Vergangenen Samstag starb mit 85 Jahren der Wiener Aktionist Günter Brus. Der Kunsthistoriker Sebastian C. Strenger lernte durch seine Freundschaft zum größten Wiener Aktionismus Sammler Philipp Konzett das Kapitel einer der radikalsten und innovativsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts mit all seinen Akteuren wie kein Anderer kennen. Zuletzt traf er Brus ein halbes Jahr vor seinem Tod. Ein Nachruf auf den letzten Protagonisten des Wiener Aktionismus und dessen Bedeutung für die Kunstgeschichte.
Schläge wurden verteilt. Ein Künstler entblößte und ritzte sich, man urinierte in Gläser, beschmierte sich mit Schmutz und onanierte auf Österreichs Flagge. Währenddessen ertönte Musik, unter anderem die Nationalhymne; einer las pornografische Texte vor. Wien, Ende der Sechziger. Was in den Wohnungen und Ateliers der Künstler begonnen hatte, wurde nun auf die große Bühne gehoben und führte zum öffentlichen Tabubruch. Am 7. Juni 1968 wohnten 500 Zuschauer der Performance »Kunst und Revolution« in einem Hörsaal der Universität bei. Ganz Wien ereiferte sich über die »Uni-Ferkelei«. Der Frontalangriff auf die bürgerliche Gesellschaft, die damals von Gegenwartskunst ohnehin meist nicht viel hielt, brachte den Künstlern vor allem eines: die erwünschte Bekanntheit.
Ganz bewusst suchte der Wiener Aktionismus in seiner heißen Phase von 1962 bis 1970 die Konfrontation mit den staatlichen und kirchlichen Autoritäten. Der Staat antwortete auf die Uni-Performance mit Gefängnisstrafen für Günter Brus, Otto Muehl und Oswald Wiener. Auch Peter Weibel, zuletzt verstorbener Chef des Medienkunstzentrums ZKM in Karlsruhe, war bei »Kunst und Revolution« dabei, kam aber ohne Strafe davon, während VALIE EXPORT die Teilnahme gleich mit den Worten abgelehnt hatte: »Spinnst? I’ hab’ a Kind!« Nach der amerikanischen Happening Kunst und der Verbreitung von Fluxus schlugen die Österreicher Brus und Muehl sowie Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler ein neues Kapitel der Kunstgeschichte auf. Es entstand ein anderes Verständnis von Kunst: »Kunst ist, wenn man das durchsteht, was einem die Gesellschaft abräht«, wie Brus einmal in seiner Sammlung »Theoretischer Posesien« sagte.
Seit den Fünfzigerjahren hatte ein verbreitetes Gefühl von der Wirkungslosigkeit der modernen Kunst viele Künstler:innen dazu gebracht, nach neuen, radikalen Wegen zu suchen. Den Aktionisten der ersten Stunde folgten mit ihnen verbundene, befreundete Künstler wie Kurt Kren oder VALIE EXPORT, die heute als sogenannte zweite Generation im Wiener Aktionismus gelten. Sie haben zur weiteren Transformation dieser Strömung erheblich beigetragen. Neben Malerei, Collagen, Filmen, Fotografien, Grafiken und Aktionsrequisiten wurden von allen Beteiligten oft auch Skizzen und Künstlerbücher gefertigt. Diese Relikte sind entscheidend, um die damalige Zeit zu begreifen.
Günter Brus weitete seit seiner ersten Aktion »Ana« - benannt nach seiner Frau - von 1964 die Malerei radikal ins Körperliche aus und erhob den eigenen Leib zum Mittelpunkt seiner Kunst. Bei Rasierklingen-Aktionen stülpte er das Innerste nach außen. Während Schwarzkogler die Verletzungen mit der scharfen Klinge nur angedeutet inszenierte, um dadurch die Gewalt der sozialen Zwänge sichtbar zu machen, schreckte Brus vor echten Verletzungen nicht zurück. Es war die Zeit, in der man im Brus’schen Selbstverständnis Opfer bringen musste. Fast alle der Aktionisten handelten sich irgendwann Gefängnisstrafen ein, aber meist setzten sie sich rechtzeitig vor dem Vollzug ins Ausland ab. West-Berlin war das bevorzugte Ziel. Am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg wurde das von Oswald Wiener und anderen gegründete Lokal »Exil« zum Dreh- und Angelpunkt und zum neuen Wohnzimmer der geflüchteten Avangarde. Letztlich besiegelte der Exodus aber das Schicksal des Wiener Aktionismus. Brus wandte sich von der Aktionskunst ab und beschränkte sich seit den Siebzigern ausschließlich auf sein zeichnerisches und literarisches Werk. Er entwickelte Bild-Dichtungen und veröffentlichte den Roman »Irrwisch«. Seit seiner großen Retrospektive »Störungszonen« 2016 im Berliner Martin-Gropius-Bau erfuhr Brus zusehends internationale Beachtung, die sich letztlich auch in sprunghaften Preissteigerungen im Handel äußerte.
