Florian Illies: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. S. Fischer-Verlag

Zu den geflügelten Worten der deutschen Sprache gehört der Satz, dass «große Ereignisse ihre Schatten voraus werfen». - Wieso «Schatten», mag man sich fragen, wenn es doch große, erfreuliche Ereignisse sind? Warum nicht ein glücksverheißender «Vorschein», oder zumindest ein ahnungsvolles «Streiflicht»? - Caspar David Friedrich wurde am 5. September 1774 in Greifswald an der Ostsee geboren. Dieses Ereignis jährt sich also im kommenden Jahr zum 250. Mal; und es ist gewiss das «Highlight» des Jahres, welches schon längst im «Eventkalender» aller «Kulturmanager:innen» dick angekreuzt ist. Nun hat der Fischer-Verlag Florian Illies' «Zauber der Stille» herausgebracht. - Autor Walter Kayser meint, er sei der rechte Mann am rechten Ort zur rechten Zeit, um sich vergnüglich auf das kunsthistorische Ereignis des kommenden Jahres einzustimmen.

Cover © S. Fischer Verlag
Cover © S. Fischer Verlag

In der Stiftung Oskar Reinhardt in Winterthur hat das Jubeljahr schon begonnen. Hierhin hat es die berühmten «Kreidefelsen von Rügen» verschlagen, ein Gemälde, das noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ein verkannter Karl Blechen über dem Kinderbettchen der großen Fotografin Giséle Freund in Berlin hing. Die Hamburger Kunsthalle wird in Kürze folgen. Mehr als 60 Gemälde und über 100 Zeichnungen des größten Romantikers sollen dann bis zum 1. April im Kreis seiner künstlerischen Freunde und Freundinnen zu sehen sein. Danach werden etliche der Leihgaben in die Alte Nationalgalerie in Berlin (19.4.- 4.8.2024) und die Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden folgen. Und natürlich möchte auch Greifswald den berühmten Sohn der Stadt gebührend feiern. Nicht weniger als 160 Veranstaltungen sind hier geplant, «für jeden Geschmack etwas», wie der Flyer verkündet, der diesem Buch beigelegt ist. Was immer das heißen mag.

Caspar David Friedrich: Wiesen bei Greifswald (1821-22) © Hamburger Kunsthalle
Caspar David Friedrich: Wiesen bei Greifswald (1821-22) © Hamburger Kunsthalle

