Mit »1913« legt Florian Illies ein kulturgeschichtliches Erzählwerk vor, das ebenso mit Anekdoten über leidenschaftliche Affären und unerhörte Skandale vollgesogen ist, wie mit spannenden Geschichten über neue Gehversuche in Literatur, Kunst und Musik. Denn im Jahr 1913 prallen künstlerische Höhenflüge und tiefe Melancholie, Tradition und Moderne mit aller Wucht aufeinander und dokumentieren wie nah sich Blüte und Zerfall sind. Unsere Autorin Verena Paul hat das Buch für Sie gelesen.
Als ich das Buch in Händen hielt, war der erste Gedanke: Na gut, ein kulturwissenschaftliches Kalendarium des Jahres 1913, vollgestopft mit den üblichen Verdächtigen, als da wären: Thomas und Heinrich Mann, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Robert Musil, Arthur Schnitzler, Stefan George, Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler, Pablo Picasso, Henri Matisse, Gustav Klimt, Egon Schiele, Franz Marc, Paul Klee sowie Marcel Duchamp, Albert Schweitzer und Albert Einstein und nicht zu vergessen Sigmund Freud und C. G. Jung. Doch dass Florian Illies daraus ein packendes, stilistisch elegantes Erzählwerk komponieren würde, war eine sehr gelungene Überraschung. Die Monate des Jahres 1913 sind angereichert mit Geschichten, die Klatschpotential besitzen (etwa die aufwühlende Affäre zwischen Alma Mahler und Oskar Kokoschka) und die vom Autor immer wieder aufgegriffen und weitererzählt werden, sodass an keiner Stelle der Lesefluss unterbrochen wird, geschweige denn Langeweile entsteht.
Einer dieser roten Fäden ist die aus dem Louvre geraubte Mona Lisa, von der es lange Zeit keine Spur gab. Im Dezember aber taucht sie unter bizarren Umständen in Florenz wieder auf. Während das Bildnis den Louvre als Gemälde verlassen hatte, kehrte es nun, wie der Autor diagnostiziert, »als Mysterium zurück.« Indem der Geschichte von Raub und Rückgabe der Mona Lisa eine intensive Beschäftigung mit Kasimir Malewitschs Gemälde »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund« vorausgeht, unterstreicht Illies, wie eng das Gegensätzliche 1913 verzahnt ist. Lesen wir auf der einen Seite von dem im 16. Jahrhundert entstandenen Frauenporträt Leonardo da Vincis, wird uns auf der anderen Seite ein »Endpunkt der Kunst«, »die Verweigerung aller Ansprüche an den Künstler und an die Kunst – und genau damit eine der größten Selbstbehauptungen der künstlerischen Autonomie« präsentiert. Es ist also mächtig was los im Kunstbetrieb und nicht nur dort. Neben Kunst, Literatur, Musik, Wissenschaft, Sport, Mode, Klatsch und Tratsch, richtet Florian Illies nämlich das Augenmerk zugleich auf die Politik und belegt durch kurze Einwürfe, dass es auch dort unter der Oberfläche heftig brodelt.
Daher nimmt es nicht wunder, dass einige der Kunstschaffenden die Spannungen der Zeit physisch und psychisch nicht mehr ertragen und an Neurasthenie erkranken, wie etwa Robert Musil, Franz Kafka oder Bertolt Brecht. Ja, man leidet an der Moderne und sucht und findet doch kontinuierlich kreative Antworten auf sie. Kreativität lässt sich übrigens auch Florian Illies attestieren. Nicht nur, dass er uns mit leichtfüßigem Humor verzaubert, nein er öffnet mit dem kleinen Wörtchen ›vielleicht‹ kontinuierlich die Tür in ein grandioses Sprachreich, das dort beginnt, wo nicht zu Papier gebrachte Gedanken artikuliert oder mögliche Ereignisse imaginiert werden sollen. So spürte Else Lasker-Schüler »vielleicht«, dass Franz Marc aus dem Motiv des »Turms der blauen Pferde«, das eine Postkarte an sie zierte, ein »Jahrhundertbild« werden würde. Und »vielleicht« haben sich im Januar 1913 Stalin, der für vier Wochen nach Wien gekommen war, und Adolf Hitler »einmal höflich gegrüßt und den Hut gelüftet, als sie ihre Bahnen zogen durch den unendlichen Park« von Schönbrunn.
Darüber hinaus sind Illies Kommentare – etwa zu den in Hilterfingen entstandenen Werken August Mackes – nicht nur pointiert, sondern bescheren dem Leser den zusätzlichen Genuss einer perlenden, klaren Sprache. So schreibt er beispielsweise: »Es sind Bilder von solch echter, bezwingender Schönheit, dass man sie manchmal nur ertragen kann, wenn man versucht, sie als Kitsch zu denunzieren.« Der Autor nähert sich über den Weg der Kunst konstant dem Jahr 1913 an und umschreibt Georg Büchners 1913 uraufgeführtes Drama »Woyzeck« zum Beispiel wie folgt: »Es ist aber vor allem die Feier einer einzigartigen Sprache, die zwischen Halluzination und Märchen, Gosse und Poesie daherjagt und auf einen niedergeht wie ein Bussard. […] Das war ein Märchen ganz nach dem Geschmack des Jahres 1913. Untröstlich, jenseits aller Utopie, aber voller Poesie.«
Resümee: Florian Illies hat mit dem im S. Fischer Verlag erschienenen Band »1913. Der Sommer des Jahrhunderts« ein kulturgeschichtliches Füllhorn entworfen, das ich bis zum letzten Tropfen ausgetrunken habe. Daher möchte ich diese Publikation allen empfehlen, die am Aufbruch in das kurze, turbulente 20. Jahrhundert ebenso interessiert sind wie an Kafkas verkorkstem Heiratsantrag, an Louis Armstrongs erster Begegnung mit einer Trompete oder der Gründung der ersten Prada-Filiale in Mailand.