Anna Bogouchevskaias - Fallen Falls. Kunsthalle Rostock. Bis 10. März 2024

Anna Bogouchevskaias Bildhauerei ist geopolitischer Umgang mit Themen an der Schnittstelle von Figuration zur Abstraktion. Die Kunsthalle Rostock zeigt nun die erste Überblicksausstellung der deutsch-russischen Bildhauerin in Deutschland, die auch ihr Frühwerk in der Auseinandersetzung mit den Werken des französisch-russischen Künstlers Marc Chagall (1887-1985) vorstellt. María del Mar Strenger-González war vor Ort.

Vom White Cube zur Black-Box. Veränderter Blick in die Kunsthalle Rostock und der Ausstellungsblick in die Retrospektive Fallen Falls. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock
Vom White Cube zur Black-Box. Veränderter Blick in die Kunsthalle Rostock und der Ausstellungsblick in die Retrospektive Fallen Falls. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock

Noch bis zum 10. März 2024 zeigt die Kunsthalle Rostock die Retrospektive „Fallen Falls“ mit rund 150 Werken aus vier Dekaden der deutsch-russischen Bildhauerin Anna Bogouchevskaia. Chefkurator Sebastian C. Strenger und Kuratorin Isabella Mannozzi verwandeln dafür den White Cube des Museums in eine Black-Box, in der die Künstlerin unter anderem dort erstmals ihren neuesten Werkblock der Wasserfälle aus Neusilber präsentiert.

In der Eingangssituation ein Wasserfall aus Japan der deutsch-russischen Bildhauerin Anna Bogouchevskaia. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock
In der Eingangssituation ein Wasserfall aus Japan der deutsch-russischen Bildhauerin Anna Bogouchevskaia. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock

Wasserfälle. Ein flüchtiges Phänomen. Stets in Bewegung – und doch nicht für die Ewigkeit. Für die Künstlerin Anna Bogouchevskaia ein Naturphänomen, dem sie sich in ihrer Bildhauerei widmet. Die durch politische Rahmenbedingungen herbeigeführte Veränderung der Umstände wie der Bau von Kraftwerken oder der bereits heute spürbare Klimawandel bringen sie zum Verschwinden. In ihrem neuen Werkblock der Wasserfälle, die in den Jahren 2022 bis 2023 überwiegend in Bronze und Neusilber geschaffen wurden, widmet sie sich weltweit Orten, die vom Aussterben bedroht sind, und manifestiert diese in Bronze.

Der skulpturgewordene Wasserfall „Niagara“ mit Künstlerin Anna Bogouchevskaia mit ihrem Hund „Henry“ in der Kunsthalle Rostock. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock
Der skulpturgewordene Wasserfall „Niagara“ mit Künstlerin Anna Bogouchevskaia mit ihrem Hund „Henry“ in der Kunsthalle Rostock. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock

So auch die nordamerikanischen Niagarafälle, die vor 12.000 Jahren entstanden sind, als sich zwischen dem Eriesee und dem Ontariosee ein neuer Kanal bildete, der heute als „Niagara River“ bekannt ist. Die Wasserfälle befinden sich an jener Stelle, in der der Niagara River um etwa 90 Grad nach Norden abbiegt. Zur Erforschung dieser Fälle hatte man bereits zuvor jene 45 Millionen Liter Wasser pro Minute, die eine Höhe von elf Stockwerken hinabstürzten, durch eine Flussumleitung abgestellt, sodass von dem einstmals mächtigen Wasserfall plötzlich nur noch ein Rinnsal übrig war. Ein Vorgeschmack also auf das, was nach neuesten Studien in spätestens 15.000 Jahren stattfinden soll, wenn nämlich den Niagarafällen das Wasser ausgehen und Geschichte sein wird, was im Jahr 1842 der Schriftsteller Charles Dickens bei seinem dortigen Besuch schrieb: „Als ich fühlte, wie nahe ich meinem Schöpfer stand, war der Frieden mein erster und anhaltender Eindruck dieses immensen Naturspektakels.“

Die Wasserfälle „Sete Quedas“ als Wandskulptur (lks.) sowie die Standskulptur „Ban Gioc“, ein Wasserfall an der Grenze zwischen China und Vietnam. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock
Die Wasserfälle „Sete Quedas“ als Wandskulptur (lks.) sowie die Standskulptur „Ban Gioc“, ein Wasserfall an der Grenze zwischen China und Vietnam. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock

An anderen Orten, wie beim neuen Staudammprojekt Itaipúsee, der an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay liegt, wurden über 780 Quadratkilometer Ackerland und 600 Quadratkilometer unberührter Wald geflutet. Mit diesem Projekt wurde die angrenzende „kleine Schwester“ des größten südamerikanischen Wasserfalls „Iguazú“ beerdigt. Eine vorläufige Studie ergab, dass dies in ebenjenem Gebiet mindestens 117 tropischen Pflanzenarten, 90 Fischarten und Dutzenden von Landtierarten einschließlich des Jaguars, des Tapirs, des Stachelschweins und des Hirsches ein Ende setzte. Das tosende Wasser im ohrenbetäubenden Crescendo der ehemaligen Wasserfälle von Sete Quedas wird genau an dieser Stelle von den indigenen Anwohnern des mächtigen Flusses Paraná als wild bezeichnet. In den Tupí-Guaraní-Sprachen „Singender Stein“ genannt, waren die Fälle bis zu 30 Kilometer weit zu hören. An dieser Stelle strömte das Wasser durch mehrere Flussbetten und stürzte über ungefähr 18 Wasserfälle insgesamt etwa 100 Meter in die Tiefe – all das gehört bereits seit 1982 der Vergangenheit an. Zudem fanden mit den Sete Quedas zahlreiche historische und archäologische Stätten ihr nasses Grab.