Zur Einstimmung also Florian Illies. Die Geheimrezeptur, nach der er ein ums andere Mal so kurzweilige und erfolgreiche Bücher schreibt, enthält eine ganze Reihe von wirkungsvollen Ingredienzien:
1. Der erfolgreiche Journalist, Kunstgeschichtler, Herausgeber, Kurator, Auktionator oder ganz schlicht: der Schriftsteller bedient unsere voyeuristische Lust an jeder Form von kleinkarierten Klatsch und Tratsch. Es menschelt allenthalben, das erfüllt uns mit Genugtuung. Die VIPs, deren Peinlichkeiten und alltäglichen Verstrickungen sein «people journalism» genüsslich aufdeckt, sind freilich nicht etwa die Royals oder Starlets der Regenbogenpresse, sondern die scheinbar sattsam bekannten Namen und gestandenen Größen der Kulturgeschichte. Illies weiß, wann und wo sie schwächelten, er kennt all ihre Untiefen und deren Hintergründe. Er versteht es, unseren klammheimlichen Hunger auf private Details zu bedienen, selbst wenn es um den Dichter seines Herzens, Gottfried Benn, geht oder eben um den Maler seines Herzens, seine «spät entdeckte große Liebe», diesen kauzigen und melancholischen Pommern Caspar David Friedrich.
2. und notwendige Voraussetzung für eine solche Schlüssellochperspektie: äußerst akribische Recherchearbeit. Das Buch quillt über von verblüffenden Informationen, gerade und ganz besonders, wenn der Autor dem Belanglosen bis in all seine Verästelungen nachspürt. 'Wie kann man nur so etwas in Erfahrung bringen?', fragt sich die Lerser:in immer wieder aufs Neue erstaunt. - Antwort: Nur ein genaues Studium aller Briefe, etlicher Berichte und der kleinsten Archivschnipsel verleiht dem Autor die Aura eines allwissenden auktorialen Erzählers, der wie ein Olympier auf seiner Wolke über den Geschehnissen dahinschwebt.
3. die Leichtigkeit des Tons und des Aufbaus: Illies' Bücher, ob sie nun von 1913 und dem Anbruch der Moderne handeln oder den Irrungen und Wirrungen des Liebeslebens in den 30er Jahren bis in die letzte Peinlichkeit nachgehen, setzen sich aus verschlungenen Miniaturen und Momentaufnahmen zusammen. Die Zeit wird sozusagen in mundgerechte Häppchen nach dem Prinzip der filmischen Schnittfolge montiert. Dabei betrachtet der Autor die Menschen und Geschehnisse stets mit der liebevollen Ironie eines Thomas Mann. Er deckt unerwartete, geheime Bezüge auf, und verblüfft und anerkennend müssen wir fast auf jeder Seite gestehen, dass wir uns diese Fülle an Einzel- und Ungeheuerlichkeiten nicht im Traume hätten ausmalen können.
4. der eingängige Stil des Autors: Auch in diesem Buch entpuppt sich lllies einmal wieder als Meister des historischen Präsens (welches als Vergangenheitsform nur das Perfekt duldet) und der erlebten Rede. Es beginnt mit dem Satz: «Es ist ein schöner Augusttag des Jahres 1818. Leuchtende Sonne, glitzerndes Meer. Am frühen Morgen sind sie beide in Wiek auf Rügen an Bord gegangen [...]», und schon hat sich der Vorhang gehoben und wir empfinden den Zauber der unmittelbaren Zeugenschaft. Das Präsens entrahmt gleichsam jeden historischen Schinken und schneidet aus ihm detailreiche Bildfolgen, die jede zeitliche Entfernung wie weggeblasen erscheinen lassen. Wir werden von einem eindrücklichen Live-Erlebnis mitgerissen, weil Illies so tut, als sei er überall für uns dabeigewesen. Und wo die dokumentarische Verbürgtheit an ihre Grenze kommt, da malt eben seine Phantasie alle ausstehenden Ergänzungen bis in die Gedankengänge seiner Figuren hinein noch ein wenig aus. So wird Kunstgeschichte in Geschichtchen transformiert, die große epische Erzählung in viele kleine Szenen mit sorgfältig komponierten dramatischen Spannungsbögen. «Keine Ferne macht dich schwierig,/ Kommst geflogen und gebannt», möchte man mit Goethe sagen, zumal die vielen Abschnitte oft genug mit einer augenzwinkernden, lakonischen Bemerkung enden, welche die Leser:in wach hält und zum Weiterlesen animiert.

Caspar David Friedrich: Felsenriff am Meeresstrand (1824) © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Caspar David Friedrich: Felsenriff am Meeresstrand (1824) © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Im Unterschied zu einem historischen Roman (der ja ebenfalls auf genauer Recherche beruhen sollte) entwirft der Autor Illies also kein überdimensionales Zeitgemälde. Im Gegenteil, die szenischen Miniaturen, welche in harten Schnitten nebeneinandergestellt werden, machen Zeitsprünge geradezu zum Prinzip. Auf diese Weise werden vor allem die Rezeptionsgeschichte und das tragische Nachleben des Œuvres ins Zentrum gerückt und damit die vermittelte Historizität des künstlerischen Schaffens. So lässt sich der Untertitel dieses Buches und der Plural darin verstehen:«Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten».
Der Eindruck des historisch Vermittelten wird auf verschiedenen Ebenen erzeugt. Zum einen macht der Verfasser immer wieder deutlich, wie viele Gemälde des schwermütigen «Spargeltarzans mit rotem Backenbart und schleppendem Gang» (20) nach seinem Tod vernichtet wurden. Zum anderen setzt Illies an die Stelle einer chronologischen Erzählweise eine Kapiteleinteilung nach den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Das wirkt auf den ersten Blick sehr befremdlich. Umso anerkennungswürdiger ist es allerdings, wie plausibel in jedem Abschnitt das Leitmotiv motivisch und sprachlich durchgehalten wird. - Warum zum Beispiel «Feuer»? - Nun, Caspar David Friedrichs Werk wurde immer wieder durch Brände dezimiert: 150 (niemals signierte) Ölgemälde werden ihm heute zugerechnet, - nicht weniger als 500 Werke sollen verschollen sein! Den Brand des Münchner Glaspalastes am 6. Juni 1931, bei dem 110 erstklassige Romantiker-Gemälde Opfer der Flammen wurden, darunter allein neun von der Hand Friedrichs, schildert Illies mit derselben Hingabe und Liebe zum Detail wie die Zerstörungen der End-Kriegszeit oder den Brand des Geburtshauses in Greifswald 1901. Feuer allenthalben. Friedrich selbst scheint so fasziniert gewesen zu sein von flammenden Abendhimmeln und der Angst vor Bränden, dass er seiner Heimatstadt unaufgefordert detailliert ausgeklügelte Brandschutzsignale empfahl. Und das vermutlich letzte Bild zeigt Neubrandenburg, in der sein Großvater eine Schmiede mit glühender Esse unterhalten hatte und in welcher seine Mutter geboren war, - brennend.

