Das Kinderalbum beleuchtet eine bisher unbekannte Seite von Otto Dix. Denn der Verist unterhielt seine Kinder und Enkel während so manches Spaziergangs gern mit bunten abenteuerlichen Geschichten. Lennart Petersen hat sich den Bildern zu Indianern, Seeungeheuern & Co. gewidmet.
Otto Dix und Malerei für Kinder zusammenzudenken, das dürfte den meisten Kunstinteressierten angesichts der typisch Dix'schen Motivik von den Albträumen des Krieges oder der zwielichtigen Welt der Prostituierten, Kriminellen und Versehrten durchaus schwer fallen. Mit dem von Dieter Gleisberg herausgegebenen ›Kinderalbum‹ des Malers gibt es nun einen einfachen Zugang zu jener Bilderwelt, die Otto Dix seinen eigenen Kindern und seiner Enkelin schuf. In ihr ist sowohl der altbekannte als auch ein ungewohnter, spielerischer Dix zu finden.
Zu Beginn ist festzustellen, dass die Titelwahl des Herausgebers etwas ungenau bleibt, handelt es sich bei dem im Buch Dargestellten doch weniger um ein in sich geschlossenes Album, als vielmehr um fünf nebeneinander stehende und nacheinander – teils mit deutlichem zeitlichen Abstand – entstandene Bilderalben. Das Besondere an ihnen ist wohl, dass sie, erschaffen für Söhne, Tochter und Enkelin, recht ungezwungen und ohne den sonst vorhandenen, öffentlich-künstlerischen Rahmen der Malerei zur Entstehung kamen, letztlich also dem Hausgebrauch zugedacht waren. Sie enthalten eine auf den ersten Blick für Dix eher untypische – man mag vielleicht sagen: freiere – Motivik, die sich ebenso aus mitteleuropäischen Kinderzimmerträumereien speisen mag wie aus alltäglichen, familiären Verhältnissen.
Es ist bemerkenswert, dass die fünf Kinderalben vom Zeitgeschehen unberührte, sich innerhalb der Alben aber wiederholende Motive enthalten, wiewohl einige von ihnen in den 20ern, andere in den 30ern und das letzte 1955 entstand. Sie unterscheiden sich vor allem nach dem Geschlecht der Kinder, an die sie adressiert sind. Jungen und Mädchen stellte Dix unterschiedliche Bildwelten zur Verfügung: Abenteuer und Kampf stehen Häuslichkeit und Familie gegenüber.
Ein genauerer Blick auf die Bilder, die sich an die Söhne richten, zeigt die Urgewalt, das Mächtige und Aufregende, zu dem Dix Malerei fähig ist. Es ist vor allem der Typus Abenteuergeschichte, der hier von Bild zu Bild neu erzählt, neu situiert wird: Tiefseetaucher kämpfen gegen Meeresgetier, Urzeitmenschen ringen mit einem Mammut, Araber und Inder mit Tigern. Daneben bereichern anregende Szenen im Zirkus, bei Straßenkünstlern, beim Drachensteigen, ein US-amerikanisches Stadtporträt oder auch eine Darstellung des heimischen Waldes die kindliche Fantasie. Münchhausen hat ebenso seinen Platz wie federgeschmückte Indianer oder der Schiffe verschlingende Leviathan. Und auch schaurige, albtraumhafte Gestalten, die man Otto Dix wohl am ehesten zugetraut hätte, finden sich, durchaus in drastischer, schrecklicher Weise, jedoch hier eingewoben in eine karnevaleske Umgebung, dort als durch die Nacht fliegende Hexen, schließlich als Totentanz im Mondenschein bleich leuchtender Skelette. Es sind Momentaufnahmen, jedes für sich eine unvollendete Erzählung, in die auch noch ein Erwachsener mühelos einzutauchen imstande ist.
