, der feststellte, die Wahrnehmung sei ein aktiver Akt der Erkenntnis.
Die Integration von Signalen aus verschiedenen Sinnessystemen ist eine sehr komplexe Aufgabe, die unser Gehirn täglich in fast spielerischer Weise bewältigt. Bislang ist weitgehend ungeklärt, aufgrund welcher Mechanismen diese multisensorische Integration erfolgt. Noch mehr gilt dies für die Synästhesie in ihren verschiedenen Ausformungen.
Sina A. Trautmann-Lengsfeld vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf untersucht, wie sich Sinneseindrücke wie Hören, Sehen, Fühlen und Riechen im Gehirn zu einem einheitlichen Bild zusammensetzen. Sie verfolgt einen neuen Ansatz zur Erklärung der multisensorischen Integration und geht von der Hypothese aus, dass die verschiedenen Sinnessysteme im Gehirn die Aktivitäten ihrer Nervenzellen synchronisieren, also untereinander zeitlich abstimmen könnten. Diese dynamische Kopplung könne die Grundlage für die Einheit unserer Wahrnehmungseindrücke bilden. Es stellte sich die Frage, so Trautmann-Lengsfeld, ob multisensorische Verarbeitung (wie zum Beispiel die Kombination von optischen und akustischen Reizen) daher bei Synästheten ausgedehnter sei als bei Nicht-Synästheten. In den gegenwärtigen Studien ihrer Gruppe wird die Gehirnaktivität von Schrift-Farbe- und Gehörs-Gesichts-Synästheten mittels Magnetenzephalographie (MEG) während verschiedener Tests im Vergleich zu einer Kontrollgruppe gemessen.
Polina Dimova vom Oberlin College in Ohio stellte danach die Bedeutung der Synästhesie als Konzept und Metapher in Kunst und Wissenschaft des Fin de Siècle vor. Sie konnte zeigen, wie generell am Ende des 19. Jahrhunderts Erfahrungen der wissenschaftlichen Subjektdekonstruktion eine Auffassung von Kunst beförderten, die wiederum empfänglich für eine synästhetische Empfindung und Deutung der Wirklichkeit wurde.
Eva-Maria Bolz aus Berlin kommentierte ihre ebenfalls in der Ausstellung gezeigte Arbeit »Der innere Monitor«, in der sie ihre sehr persönliche Farb-Buchstabe-Wort-Synästhesie einer Art künstlerischem Objektivationsprozeß unterworfen hat. Zunächst ordnete sie jedem Buchstaben beziehungsweise jedem Wort eine und (im Gegensatz zur persönlichen Erfahrung) nur eine bestimmte Farbe zu, die sie dann anhand von geeigneten oder für sie persönlich bedeutsamen Texten in ein Muster transformierte, das von Ferne deren lexikalische Struktur aufnimmt. Die so gewonnenen gedruckten Blätter erinnern teils an taxonomische Tafeln, teils an abstrakte Strukturen und führen die dahinter liegende radikale Subjektivität synästhetischer Erfahrung auf eine sehr subtile und indirekte Weise vor Augen.
James Rosenow von der University of Chicago zeigte am Beispiel von Charles Kleins »The Telltale Heart« und J. Sibley Watsons »The Fall of the House of Usher«, wie auf eine gewissermaßen »übersetzte« Weise Maximen der synästhetischen Poetik Edgar Allan Poes im frühen Amateurkino aufgenommen und verarbeitet wurden.
Birgit Schneider (Universität Potsdam) erläuterte die historischen Versuche, eine Überbrückung von Ton und Bild mittels elektrischer Schwingungen zu realisieren, hinsichtlich ihrer (syn-)ästhetischen Konzepte und Auffassungen der Kopplung von Hören und Sehen. Um die Parallelität von Mediengeschichte und Optophonie greifbar zu machen, dienten künstlerische und medientechnische Utopien und Experimente als Beispiele, wie die des kaum bekannten Maximilian Pleßner (1892) oder die medientechnischen Verschaltungen des Tontechnikers Fritz Winckel (1930) sowie des Künstlers Raoul Hausmann (1920). Allen ist gemeinsam, dass sie den Transfer von Tönen in Bilder und Bildern in Töne mittels medientechnischer Übertragung und Verschaltung direkt leisten wollten und damit eine erste Verbindung schufen zwischen Synästhesie und Medienästhetik.