Caspar David Friedrich: Abend (1824) © Kunsthalle Mannheim
Caspar David Friedrich: Abend (1824) © Kunsthalle Mannheim

Auch in anderer Hinsicht besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Malerei eines Caspar David Friedrich und den Urelementen. Der Gegenstand seiner inneren Gesichte, diese Imagination eines stillen, zur Andacht gemahnenden Naturraumes, welcher des äußeren Anblicks einer Landschaft nur als Anstoß und Vorwand bedurfte, wird immer amorpher, immer reduzierter. Friedrich baute in seinem Atelier abstrakt komponierte Collagen aus den naturgetreuen Vorzeichnungen zusammen, die er zuvor im Freien gamcht hatte. Goethe hatte gar nicht so Unrecht, als er wutschnaubend gegenüber Sulpiz Boisserée die Meinung vertrat: «Die Bilder von Maler Friedrich können ebensogut auf dem Kopf gesehen werden!» Denn wie bei einem Turner nur Gischt, Wasserdampf und Feuer den Weg zur Ungegenständlichkeit ebnen oder wie in den Wolkenstudien eines John Constable alle Konturen in Auflösung sind, so ist auch ein Himmel von Caspar David Friedrich Wegbereiter zur modernen Farbfeld-Malerei.
Illies erzählt, dass das Dresdner Atelier «An der Elbe 33» immer in der Hoffnung auf seltene Käufer offen stand, («ein ewiger Tag der offenen Tür»). Dafür sorgte seine Ehefrau Caroline, denn Friedrich selbst bekannte von sich: «...Doch um die Menschen nicht zu hassen,/ Muss ich den Umgang unterlassen». Und tatsächlich gaben sich der preußische König Friedrich Wilhelm, der Dichter Heinrich von Kleist, der russische Romancier Turgenjew und viele andere die Klinke in die Hand, erschraken dann aber ob der absoluten Kahlheit dieses Atelierraums und des vierschrötigen und schwerblütigen Pommern, der wortkarg und finster über seine Landschaften gebeugt saß, die Fensterläden nahezu zugeklappt hielt, damit er besser seinen inneren Gesichten von Sehnsucht nach der Unendlichkeit folgen konnte. Ab und an allerdings war unter keinen Umständen Zutritt zu gewähren: «Unmöglich», wehrte dann seine zwanzig Jahre jüngere Frau ab, «denn wissen Sie, Himmelmalen ist für ihn wie Gottesdienst!»

Das Buch wimmelt von solch schönen Anekdoten. Es sei daran erinnert, dass der Begriff für diese epische Kurzform ursprünglich «das noch nicht Herausgegebene» bedeutet, das bislang in Geheimakten Verborgene, eine mithin sehr charakteristische Nebengeschichte. Genau in diesem Metier ist Florian Illies ein unbestrittener Meister. Ihm gehen etliche solche Anekdoten ins Netz und er hebt sie vom Grund des Vergessens wie kein anderer. - Es spricht nicht für oder gegen Friedrich, wenn wir erfahren, dass der Hollywood Großmeister Walt Disney, auf Felix Saltens Bambi-Roman hingewiesen, seine Studiozeichner anwies, sein Kitz nur durch die Landschaften Caspar David Friedrichs springen zu lassen. Er hatte die Bilder in allen möglichen deutschen Museen so lieb gewonnen, dass er den Erziehungsroman des jungen Hirschen in die Sehnsuchtslandschaften der sächsischen Schweiz, des Harzes und des Ostseestrands verlegte.
Und es spricht auch nicht unbedingt für oder gegen die Qualität von Friedrichs Malerei, wenn wir erfahren, dass Adolf Hitler im Januar 1937 kurz entschlossen mit 10.000 Reichsmark den Ankauf einer «Gebirgslandschaft mit Watzmann» unterstützte, die heute noch/wieder in Berlin zu sehen ist. Nicht weil er, der gescheiterte Postkartenmaler, etwas von Landschaftsmalerei verstanden hätte, sondern weil die Ansicht des Berges (den Friedrich nie gesehen hatte) ihn an die Aussicht von seiner Berghofterrasse auf dem Obersalzberg erinnerte. Von solchen ungeahnten Schnittstellen und Zufallszusammenhängen, wie sie nur das Leben schreiben kann, zu erfahren ist einfach unterhaltsam.

