Gunnar Schmidt: Atemräume. Pneumo-ästhetische Betrachtungen. Edition Imorde

Im Altgriechischen bedeutet pneúma nicht nur Atem, sondern auch Geist, Hauch und Luft. Dieses Bedeutungsfeld lässtanklingen, dass es fluide Übergänge zwischen den körperlichen, weltlichen und gedanklichen Aspekten des Seins gibt. Mit der Stilfigur»Atemräume« werden Vorstellungen der Ausdehnung, Begrenzung, Durchlässigkeit, Endlichkeit und des Aufgehobenseins in Atmosphären ebenso zusammengefasst wie Instabilität und Unterbrechung der Gleichmäßigkeit mitschwingen. Eine Rezension von Manuela Bünzow.

Cover © Edition Imorde
Cover © Edition Imorde

»Jeder Mensch atmet« – mit dieser unzweifelhaften Tatsachenbeschreibung beginnt die kürzlich erschienene Monografie des Medien- und Kulturwissenschaftlers Gunnar Schmidt, der für die Edition Imorde bereits die Bände »Ästhetik des Oralen«, »Thermo-Ästhetik«,
»Bombenkrater oder »Mythos-Maschine« vorgelegt hat.Die entscheidende Frage, die sich der Autor direkt zu Beginn stellt, ist jedoch: »Ist das Atmen vielleicht mehr als eine Tatsache, mehr als eine augenscheinliche und in diesem Sinne ›geheimnislose Tatsache‹?«

Es ist dies angesichts der zu erwartenden Abhandlung zugegebenermaßen wohl eher eine rhetorische Frage. Denn tatsächlich findet sich die Technik und Praxis des Atmens im Laufe der Geschichte und verstärkt seit den 1920er Jahren auf unterschiedlichste Weise ästhetisch verarbeitet. Diese Vielschichtigkeit der Verarbeitung deutet sich in jenem Umstand an, dass der Autor seine Studie bewusst in einem breit gefächerten Spektrum ästhetischer Ausdrucksformen anlegt. Genauer: Gunnar Schmidt versammelt und kommentiert in der vorliegenden Publikation Texte, Bilder, Filme, Performances, Installationen, Hörstücke und Objekte, in denen das Atmen künstlerisch bearbeitet wird. In den Blick gerät so etwa ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, die kinematographische Realisierung von Samuel Becketts »Breath« durch den Maler Damien Hirst, eine Installation von Gabriella Bisetto und auch eine Verkündigungsszene von Fra Filippo Lippi aus der Frührenaissance. Freilich erfahren diese ästhetischen Ausdrucksformen jeweils kulturwissenschaftliche Einbettungen und Ausführungen. So ruft der Autor etwa Theodor W. Adorno, Jacques Derrida und Peter Sloterdijk auf, um die einzelnen Arbeiten theoretisch einzuordnen.

Die ästhetischen Erscheinungsformen des Atmens und ihre theoretischen Einordnungen fasst der Autor schließlich zu acht Gruppen zusammen, welche wie folgt verschlagwortet werden: Pneumo-Sphären, Pneumo-Ethik, Pneumo-Plastik, Pneumo-Performances, Pneumo-Pathologie (Thomas Mann), Pneumo-Schnittstellen, Pneumo-Parasitologie, Pneumo-Metaphysik (Walter Benjamin). Dabei verweist der Titel des Bandes – »Atemräume« – laut Autor Gunnar Schmidt darauf, dass diese Gruppen als Atmosphären zu verstehen sind, die einerseits implizieren, dass darin etwas aufgehoben ist. Andererseits weisen die »Atemräume« eine spezifische Ausdehnung und Begrenzung auf, mitunter erweisen sie sich aber auch als durchlässig.

Auf der Basis jener Systematisierung der Atemräume verdichten sich die Einzelbeobachtungen des Autors nach und nach zu einer »Pneumo-Ästhetik«, deren grundlegende Konzeptualisierung sich der Band zur Aufgabe macht. Der vorgestellte bzw. ausgebreitete Entwurf der »Pneumo-Ästhetik« entspricht der multiplen Semantik der Respiration. Denn die »Pneumo-Ästhetik« verbindet körperliche, weltliche und gedankliche Aspekte des Seins miteinander und reflektiert diese in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit.

Damit legt Gunnar Schmidt nicht nur eine Abhandlung vor, die das Atmen in seiner ästhetischen Dimension begreifbar macht, sondern entwickelt zugleich eine mehrdimensionale Pneumo-Ästhetik, die weit über die Medienwissenschaften hinaus eine Wirksamkeit entfalten könnte. Spannend: Die Versetzung des Pneumas in die Sphäre der Kunst erzeugt eine exzentrische Befremdung, die auf angrenzende Disziplinen intellektuell anregend wirken dürfte und sollte.


Titel: Atemräume. Pneumo-ästhetische Betrachtungen
Autor: Gunnar Schmidt
Verlag: ‎Edition Imorde
194 Seiten
ISBN-10: ‎ 3942810603
ISBN-13: ‎ 978-3942810609

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