Wirft man hingegen einen Blick in die Alben der Mädchen, sieht man sich häuslichen Szenarien gegenüber, in denen es allein aufgrund von Farbgebung und -gestaltung deutlich ruhiger zugeht. Neben Darstellungen der Tierwelt und des Waldes reihen sich Bilder familiärer Realitäten aneinander: das Waschen und Trocknen der Wäsche, eine Dienerschaft bei der Arbeit, ein Schmied beim Beschlagen eines Pferdes, ein Besuch im Zoo, Spaziergänge mit den Eltern, Sammeln von Kastanien oder Zapfen, usf. Das Bilderbuch für die Tochter Nelly aus der Zeit um 1926 enthält dabei einige Blätter mit pädagogischen Hinweisen, die einem entschärften Struwwelpeter ähneln können: Sie zeigen, beispielhaft ausgeführt, die Tochter Nelly, wie sie eine Katze quält und dann zur Strafe von dieser so sehr gekratzt wird, dass Blut fließt. »So laut sie nun auch wimmert – / Kein Mensch sich um sie kümmert«, schrieb Dix im bildbezogenen Vers dazu. Ob diese »[g]elegentliche[n] Fingerzeige auf Unarten und deren Folgen«, wie Gleisberg sie nennt, vom »Zeichner eher mit Schmunzeln denn kraft seiner väterlichen Autorität« gegeben werden, bleibe dem Leser und Betrachter der Alben überlassen.
Offensichtlich ist jedoch, dass es in der Dix'schen Bilderwelt für Kinder eine deutliche Trennung gibt zwischen dem, was er seinen Jungen, und dem, was er seinen Mädchen in die Fantasie legen wollte. Allein, qualitativ und was die Liebe zum Detail, zum Abenteuer oder zur Idylle angeht, nehmen sich die Alben nichts. Und angesichts der Schutzreflexe, denen eine Vielzahl junger moderner Eltern hinsichtlich ihrer eigenen Kinder zu unterliegen scheinen, würde man heutigen Vier- bis Fünfjährigen wohl eher das friedliche Familienleben der Dix'schen Bilder zumuten als die wilden Geisterfahrten und Abenteuerreisen der ›Jungsalben‹. Das ist zugegebenermaßen traurig, denn im Vergleich zu dem, was heute bisweilen als Kinderbuch verkauft wird, sind die Szenarien Otto Dix' voll unverbrauchter Anregungskraft und ungezwungener Verspieltheit.
Doch kommen wir zurück zur von Gleisberg herausgegebenen Publikation. Sie besteht in erster Linie aus den fünf aufeinander folgenden Kinderalben, die ohne einen direkten Begleitkommentar auskommen. Dass Gleisberg die Bilder jeweils nur auf die rechten Seiten setzt und anordnet, sieht spätestens dann, wenn ein Bild nur eine halbe Seite füllt, etwas lieblos aus. Hier hätte es aufgrund der durchaus guten Qualität des Papiers womöglich andere Möglichkeiten gegeben. Nur im zweiten Album, eben jenem für die Tochter Nelly, lockern die Verse, die Dix zu jedem Bild rhythmisch sehr frei verfasste, auf der linken Seite die Gesamtdarstellung auf. Die Druckqualität erscheint, davon unberührt, außerordentlich scharf und farbintensiv. Ein zuweilen etwas blumig geschriebenes, gleichsam aber inhaltlich ausgreifendes und erhellendes Nachwort zu Otto Dix, seinem Werdegang und der Entstehung der Kinderalben rundet, von einigen weiteren Abbildungen ergänzt, die assoziative Offenheit der Alben sinnvoll und angenehm ab.
Eine nicht geringe Literaturauswahl zu Maler und Werk beschließt das Buch und gibt somit dem interessierten Leser eine gute Möglichkeit zur weiteren Lektüre an die Hand. Jedem, ob er sich erst seit kurzem mit Otto Dix beschäftigt oder sich als Kenner einer womöglich noch unbekannten Weise der Dix'schen Malerei öffnen will, sei dieses Buch ans Herz gelegt. Und Eltern, die ihren Sprösslingen etwas anderes als infantil verniedlichte Bildergeschichten in grellen Farben zugänglich machen wollen, ebenfalls.