Caspar David Friedrich - Meeresstrand mit Fischer (ca.1807) Belvedere Wien
Caspar David Friedrich - Meeresstrand mit Fischer (ca.1807) Belvedere Wien

Die Malerei Friedrichs hat alle Turbulenzen überstanden. Er, der größte Maler der deutschen Romantik, wenn nicht des ganzen 19. Jahrhunderts, hat es unbeschadet überlebt, dass er schon im letzten Jahrzehnt vor seinem Tod im Jahre 1830 für 70 oder 80 Jahre in diesem 19. Jahrhundert in Vergessenheit geriet. In der Gründerzeit gab es kein Museum in Deutschland, das ein Werk von ihm ausgestellt hätte. Auch der Versuch seitens der NS-Ideologie, den blonden Pommern mit den himmelblauen Augen als nordischen Ariertyp und antiwelschen Nationalisten für ihre rassistischen Belange zu requirieren, hat ihn unberührt gelassen. Dasselbe gilt für die ideologischen Vorbehalte der 68er oder den Versuch der DDR, wenig später, anlässlich des 200. Geburtstages, aus dem Maler einen frühbürgerlichen Revolutionär und damit einen Ahnherrn des real existierenden Realismus zu machen.
Das Schicksal bestimmt nicht nur im Leben der Menschen, dass sie manch krumme Wege zu gehen haben. Auch Bildern und Büchern bleibt das nicht erspart, würde Illies ergänzen: «Habent sua fata libelli» , - respektive «picturae».
Florian Illies liefert so gut wie nie eine eingehende analytische Betrachtung eines Gemäldes, sondern die Geschichten dahinter. Allein die vom spektakulären Raub aus der Frankfurter Schirn, der sich am Abend des 27. Juli 1994 in der Frankfurter Schirn ereignete und in den «Stewo», ein jugoslawischer Unterweltboss des Frankfurter Rotlichtmilieus, verstrickt war, ist atemberaubend.

Caspar David Friedrich: Nordsee im Mondlicht (1823-24) © Nationalgalerie Prag
Caspar David Friedrich: Nordsee im Mondlicht (1823-24) © Nationalgalerie Prag

In einem Punkt greift Florian Illies zu kurz. Es ist unbestritten, dass Caspar David Friedrich ziemlich stümperhaft in der Darstellung menschlicher Figuren war: die Köpfe zu klein, die Glieder unpropotioniert lang und kastenförmig. Schon beim Aktzeichnen als Akademiestudent machte man sich darüber lustig. Dass er aber aus diesem Grund seine Figuren nur von hinten wiedergegeben habe, greift zu kurz. Vielmehr zeigt Friedrich uns den «Wanderer über dem Nebelmeer», die «Frau am Fenster» oder die «Männer in Betrachtung des Mondes», die Freundesgruppen auf den Felsen am Meeresufer in erster Linie deshalb als dunkle Rückenfiguren, weil sie uns als «Repoissoirs» ein Vorbild geben sollen. Sie sind Identifikationsmodelle an kontemplativer Versenkung, weil sie Außenwelt und Innerlichkeit steigern, indem sie die Tiefe des Raums vergrößern und uns einladen, uns dem Sog der Sehnsucht in die Unendlichkeit hinzugeben.
Kürzlich, am 7. November 2023, wurde Florian Illies' «Zauber der Stille» feierlich in der Allerheiligen-Hofkirche der Münchner Residenz mit dem Ehrenpreiss des Bayerischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet. Der Ministerpräsident war verhindert. Er ließ sich durch den Leiter der Staatskanzlei und Staatsminister für Bundesnagelegenheiten und Medien, Herrn Dr. Florian Herrmann, vertreten. Der hielt die Laudatio auf den Preisträger und räumte ein, dass er das Buch, um das es ging, noch nicht gelesen habe. - Schade, da hat er etwas verpasst!


Florian Illies
Zauber der Stille.
Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten
Verlag: S. Fischer
Frankfurt am Main 2023
ISBN: 978-3-10-397252-8
254 Seiten, 25 Euro

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