David Strang von der Plymouth University stellte schließlich am Ende des ersten Tages seine im wahrsten Sinne des Wortes elektrisierenden Experimente, Musik mittels Licht zu übertragen, vor. Er baut in Workshops gemeinsam mit Interessierten und Mitarbeitern die »transmitter+receiver« selbst und testet diese dann in improvisierten Konzertperformances. »At the very core of the project is the transmission of sound within light waves creating a direct connection between the physics of analog sound and light. This is built upon for performance purposes where the only ‚sound‘ sources are lights captured by solar cells. The use of solar cells also enables the project to ‘charge and release’ sound using light«, so Strang. Aus dem zum Teil bizarr und technoid klingenden Sounds tritt aber der Anspruch, eine neue Synaisthesis von Musik und Übertragungsmedium zu schaffen, klar und beeindruckend hervor. Möglicherweise liegt hier eine Zukunft des Soundtransfers mit Lichtgeschwindigkeit jenseits des Glasfaserkabels.
Am Beginn des zweiten Tages stellte Eva Kimminich von der Universität Potsdam den historischen Wandel in der Auffassung von Einheit oder Spezialisierung der fünf Sinne vor. Von der Aristotelischen Integration bis zur medizinisch-physiologischen Separierung, die schließlich wieder den Begriff der Synästhesie selbst hervorbrachte, reichte der Bogen dieses philosophisch-geschichtlichen, detaillierten und anregenden Überblicks. Allerdings hätte man sich gewünscht, die Sprecherin wäre auch auf die Problemgeschichte der Wahrnehmung in der Physiologie selbst eingegangen, wie sie dann über Johannes Müller und seine Schüler einen direkten Brückenschlag zu Psychologie und Hirnforschung vollzogen hat.
Caro Verbeek vom Rijksmuseum Amsterdam ist eine Kunsthistorikerin, die sich nach eigenem Bekunden in ihrer Arbeit den sogenannten »Niederen Sinnen« insbesondere dem Geruchssinn widmet. Unterstützt von olfaktorischen Proben führte sie dem Auditorium die oft verleugnete Gewalt und Suggestibilität von Gerüchen vor und fand anschauliche Beispiele dieses neben Sinns aus dem Bereich der klassischen und modernen Kunst, bei Giacomo Balla, der »Exposition internationale des surréalistes« 1938 in der Galerie des Beaux-Arts in Paris und bei Marcel Duchamp.
Gertrud Koch von der Freien Universität Berlin vermochte dagegen mit ihrer Argumentation, dass der Film per se ein synästhetisches Medium sei, nicht wirklich zu überzeugen; weder das zur Begründung herangezogene »Psychologische Schema der Wortvorstellung«, das Sigmund Freud seiner Studie »Zur Auffassung der Aphasien« von 1891 beigegeben hatte, noch die durchaus von (sich nicht immer erschließendem) Witz und Esprit sprühenden Beispiele des zeitgenössischen französischen politischen Kinos konnten daran etwas ändern. Denn zwar hatte Freud in seiner Aphasieabhandlung geschrieben: »Die Wortvorstellung erscheint als ein abgeschlossener Vorstellungskomplex, die Objektvorstellung dagegen als ein offener« (p. 79), doch bezieht sich dieser Satz insgesamt eben auf die Wort-, nicht auf die Bildvorstellung. Die Begründung der Aufhebung einer als persistent unterstellten Wort-Bild-Dichotomie kann aber offenbar von einer Kritischen Theorie derselben nicht vollständig geleistet werden, umso weniger, wenn sie eine konkurrierende Theorie der technischen Medien konsequent ausblendet.
