Buchrezensionen

Anna Szech (Hrsg.): Paul Klee. Die abstrakte Dimension, Hatje Cantz Verlag 2017

»Vom äußeren Sehen und inneren Schauen«, so könnte man den Katalog zur Ausstellung in der Fondation Beyeler auch nennen. Sie widmet sich mit der Abstraktion im Werk des Künstlers und ihrer besonderen Qualität. Der Katalog dazu hat Walter Kayser ein echtes Vergnügen bereitet.

Am Ende seines »Faust« und am Ende seines langen Lebens lässt Goethe einen Türmer von seiner abgehobenen Warte aus auf die Welt blicken und die Summe (s)eines langen Künstlerlebens zusammenfassen. Nicht zufällig gibt er ihm den Namen Lynkeus, was soviel bedeutet wie: »der mit den Luchsaugen«.

Auch der Maler Paul Klee war in diesem Sinne ein Lynkeus, einer, der »zum Sehen geboren/ zum Schauen bestellt« war, einer, der von sich hätte bekennen können: »So seh' ich in allen / Die ewige Zier«. – »Sehen« und »Schauen« sind in den berühmten Versen nicht als eine verstärkende Verdopplung, also nicht als Hendiadyoin zu verstehen, sondern als zwei unterschiedliche Begriffe, die eine Steigerung, eine Sublimierung hin zu einer tieferen Einsicht und deshalb ein Betrachten in ganz verschiedene Richtungen meinen. Ganz in diesem Sinne versteht auch Paul Klee in seinem Tagebuch von 1906 sich selbst und seine Malerei als Vermittlungsorgan: »Sämtliche Wege treffen sich im Auge und führen, von ihrem Treffpunkt aus in Form umgesetzt, zur Synthese von äußerem Sehen und innerem Schauen.«

Dieses innere Schauen jedoch verlangt die Umsetzung des Gesehenen. Es verlangt nach Symbolisierung, nach verdichtender Zeichenhaftigkeit und Reduktion, nach einem sich Lösen von der sehr äußerlichen Erscheinung. Nichts anderes sagt ja in seinem etymologischen Kern der Begriff der Abstraktion, den wir etwas vorschnell mit der so genannten ungegenständlichen Kunst gleichsetzen.

Wenn nun die Fondation Beyeler in ihrer Herbstausstellung Paul Klee eine repräsentative Werkschau unter dem Titel »Die abstrakte Dimension« widmet, so will das auf den ersten Blick nicht besonders originell erscheinen. Macht etwa Abstraktion nicht essentiell einen Grundzug des gesamten Œuvres aus? Das gilt nicht erst für das von Ernst Beyeler so sehr geschätzte Spätwerk, nicht erst, seit Klee zum Formmeister des Bauhauses in den 20er Jahren berufen wurde, nicht einmal erst seit der berühmten Tunisreise am Vorabend des Ersten Weltkrieges, welche der Maler so gern als sein koloristisches Erweckungserlebnis stilisierte. Nicht etwas bisher Übersehenes oder Vernachlässigtes ist also mit der abstrakten Dimension zu entdecken, sondern ihre besondere Qualität der Kleeschen Abstraktion näher zu bestimmen.

Klee ist äußerst innovativ und modern - und Klee ist zugleich äußerst populär, ja, für seine dekorative Wirkung wie kaum ein anderer Künstler der klassischen Moderne in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschätzt. Diese scheinbar paradoxe Verschränkung besser verstehen zu können ist möglicherweise ein lohnendes Ergebnis, nachdem man die Ausstellung im wunderbaren Renzo-Piano-Bau in Riehen verlassen hat und die Bilder nachklingen lässt. Es sind einzig und allein die Qualität der Werke, die Gründlichkeit der Vorbereitung und Kuration, die kluge Konzeption und gediegene Qualität des Katalogs, die einen Besuch in Basel empfehlenswert machen, nicht etwa der vermeintliche Anspruch, mit Fülle oder Originalität der Werke die vielen anderen Begegnungen mit (und Ausstellungen zu) diesem beliebten Künstler übertrumpfen zu können.

Allein der Katalog ist ein Meisterwerk heutiger Kunstbuchpublikation: die Großzügigkeit des Einbands mit seinem verstärkten Leinenrücken und den aufeinander abgestimmten Frontispiz- und Einband-Bildern; das Format und die großzügige Schrift; die farbliche Abhebung der Portalseiten für die Unterkapitel, die sich mit den Aspekten beschäftigen, welche bei Klees Abstraktionen wegweisende Anregungen waren: mit der Natur, der Architektur, der Musik und dem Hang zu reduzierten Schriftzeichen. Es versteht sich, dass der Berliner Verlag Hatje Cantz die finanziellen Möglichkeiten, die durch großzügige Sponsoren erweitert wurden, in Spitzenqualität umsetzte, auch und nicht zuletzt, was die Platzierung und Farbqualität der Abbildungen angeht. Besonders gelungen erscheint es ferner, dass nicht nur Experten zu Wort kommen (die ja leicht die Tendenz haben, ihre Forschungsbeiträge und Sichtweisen zu verabsolutieren), sondern dass mit dem Stararchitekten Peter Zumthor, dem griechischen Dirigenten Teodor Currentzis und der US-amerikanischen Konzeptkünstlerin Jenny Holzer unvoreingenommene, inspirierende Blicke von außen ermöglicht wurden. Gerade die Beiträge dieser Künstler erfrischen dann auch durch ihr subjektives Urteil. Eingerahmt werden sie durch einen Basisartikel der Kuratorin Anna Szech, die Klee im Verhältnis zu anderen avancierten Vertretern untersucht und dabei auch seine Anregungen nach 45 verfolgt, und einem abschließenden Aufsatz der Kunsthistorikerin Regine Prange, die den spezifisch poetischen und satirischen Aspekt in Klees Abstraktionsweise herausarbeitet.