Der Wiener Aktionismus ist ein spannendes, aber auch sehr anspruchsvolles Thema, zudem eines mit sehr heiklen Facetten wie einem sexuellen Missbrauch durch Otto Muehl. Der Strömung ging es um ein radikale und »wahre« Kunst, um eine Kunst nach der Zerstörung des Tafelbilds. Es war ein Exzess, der acht Jahre rund um die Uhr lief. Bei dem das Schüttbild erfunden wurde und die Künstler, während sie in den Aktionen an ihre körperlichen Grenzen gingen, strafrechtlich verfolgt wurden. Die Wiener Avantgarde wirkt bis heute nach. Künstler wie Paul McCarthy oder Jonathan Meese, John Bock oder Bjarne Melgaard bewegen sich unübersehbar auf den Pfaden von Brus, Nitsch & Co., und in Wien hält das Künstlerkollektiv Gelitin (bis 2005 Gelatin) auf burleske, überbordende Weise das Erbe der Aktionistengroßväter hoch. Mit Christian Eisenberger gibt es eine vierte Wiener Generation. Wie 1965 der weiß bemalte Brus vom Heldenplatz zum Stephansdom lief, so bewegte sich beispielsweise 2008 der 30-jährige Eisenberger im Clownskostüm und mit Sprengstoffgürtel durch das Londoner Bankenviertel, inklusive echter Verhaftung. Das erinnert doch sehr an den jungen Brus, der mit seinem »Wiener Spaziergang« mal eben die Urban- und Street-Art erfand!
Am 6. Juli 1965 verliess Günter Brus die »Galerie Junge Generation« in Wien und ging mit der Aktion »Wiener Spaziergang« als lebendiges Gemälde in die städtische Öffentlichkeit. Er traf auf ein noch rückwärtsgewandtes Wien, das nicht auf die performative Kunst und die Aktionen der Wiener Aktionisten vorbereitet war, mit denen Hermann Nitsch, Otto Muehl, Rudolf Schwarzkogler oder Günter Bruss Zeichen eines radikalen Aufbegehrens gegen die bürgerlichen Konventionen setzen und die staatlichen Institutionen in Aufruhr versetzen wollten.
