Die wohl spektakulärste Art, sich als Künstler die documenta-Teilnahme zu sichern, ist, sich dort reinzuschmuggeln. Genau das hat der Held in Saehrendts Roman versucht. Rowena Fuß hat das äußerst unterhaltsame Werk über ein gescheitertes Künstlerdasein und dessen Comeback gelesen.
Die Künstlerliste der documenta (13) steht. Ein Name wird sich jedoch gewiss nicht darauf finden: Ronald Läpplinger. Dieser liegt im Koma, dank einer Aktion, die jeden Guerilla-Kämpfer oder Partisanen stolz gemacht hätte und mit der er sich die Teilnahme hatte sichern wollen. Um dem inflationären Gebrauch des Kunst-Begriffes zu begegnen, wollte er an verschiedenen Orten in Kassel immer wieder auf- und abtauchen, angefangen bei der Eröffnung im Fridericianum. Doch die Aktion lief schief, wie vieles andere in Läpplingers Leben.
Dieser „Held der zeitgenössischen (Aktions)Kunst“ ist der eigentlich größte Bluff im ersten Roman des Kunsthistorikers Christian Saehrendt. Denn: Er existiert nicht. Auch der tatsächlich vorhandene Eintrag bei facebook kann darüber nicht hinwegtäuschen. Über Sinn und Unsinn des Ganzen gibt das Vorwort Auskunft. Hier erklärt Saehrendt, dass er im Herbst 2012 (!) von Läpplingers Familie, seinen Freunden und Kollegen gebeten wurde, die Tagebücher des Künstlers zu kommentieren und zu veröffentlichen. Er selbst kenne „Ronny“ vom Bierautomaten in der Mensa der Hamburger Hochschule für bildende Künste.
In insgesamt drei Tagebüchern erfährt der Leser mehr über den Performance- und Konzeptkünstler Ronald Läpplinger: Aufgewachsen im baden-württembergischen Böblingen, ging er erst an die Hamburger Kunstakademie, dann in die Welt. Nach Stationen in London und New York kehrt er in das elterliche Anwesen und zu „d’Muddr“ zurück. Den Abstieg in die Provinz betrachtet er jedoch nicht negativ oder gar als Anzeichen des Scheiterns. Nein, für ihn zeugt es von wahrer Charakterstärke, sich den Daheimgebliebenen zu stellen. »Sich wegducken im Künstlerproletariat einer Großstadt – das kann jeder«, so Läpplinger in seinem ersten Tagebuch von 2010.
Auf der Suche nach sich selbst liegt „Ronny“ nun tagelang bekifft auf dem Bett seines Jugendzimmers, mampft Pralinen und hört Heavy Metal. Oder er döst volltrunken in einer Freibad-Liege neben »Ledermumien undefinierbaren Alters«, die bei jedem weiteren Besuch weniger werden. Daneben widmet er sich einer Serie von Selbstporträts. Doch Inspiration zu finden ist schwierig. Ein knapp zweistündiger Museumsbesuch wird als »Gewaltmarsch« beschrieben, am Ende ist Läpplinger »brutalst gebeugt von 500 Jahren Kunstgeschichte«. Die Zweifel vor, während und nach der Herstellung der Werke kulminieren in einer Aussage seines Sohnes Ben über das »Selbstbildnis in Picasso-Unterhose«: »Sieht voll behindert aus«. Für seine Malerei ist der Sohnemann auch in weiteren Gesprächen nicht zu erwärmen — wie auch potentielle Käufer—, wohl aber für seine Aktionskunst.
Aus seiner Lethargie wird Läpplinger durch einen Autounfall gerissen, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Vergessen ist der Neid auf den Erfolg seines Arbeitgebers und Künstlerkollegen Vittorio Bernasconi (ein Abziehbild des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi), bei dem er als Künstlerassistent eingestellt ist. Vergessen die verflossene Liebe zu seiner Mäzenin Monika und die wenig erfolgreichen Ausstellungen sowie belanglosen Presseporträts. Mit neuer Energie bereitet Läpplinger sein Comeback vor. Da er sich selbst in den alten Sachen seiner Jugend nicht gefunden hat und auch seine aktuellen Selbstporträts unverkauft blieben, beginnt er eine Vernichtungsaktion im Elternhaus. Mit tatkräftiger Unterstützung durch seinen Sohn wird die gesamte Inneneinrichtung nebst seiner Werke auf die Straße befördert. Im Innern des Elternhauses erschaffen „Ronny“ und Ben mittels viel weißer Farbe einen White Cube, außen streichen sie das Haus schwarz. Einziges Ausstellungsobjekt ist Läpplinger selbst.
Der Slogan »Die Kunst des Schlafens« auf einem Bettengeschäft in Böblingen bringt Ronald Läpplinger schließlich auf die Idee, wie er sein Comeback gestalten muss. Schauplatz soll die documenta (13) werden. Er beschließt die Ausstellung als Kunstpirat zu entern und will zur Eröffnung eine Performance des Verschwindens abziehen, indem er auftaucht und dann in Nebelschwaden verschwindet. Schließlich sei, so Läpplinger, die Kunstgeschichte geprägt von der An- und Abwesenheit des Kunstwerks. Als Beispiel führt er Reliquien an, die nur zu bestimmten Zeiten den Gläubigen präsentiert, dann wieder weggeschlossen wurden. Seine Aktion endet jedoch anders als geplant: Vom SEK als Terrorist eingestuft, wird Läpplinger auf der Eröffnung gestoppt. Die Festnahme auf der Balustrade im Fridericianum erfolgt nicht unproblematisch: „Ronny“ fällt vom Geländer und durch das Schädel-Hirn-Trauma ins Koma. — Radikaler kann ein Verschwinden, eine Absenz, nun wirklich nicht sein.
Christian Saehrendt hat mit »Die radikale Absenz des Ronny Läpplinger« nicht nur eine Satire auf den Kunstbetrieb und das Künstlerdasein geschrieben, sondern auch seine schlimmsten Alpträume zu Papier gebracht. Denn Saehrendt hat selbst Kunst in Hamburg studiert, bevor er zur Kunstgeschichte wechselte und in Heidelberg mit einer Arbeit über Ernst Ludwig Kirchner promovierte. Seitdem ist er als Publizist erfolgreich. Sein erster Roman liest sich zügig hintereinander weg. Die Umgangssprache, die teils mit schwäbischen Dialektwörtern wie »dr Muddr« oder »Heisle« versetzt ist, wird durch die Zitate berühmter Autoren und Maler aufgewertet. Darunter befinden sich Friedrich Nietzsche, Peter Sloterdijk, Ernst Ludwig Kirchner, Joseph Beuys und Damien Hirst.
Saehrendt hat es zudem verstanden, aus der Frage nach der tatsächlichen Existenz des Künstlers Ronald Läpplinger ein Verwirrspiel zu machen. Doch über die Datierung von Ereignissen sowie Aussagen der Familie und Freunde kommt man ihm auf die Schliche. Nicht zuletzt sind sämtliche im Buch präsentierten Arbeiten Läpplingers von Noyau alias Yves Nussbaum gemalt worden, ein Schweizer Zeichner, Illustrator und Maler. Der witzige und anregende Roman ist trotzdem wärmstens jedem documenta-Besucher und Kunstliebhaber zu empfehlen!