Der Wasserfall „Kuang Si“ in Laos durch die Künstlerin Anna Bogouchevskaia in Neusilber gestaltet. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock
Der Wasserfall „Kuang Si“ in Laos durch die Künstlerin Anna Bogouchevskaia in Neusilber gestaltet. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock

In die Liste der bereits jetzt vom Verschwinden bedrohten Wasserfälle, die in der Ausstellung thematisiert werden, gehören auch die Victoriafälle im Grenzgebiet von Simbabwe und Sambia, der „Salto Angel“ in Venezuela, der „Ban Gioc“ an der Grenze zwischen China und Vietnam, der „Kuang Si“ in Laos, „Iwan der Schreckliche“ in Karelien, die Fälle von Korouoma im finnischen Lappland und der Giessbachfall in der Schweizer Alpenregion.

Der Wasserfall „Giessbach“ aus der Alpenregion schafft die Analogie zu einer Gedenksteele. Copyright: Werkstattgalerie Hermann Noack, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock. Foto: Roman März
Der Wasserfall „Giessbach“ aus der Alpenregion schafft die Analogie zu einer Gedenksteele. Copyright: Werkstattgalerie Hermann Noack, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock. Foto: Roman März

Stilistisch übersetzte Bogouchevskaia die Wasserfälle, indem sie den fließenden Prozess der Fälle „einfriert“, als eine Art Momentaufnahme, die sich fast ausschließlich auf das Naturphänomen Wasser konzentriert und dabei weitgehend Gesteinsformationen und die Physiognomie der Landschaft in den Hintergrund treten lässt. Es ist zugleich der Moment, in dem ihr an sich figuratives Thema aber auch zur Abstraktion wird. Ausgesparte Felsformationen wie bei Giessbach konzentrieren den Blick des Betrachters auf das fließende Element und lassen so den Wasserfall als abstrakte Skulptur und mehr noch als Gedenkstele erscheinen.

Der Wasserfall „Iwan der Schreckliche“ in Karelien, bei dem der Einfluss von Eduardo Chillida sichtbar wird. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock
Der Wasserfall „Iwan der Schreckliche“ in Karelien, bei dem der Einfluss von Eduardo Chillida sichtbar wird. Copyright: SCS Bildarchiv, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock

In der aktuellen Umsetzung folgt Bogouchevskaia dabei dem Prinzip des spanisch-baskischen Künstlers Eduardo Chillida (1924–2002). Zwischen wechselweise eckigen und abgerundeten geometrischen Aussparungen arbeitet auch Bogouchevskaia zur Vorbereitung ihres Modells für den Guss mit Plastilin oder Ton und spielt bei der Umsetzung mit den scheinbar gegensätzlichen Eigenschaften von silberner Härte und luftdurchlässiger Leere. Die Öffnungen ihrer Kunstwerke ähneln einander, sind aber nicht identisch und können je nach Standpunkt unterschiedlich wahrgenommen werden. Ebenso wie Chillida bezieht Bogouchevskaia die formverändernde Wirkung des natürlichen Lichteinfalls auf die Öffnungen in ihre bildhauerische Arbeit ein: ein charakteristisches Merkmal ihrer Bronzeskulpturen. Zudem sind als Teil der Skulptur die kaum wahrnehmbaren Sockel ebenfalls leicht erhöht, wodurch sie ihnen wie Chillida eine gewisse Leichtigkeit verleiht und das Gewicht der Bronze oder des Neusilbers negiert.

Die Künstlerin Anna Bogouchevskaia in ihrem Atelier, 1999. Copyright: Werkstattgalerie Hermann Noack, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock
Die Künstlerin Anna Bogouchevskaia in ihrem Atelier, 1999. Copyright: Werkstattgalerie Hermann Noack, Berlin; Courtesy: Kunsthalle Rostock

Anna Bogouchevskaia - Urenkelin des deutschen Philosophen Karl Marx - wurde 1966 in Moskau geboren und wuchs in einer bedeutenden Bildhauerfamilie auf, mit der sie schon früh zu einem Teil der künstlerischen Elite Moskaus gehörte. Bereits mit neun Jahren begann sie ihre Kunstausbildung an der Moskauer Zentralen Kunstschule und studierte anschließend Bildhauerei am Moskauer Surikow-Kunstinstitut. Mit einem Stipendium an der russischen Kunstakademie wurde sie zur Meisterschülerin von Wladimir Jefimowitsch Zigal (1917–2013), dessen Großplastik „Sankt Georg“ die Kuppel des Kremls in Moskau ziert. Bogouchevskaias Werke befinden sich heute in zahlreichen bedeutenden Sammlungen. So auch in der Sammlung des Skulpturenparks der Kunsthalle Rostock und mit ihrer Skulptur „Medusen“ in unserer ständigen Sammlung im bildhauerischen Depot der Kunsthalle. Aber ihre Werke befinden sich ebenso in Museumssammlungen wie der Tretjakow-Galerie, einem der bedeutendsten Museen Russlands, sowie in internationalen Privatsammlungen wie der Sammlung Wemhöner oder der Spreegold-Collection.

Anna Bogouchevskaias - Fallen Falls. Kunsthalle Rostock
17.12.2023 - 10.03.2024
im Erdgeschoss des Schaudepots
Die Ausstellung entstand in Kooperation mit der Werkstattgalerie Hermann Noack, Berlin.

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