Die Künstlerin Madi Boyd aus London zeigte hingegen, wie fruchtbar Kunst- und Medientheorie sich gerade auf dem Feld der Synästhesie begegnen können. Sie arbeitet seit 2009 mit Neurowissenschaftlern und Psychologen zusammen als Teil ihrer künstlerischen Arbeit. Sie versteht dies als einen bedeutenden Teil ihres Kunstschaffens, indem es ihr ermöglicht, zu verstehen, wie die wesentlichen Elemente Bewegung, Licht, Muster, Gestalt und Raum, mit denen sie hauptsächlich arbeitet, vom Gehirn wahrgenommen und interpretiert werden. Dies erlaubt ihr auch besser vorherzusehen, wie jemand das Werk wahrnimmt und erfährt. Boyd stellte die Bedeutung dieser Zusammenarbeit dar und erläuterte, wie sowohl Theorien über, als auch ihre eigene erlebte Synästhesie die Entwicklung ihrer Installation beeinflusst haben, die 2013 im ART LABORATORY BERLIN ausgestellt war.
Agnieszka Janik von der Universität London stellte gewissermaßen in dieser Welt der Synästhesie ein wenig den advocatus diaboli dar, indem sie als einzige auch mögliche, durch die Synästhesie verursachte Einschränkungen auf anderen Feldern ansprach. Neuere Studien legten nämlich nahe, daß Farbsynästhesien mit Reduktionen in groß- und kleinzelligen Strukturen in der Sehbahn, die an der optischen Bewegungsverarbeitung und an der Farbverarbeitung beteiligt sind, einhergingen. Unter dieser Voraussetzung, so Janik, galt es herauszufinden, ob Synästheten, die Farben als ihre hervorgerufene Empfindung erleben, auch eingeschränkte Bewegungswahrnehmung im Vergleich zu nicht-synästhetischen Probanden zeigen würden. Die Ergebnisse zeigten, dass dies in der Tat so sei. Was dies im Einzelnen bedeute, müsse aber noch weiter untersucht werden.
Die letzten Beiträge wandten sich der »Synästhesie im 21. Jahrhundert« zu, wie das abschließende Panel betitelt war.
Katharina Gsöllpointner von der Universität für angewandte Kunst in Wien stellte ein neues Projekt vor: DIGITAL SYNESTHESIA ist ein transdisziplinäres Forschungsprojekt das sich mit den Medien und den Möglichkeiten der digitalen Kunst, synästhetische Erfahrungen hervorzurufen, beschäftigt. Ihre Präsentation gab einen Überblick über die Idee, das Konzept und die Ziele von DIGITAL SYNESTHESIA im Zusammenhang des historischen und aktuellen State of the Art in künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung. Mit Beispielen aus Kunstwerken von Pionieren der digitalen Kunst wie Ruth Schnell, Jeffrey Shaw, Peter Weibel, aber auch junger Künstler stellte Gsöllpointner dar, wie genau digitale Technologien verwendet werden können, um Synästhesie erfahrbar für Nicht-Synästheten zu machen. Dabei rückte die Ästhetik (im Sinne ihres Ursprungs als Wahrnehmung) als Strategie der Kunstwerke zum Schluss überraschend wieder in den Diskurs der Tagung ein.
Nach zwei Tagen intensiver Präsentation und Diskussion ging die Tagung zu Ende und hinterließ bei allen Teilnehmern die Gewissheit, einen substantiellen Einblick in aktuelle künstlerische und wissenschaftliche Arbeit auf dem Feld der Synästhesie gewonnen zu haben. Es ist den Veranstaltern zu danken, die mit Unterstützung der Schering-Stiftung solch ein hochwertiges Programm verwirklicht haben und lässt für die Zukunft Weiteres erwarten.