Den Basler Ausstellungsmachern kommt Verschiedenes zugute, was kaum anderswo vorstellbar wäre. Zum einen sind durch die Hände des Stifters Ernst Beyeler Hunderte von Klee-Werken gewandert, als dieser noch im engen Altstadthaus unterhalb des Münsterberges als herausragender Kunsthändler tätig war. Künstler und Händler waren immerhin Landsleute. Beyeler kannte also bestens und lange, bevor im Jahre 2005 das Zentrum Paul Klee in Bern eröffnet wurde, die Nachlassverhältnisse, den Markt und die Sammlerlandschaft. Diesen Beziehungen ist es wohl auch zu verdanken, dass neben den zahlreichen Leihgaben aus weltweit renommierten Museen auch manche Entdeckung nach Riehen gewandert ist. Nicht weniger als 30 Bilder, die für gewöhnlich in den Wohnzimmern eines anonymen Privatbesitzers hängen. So kommt es zu gezielten Korrespondenzen, wie man sie nie zuvor hat sehen können. Gewinnbringend war sicherlich auch die befruchtende Nähe zu den Klee-Kennern in Bern und ihren zahleichen Detailhinweisen.

Welcher besonderen Art ist nun die spezielle Dimension Abstraktion dieses Künstlers? Anders als bei manchem seiner Zeitgenossen und engen Vertrauten war für Klee die Abstraktion nie das Konzept einer formalen Entelechie. Für Wassily Kandinsky oder Kasimir Malewitsch, um nur zwei prominente Wegbereiter zu nennen, stellte die totale Gegenstandslosigkeit so etwas wie einen konsequenten Zielwettlauf dar; und zwar so sehr, dass sie sogar Werke vordatierten, um die Krone der Pionierleistung für sich beanspruchen zu können. Der Verzicht auf die Abbildfunktion und die programmatische Befreiung des rein »Geistigen in der Kunst« durch die Autonomisierung der formalen Mittel drücken sich bei ihnen auch in provokant vordergründigen Titeln aus wie »Schwarzes Quadrat«, »Komposition« oder »Zirkuläre Formen«. Paul Klee dagegen liebte die Spannung zwischen der visuellen Erscheinung des Bildes und der oft sehr poetischen Metapher, die er als Titel absichtsvoll, hintergründig und manchmal augenzwinkernd darunterschrieb. Klees Titel lesen sich wie enigmatische Verrätselungen und ironische Brechungen eines Lyrikers. Ganz zu Recht spricht Jenny Holzer in ihren aphoristischen Einsichten, die sie bescheiden »verstreute Mutmaßungen über Klees Sprache in der Kunst« nennt, von »gemalt[en] chinesischen Gedichten«.

Wie hinreißend anregend sind solche Titel wie »Sternenbildung«, »Himmelsblüte über dem gelben Haus«, »Ludus Marti« oder »Schwere Botschaft«! Wie eine gute Metapher sprengen sie einen Imaginationsraum auf; sie eröffnen einen Konnotationsreichtum und stacheln so die Fantasie des Betrachters an. Auch auf diese Weise fungiert die Bildfläche wiederum als Schnittfläche zwischen dem »äußerem Sehen und innerem Schauen«: Der sprachliche Anhaltspunkt will in seinem Spannungsverhältnis zu einer Bildfläche mit aus Quadraten gebauten Schachbrettflächen verknüpft werden. Die treppenförmigen Schichtaquarelle oder prismatischen Farbabstufungen wollen dazu verleiten, dass der Betrachter das abstrakt Erscheinende mit den mitgebrachten Erinnerungen und gegenständlichen Assoziationen projektiv abgleicht. Die Spannung zwischen dem verbalen Anreiz und der optischer Erscheinung funktioniert dann wie ein bei Kindern so beliebtes Wackelbild. Klee ging es demnach um eine Art von poetischem Zwischenreich, dessen Bildsprache und Grammatik er aus sich selbst heraus generierte. Darauf deutet auch das berühmte Selbstbekenntnis (wohl von 1920) hin: »Diesseitig bin ich gar nicht fassbar. Denn ich wohne grad so gut bei den Toten, wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich. Und noch lange nicht nahe genug.«

In diesem Sinne war die »reine« Abstraktion so wenig seine Sache wie die Verhaftung an der Gegenständlichkeit. Der Zielpunkt einer absoluten Reduktion und reinen Form im Sinne eines Malewitsch oder einer strengen Mondrianschen Orthogonalität war für ihn zu kalt und leblos: Gut ist Formung. Schlecht ist Form; Form ist Ende, ist Tod«, notiert er in seiner »Bildnerischen Gestaltungslehre«, die nachträglich theoretisch formuliert, was zuvor intuitiv entwickelt wurde.

Auch in anderer Hinsicht sieht der Maler Abstraktion nicht als Selbstzweck: Er liebte stets eine haptische Stofflichkeit, den nicht geglätteten Pinselduktus und das Experimentieren mit der Sinnlichkeit der Materialien. Im kombinatorischen Spiel mit Techniken, in einer (neu-)pointillistischen Überlagerung von Farben oder in der Art, wie er seine Malgründe präparierte, verstand er sich als träumender Handwerker.

Seine Abstraktion legt nicht das Wesen der Dinge frei, sondern zeigt, dass das Leben ein ständiger Transformationsprozess ist: Nicht Form, sondern Formung; nicht vereinbarte Symbolik, sondern ein Fluss der Zeichen; Konstruktives, das zu schwingen beginnt und auf eine höhere Realität hin durchscheinend wird.

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