Zu dieser Zeit erhielt der an der klassischen Moderne orientierte Künstler Walter Eckert den Preis für Malerei der Stadt Wien. In Simmering eröffnete ein Heimatmuseum und der Volks- und Filmschauspieler Hans Moser wurde mit einer Gedenktafel bedacht. Die österreichische Hauptstadt schmückte sich zudem mit ihrer ersten »Wolfsschanzengasse« (nach einen Befestigungswerk am linken Donauufer) im Stadtteil Floridsdorf. »Die Vorbereitung dieser Aktion«, erinnerte Brus 1989 über die Planung seines Spaziergangs, »war freilich von einer mehr oder minder großen Nervosität begleitet. Otto Muehl half mir beim Einfärben meiner Gestalt. Ludwig Hoffenreich sagte zwischendurch seufzend:,Kinder, Kinder, das gibt entweder Irrenhaus oder Gefängnis!' Ich gebe zu, daß ich von seinen Visionen nicht ganz frei war.«
Ludwig Hoffenreich war der Fotograf, der die Aktion dokumentierte. 1989 brachten er und Günter Brus mithilfe der Galerien Krinzinger und Heike Curtze eine Mappen-Edition des Wiener Spaziergangs heraus: 16 Schwarz-Weiß-Fotografien im Format 39 x 39 cm, die Auflage von 35 Exemplaren befindet sich heute überwiegend in internationalen Museen. Die Fotos zeigen den Ablauf des Spaziergangs. Auf Bromsilber-Gelatineabzug trifft der Künstler an der Ecke Bräunerstraße/Stallburggasse auf einen Polizisten und wird festgenommen. Der Grund der Festnahme lässt sich anhand des Fotos eigentlich nicht erklären. Zu sehen ist ein vollkommen weiß angemalter junger Mann im Anzug, selbst Gesicht und Haare sind weiß eingefärbt. In seiner Körpermitte allerdings verläuft vom Scheitel bis zur Sohle eine zackig schwarze Linie. Reißverschluss – Stacheldraht – eine Wunde? Die Leute, die auf den weiteren Bildern zu sehen sind, schauen belustigt oder auch verstört bis verschreckt. Nach der Festnahme des Künstlers bringt man ihn zur nächstgelegenen Wachstube. Die Personalien werden festgestellt und man setzt ihn in ein Taxi, um weiteres Aufsehen zu vermeiden. Dazu meint er einmal zu mir, »dass das Wien zu dieser Zeit einfach jeden Menschen, der irgendwie anders kostümiert war, als nicht zumutbar empfunden hat. Außer Rauchfangkehrer (Schornsteinfeger), die es vielleicht noch gab, oder Bäckermeister, die in Weiß um die Ecke kamen, oder ein Koch. Aber alles, was über diese Art der herkömmlichen Kostümierung ging, war einfach verdächtig.«
Das autoritäre Klima der Zeit machte dem sonst unauffälligen bis schüchternen Wiener Kunststudenten zu schaffen, provozierte ihn aber auch, die Grenzen der Malerei auszuloten. Sein »Wiener Spaziergang« ist der recht harmlose Auftakt zu folgenschwereren Aktionen. Brus begann seinen Körper zur Skulptur zu machen. Er konzentrierte sich auf alle möglichen Körperfunktionen und -ausscheidungen, was ihn 1968 in einer Aktion an der Wiener Universität dazu verleitete, auf das Rednerpult zu klettern, auf die Bundesfahne zu urinieren, sich umzudrehen, zu defäkieren und dazu die Bundeshymne zu singen. Damit erreichte der Skandal um Brus eine neue Qualität. Er wurde angeklagt und verurteilt, flüchtete vor Polizei und Justiz aus Wien und ging nach Westberlin ins Exil.
An die Stelle der »Selbstbemalung« trat nun die »Selbstverletzung«, wie seine Aktion 1970 in München demonstrierte, wo er sich mit einer Rasierklinge in Kopf, Brust und Beine schnitt, sich dann mit seinem Blut bemalte und sich in aller Öffentlichkeit wieder zusammennähte. Diese »Zerreißprobe« war dann auch der Schlusspunkt seiner Aktionskunst. 1979 durfte er zurück nach Österreich. Nicht ganz 20 Jahre später wurde ihm der Große Staatspreis (1997) verliehen und 2011 eröffnete in Graz sein eigenes Museum – das »Bruseum«. Brus galt fortan als rehabilitiert.
Heute kann man wahrlich sagen, die wenigsten Menschen kennen den Wiener Aktionismus aus eigener Anschauung, sondern meist nur durch die Linsen des Filmemachers Kurt Kren oder des Fotografen Ludwig Hoffenreich. Die vier Künstler, die das Ganze losgetreten hatten, erkannten rasch die Notwendigkeit, ihre Aktionen über den vergänglichen Moment hinaus zu erhalten und damit die Rezeption mitzubestimmen.
Mit Günter Brus ist nun der letzte Wiener Aktionist von Bord gegangen. Noch vor einem halben Jahr traf ich ihn und musste feststellen, dass er bereits mit seiner zittrigen Hand seine Signatur nicht mehr auf ein Blatt bringen konnte, ohne das diese anschließend als Fälschung betrachtet würde. Nun schließt sich mit dem Tod von Günter Brus das historische Kapitel einer der radikalsten und innovativsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts. Einen kleinen Trost gibt es dennoch: Generationen werden folgen.