Tanz wird hier nicht nur als das Ballett, wie es sich uns so oft auf den Bühnen dieser Welt zeigt, offeriert. Es ist nicht die romantisch verklärte Welt der Tutu- Extravaganz, die sicher einen Charme versprüht. Tanz kann auch etwas völlig anderes zum Ausdruck bringen und so eine neue Sprache entwickeln, die sich in Schrittkombinationen verdeutlichen, die mit der Körperhaltung eine Einheit darstellen (sollen). Drehungen und Masken machen eine solche Darstellung zu einem Erlebnis, welches seelisch anrührt, weil sich mit Alter, Jugend und der sich daraus entwickelnden Perspektive menschliche Verhältnisse bezeugen, die ein neues Verständnis von Gesellschaft kreieren. Melanie Obraz ist den innovativen Tanzinterpretationen von Antje Velsinger gefolgt.
Es geht eben nicht darum, eine erstarrte Art eines akademisch geprägten Ausdrucks von Tanz zu zeigen. Antje Velsinger bringt uns eine teilweise bedrückende Art des Tanzes nah, und zeigt was der Tanz infolge jenes Andersseins in den Zuschauern bewirkt. Hiermit stellt die Autorin eindringlich die Frage, was Tanz überhaupt heißen kann und welch eine soziale Wirkung davon ausgeht. Jede starre Vorgabe wird aufgelöst, denn es ist eben nicht von Interesse, Tanz nur als eine Art des ästhetischen Ausdrucks zu verstehen, welcher sich in präzis ausgeführten Schrittfolgen, Hebungen und Drehungen bekundet. Es wäre fatal hier etwas Festes, Etabliertes zu sehen, da es der Choreographin um einen pragmatischen Umgang mit dem Tanz geht. Sie bringt die auf der Bühne Handelnden dazu, das Körperliche als eine Sprachfähigkeit auszudrücken, um so die gesellschaftlichen brandaktuellen Kontexte, Gender, Alter, psychische Krankheit in den Fokus zu rücken. Das Spezielle, was als das Körperliche dem Publikum direkt präsentiert wird, ist in eine Metapher eingebunden.
Bei Velsinger kommt es auf den gewissen Turn an, es ist die Wende, in welcher sich alles was Tanz ist, in einem quasi neuen Gewand kundtut. Durch die Bewegung des Körpers entsteht eine Erkenntnis über den Menschen, denn die spezielle Bewegung ermöglicht einen neuen Ausdruck. Der Autorin geht es dabei nicht darum, Objektive zu verstehen, vielmehr kommt es auf die Färbung durch den subjektiven Akt der Bewegung des Körpers an. Alles ist auf das Pragmatische des Ausdrucks angelegt, wodurch auch Verhältnisse und also Sozialisationen des Menschen offengelegt werden. Bemerkenswert ist, dass es Wahrheit und Falschheit bei Velsinger nicht gibt, da ihr die Ebene der subjektiv und reichhaltigen Sichtweise auf die Bewegung als Ausdruck der Gefühlswelt am Herzen liegt. Die Koppelung mit der Interaktion zum Publikum ist hier als Alpha und Omega zu bezeichnen.
Schrittfolgen, Drehungen und die sich hier ereignende tänzerische Pragmatik, die eine eigene Art des (Tanz-)Theaters eröffnen, bieten dem Publikum einen neuen Einstieg, sich für eine völlig neue Art des Tanzes als Ausdrucksform zu interessieren. Warum? Da sich zwischenmenschliche Beziehungen, seien es familiäre oder außerfamiliäre Beziehungen, gefühlsmäßig durch das Hinsehen auf den Akt der Ausführung des Tanzes tiefgreifend erfassen und beeinflussen lassen. Es sind die spezifischen Handlungen in den Beziehungen, die hier in einer tänzerischen Darbietung gezeigt werden. Die Wirkung, welche hierdurch entsteht, hat Folgen für die sich daraus ergebende Verhaltensweise der Zuschauer – so zumindest die Absicht. Infolge der Aufführungen kann es zu einer Veränderung in der Handlungsweise der Betrachter:innen und Rezipienten:innen kommen. Diese Möglichkeit besteht und ist eine alltagsnahe und intuitive Richtung, die sehr von den Sinnen gesteuert ist.
