Die umfassende Retrospektivausstellung des Werks des österreichischen Aktivisten Otto Muehl ist inzwischen soweit vorangeschritten, dass Günter Baumann ein erstes Resümee ziehen kann. Die Kuratoren Diethard und Rudolf Leopold, die immerhin den Namen des Wiener Hauses in die Waagschale geworfen haben und bis in die Hängung der rund 100 Arbeiten verantwortlich zeichneten, dürften sich einigermaßen beruhigt zurücklehnen.
Die Schau war und ist nicht unumstritten: geht es doch um einen Künstler, der fast sieben Jahre lang im Gefängnis saß – was freilich weder juristisch noch kuratorisch ein Problem darstellt bzw. stellen darf –; die eigentliche Sprengkraft war, dass der gegen die Opfer nach wie vor recht uneinsichtige Muehl wegen Sittlichkeitsdelikten, insbesondere Unzucht mit Minderjährigen und Vergewaltigung verurteilt wurde (zudem wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz und wegen Zeugenbeeinflussung). Da sich die offensichtliche Gewaltbereitschaft mitsamt der sexuellen Phantasien unmittelbar auch im Werk widerspiegelt, stellte sich von Anfang an die Frage: Darf oder soll man das Werk Otto Muehls, neben Günter Brus, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler Hauptvertreter des Wiener Aktionismus, dessen Aggressionspotential nicht gerade gering war und keinerlei Tabus bis hin zur Selbstverstümmelung kannte, überhaupt zur Schau stellen? Nun mag nicht jeder die Blutorgien-Phantasmagorien eines Nitsch schätzen, aber die unverkennbar symbolische Ebene würde selbst im Sinne des Tierschutzes eine wirklich angreifbare Stelle bieten; und Schwarzkoglers oder Brus' Aktionen gegen die eigene Person ließen sich im aufgeklärten Zeitalter allenfalls moralisch beanstanden. Wie verhält es sich aber, wenn ein tatsächliches Vergehen wie Kindsmissbrauch bzw. Vergewaltigung das Motiv gibt für eine Kunst, die im Rahmen einer Werkausstellung in einem der renommiertesten Museen des Landes gezeigt wird? Mehr noch: Die von Muehl in den 1970er Jahren gegründete sektenähnliche Kommune »AAO« in Friedrichshof (Burgenland), wo die Opfer mit einer grausigen Systematik geschändet wurden, wurde später von dem Künstler als Gesamtkunstwerk verklärt – Leben und Kunst als denkbar unglückliche Einheit.
Die Ausstellungsmacher haben es sich nicht leicht gemacht. Ohne Frage ehrt das Leopold-Museum einen großen Künstler zum 85. Geburtstag, der seine Strafe abgesessen hat. Penibel wurde darauf geachtet, dass kein erkennbares Opfer in der präsentierten, ohnehin wild-gestischen Malerei zu erkennen ist, und Muehl lenkte seinerseits soweit ein, zur Eröffnung eine leider halbherzige Entschuldigung verlesen zu lassen. Das Risiko des Scheiterns dieser Ausstellung lag nun beim Hausherrn, ein Wagnis, das er mit Bedacht und mit einem Selbstverpflichtungspaket einging. Die Person Muehls trat bewusst in den Hintergrund (was erstmals auch einen Versuch ermöglicht, das Werk separat zu betrachten), die Gruppierungen und Verbände von Geschädigten und Gegner wurden miteingebunden (was zu notwendigen offenen Gesprächen führte), und das Museum betonte ihre Missbilligung der Vergehen, indem es der Tragik mit offenem Visier begegnete. Es ist eine Gratwanderung, auf die man sonst kaum trifft, und es ist auch ein Appell, der Kunst eine Chance zu geben, sich zu bewähren. Für die Unternehmung mag ein anderer Fall sprechen, der – wenn auch kurz – in diesem Jahr durch die Medien ging am Rande der vielen Ausstellungen zu Ernst Ludwig Kirchner. Zwar scheint der Vorwurf der Nötigung Minderjähriger allzu vage sein, aber man denke sich nur, der Künstler würde postum als Kinderschänder dastehen: Dürfte man das künstlerische Werk – das zum Inbegriff des deutschen Expressionismus gehört –, das ja oft genug auch die jungen, begehrten Modelle abbildet, nicht mehr zeigen? Das Leopold Museum nimmt da indirekt Stellung: Die Taten mögen verabscheuungswürdig sein, und man darf nichts beschönigen und selbst die Kunst nicht freisprechen – vielmehr ist ein kritisches Auge gefragt. Und das hat im Fall Muehls saubere (und durchaus noch arg pikante) Werkgruppen gelten lassen: Arbeiten der 1960er Jahre; Selbstdarstellungen der Kommune-Zeit; figurative Arbeiten der frühen 1980er Jahre; »Köpfe« bzw. Grimassen der selben Phase; das Thema der Sexualität bis Mitte der 1980er Jahre; Materialbilder bis 1990; die »Vincent«-Serie mit Paraphrasen zu Vincent van Gogh der mittleren 1980er Jahre; die Pop-Art-Konturen aus der Gefängniszeit; Landschaften aus der Wahlheimat Portugal; nicht zuletzt Arbeiten auf Papier. Das macht das gültige Werk von Otto Muehl aus, mehr ist wohl dazu nicht zu schaffen.