Hier besteht die Präzision darin, das auch der Blickkontakt zwischen den Agierenden und dem Publikum besteht und sich dadurch eine Intimität ergibt, die jede einzelne Person in das Geschehen einbezieht. Zunächst wird damit etwas geäußert wie in einem Tatbestand, welcher aber zur Interpretation reizt. Nichts kann hier nur hingenommen werden. Die Symbolik die Velsinger anspricht, bezeugt eine Wirkung und damit wird die Sichtweise des Publikums vielschichtig und einer stetigen Veränderung geöffnet. Die Choreographin beabsichtigt die Bewegung als Ausdruck in der Weise zu präsentieren, so dass hier alles fließt und durch das menschliche Sein getragen wird. Damit geht es der Autorin um den Ausdruck neuer Ideen und die stets sichtbare menschliche Sehnsucht nach Verbindung und Austausch. Hier wird deutlich, dass das ständige Weiterentwickeln des Tanzes etwas kundtut, was eben nicht nur als ästhetischer Genuss sichtbar ist, sondern auch das Ethische und Soziale in den Vordergrund stellt. Damit ist der direkte Bezug zu gesellschaftlich relevanten Problematiken hergestellt.
Velsinger ist an sozialen Diskursen interessiert und arbeitet daran, das Körperliche als Formung von etwas in ihren Arbeiten herauszustellen. Dabei stellt sie im Besonderen fest, dass es ihr nicht um eine Optimierung des Körperlichen geht. Erwähnung findet auch der zeitgenössische Choreograph Jérôme Bel (* 1964), der das Individuum als Besonderheit in seinen Arbeiten vorstellt und so auch nicht nur den ersten Solisten innerhalb einer Ballettkompanie Rollen in vorderster Linie zuerkennt. Auch ihm geht es um Authentizität und nicht um eine Illusion. Wahrheit soll sich bekunden und damit finden sich Ähnlichkeiten auch zur Arbeit von Antje Velsinger. Konventionen werden gemieden und es geht um das Experimentieren mit völlig neuen Möglichkeiten, die sich aus dem Tanz und dem Ausdruck des Tanzens ergeben.
Auch die Autorin verfolgt somit eine Art des Dekonstruktivismus und bezieht beispielsweise als philosophisch und intellektuellen Background Gilles Deleuze, Roland Barthes und Michel Foucault mit ein. Auch Judith Butler ist als feministische Philosophin hier ein entscheidender Blickpunkt. Die Zuschauer gerieren hier zu Mitprotagonisten, die interessiert und emotional berührt die Szene verfolgen, um so den eigenen gesellschaftlich relevanten Beitrag irgendwann leisten zu können.
Vor allem sind es auch die Arbeiten von Antonia Baehr (*1970), auf die sich Velsinger als Inspirationsquelle bezieht. Tiere werden in ihrer Körperlichkeit ebenso thematisiert und berühren damit einen ethischen Bereich, der vielfach dahingehend diskutiert wird, wie der Mensch mit Tieren umgeht. Auch hier geht es um Beziehungen und wie jene einzuschätzen sind. Die Bilder, die Bildlichkeit des Körperlichen wird kreiert und Velsinger fragt danach, wo die Grenzen liegen. So geht es ihr auch im Besonderen darum, den Unterschied zwischen der Einschätzung des Körperlichen und der Sprache bei Judith Butler hervorzuheben. Als Kontrast nennt sie die Interpretation der Körperlichkeit im 18. Jahrhundert und zeigt die sehr speziellen Möglichkeiten und Auswüchse der Haartracht/Frisur jener Zeit.
Velsinger arbeitet mit Masken, die dennoch nichts verdecken sollen, sondern um den Ausdruck für ein bestimmtes Alter zu finden und so geht es erneut um das Verhältnis zwischen dem Darsteller, der eben nicht nur etwas zur Schau stellt, und dem Publikum. So wird auch der Fotograf und Illustrator Jiri Stach genannt, der Gesichter in vielfältiger Weise verändert und sie in völlig neuen Visualitäten geradezu zelebriert. Obszön sind seine Fotoarbeiten nicht, eher tiefgründig und teilweise verstörend, weil von ihm bewusst so angelegt, um in dieser Weise vom Publikum interpretiert werden zu können. Die Erscheinung eines Neuen und Anderen steht hier im Mittelpunkt, der experimentellen Arbeiten. Alles ist eigentlich nur Schein und es gilt, jenen Schein zu hinterfragen, um dennoch der Illusion nicht zu verfallen. Das Buch der Autorin Antje Velsinger ist in englischer Sprache erschienen und es lohnt sich, es im Original zu lesen.
Titel: The Bodies We Are (Not) - A Choreographic Research on Practicing Self-Distancing
Autorin: Antje Velsinger
Verlag: Transcript, Bielefeld 2024
Umfang: 208 Seiten. Sprache: Englisch
ISBN: 978-3-8376-7090-5