Rezensionen

Studio Jorinde Voigt/Moody Center for the Arts (Hg.): Jorinde Voigt, On Reality - Zeichnung als Operation an der Wirklichkeit. Hatje Cantz

Die vorliegende Publikation versammelt Jorinde Voigts (*1977) aktuelle Werkgruppe On Reality, die 2022 erstmals im Rahmen der Ausstellung Experimental Strategies in Art + Music im Moody Center for the Arts, Houston, ausgestellt wurde. In diesen Arbeiten ersetzt Voigt teilweise gänzlich das Zeichnen mit dem Schnitt des Skalpells, sodass durch Schneiden, Schichten und Montieren Papierarbeiten entstehen, in denen sich das Zeichnerische ins Dreidimensionale erweitert. Voigts Idee vom künstlerischen Schaffensprozess als Operation an und Herstellen von Wirklichkeit wird hier buchstäblich umgesetzt. Eine Rezension von Patricia Kühn

Cover © Hatje Cantz Verlag
Cover © Hatje Cantz Verlag

Die Linie gilt als Ursignatur der Künstler:innen schlechthin. In vielen Kulturen gründet der Ursprung der Zeichenkunst auf dem Umreißen der Umrisse eines Schattens mittels der Linie, das als Initiationsakt der Kunst gesehen wird. Eine Zeichnung vermittelt, in ihrem dienenden Charakter als vorbereitender Entwurf wie auch als eigenständiges Kunstwerk, stets ein geistiges Prinzip. Der Zeichnung wohnt als unmittelbares Medium die Möglichkeit inne, die Bildidee der Künstler:innen als intellektuelle Leistung im zeichnerischen Transfer direkt auf Papier zu bringen. Es ist nicht überraschend, dass das Zeicheninstrument des Stiftes nicht nur das Bindeglied zwischen Zeichnung und Schrift bildet, sondern neben der gezeichneten Darstellung die Schrift seit der Frühen Neuzeit bis in die zeitgenössische Kunst selbst zum elementaren Bildelement wird – von Leonardo da Vincis wissenschaftlichen Skizzen, über Joseph Beuys, bis hin zu den komplexen Notationssystemen auf Papier von Jorinde Voigt.

Geschwungene Linien aus Tinte und Schnitte im Papier gleiten ineinander. Liniengeflechte, schriftliche Notizen und Farbflächen überlagern und verdichten sich zu höchstkomplexen Zeichensystemen. Schrift und Bild werden zum Kulminationspunkt eines Transfers von Ereignissen, Gedankenmodellen und Emotionen in künstlerischen Partituren. Eine Vielschichtigkeit an Themenkomplexen und collagierten Arbeit auf und mit Papier präsentiert die aktuelle Werkgruppe On Reality der Künstlerin Jorinde Voigt, die 2022 erstmals im Rahmen der Ausstellung Experimental Strategies in Art + Music im Moody Center for the Arts in Houston ausgestellt wurde. Die gleichnamige Publikation zeigt als Bilderband diese Werkreihe, bereichert durch ein kurzes Vorwort der kanadischen Kulturtheoretikerin, Philosophin und Künstlerin Erin Manning.

Jorinde Voigt, Studie zur Wirklichkeit 5, 2021, © Hatje Cantz
Jorinde Voigt, Studie zur Wirklichkeit 5, 2021, © Hatje Cantz

Die in Hamburg und Berlin arbeitende Künstlerin Jorinde Voigt entwickelt in ihren teilweise recht großformatigen Zeichnungen eigene Zeichensysteme und Partituren, in denen sie in einer eigenen codierten Schreibweise komplexe Phänomene ergründet, sich musikalischen Notationen bedient, philosophische Texte zugrunde legt, oder auch die eigene Sinneswahrnehmung zu visualisieren versucht. Ihre Arbeiten verstehen sich als objektive Analysen von Texten, Werken, Objekten und ihrer Umwelt, die sie in Verbindung mit subjektiven Gedanken und Eindrücken notiert. Ihre Bilder suchen nach Formen, um ihre inneren Bilder dieser Themenkomplexe in Linien, Farben und Flächen zu dekodieren. Auch in der Werkgruppe On Reality widmet sie sich in vierzehn Serien diesem Themenspektrum.

So mag die zu Beginn stehende dreiteilige Studie 15. August, Plätzer Vordersee noch an Voigts frühe, kleinformatige Arbeiten von 2003, wie Notation Florida, erinnern. In einzelnen Strichen, Richtungspfeilen und Längenbegrenzungen nimmt sie eine Situationsstudie von Bewegungsrichtungen vor. Dabei zerlegt und notiert sie das Performative und die sinnlichen Impulse: die Bewegung der Wasseroberfläche, die durchs Wasser gleitende Armbewegung ihres Begleiters Daniel und die Bahnen, die er durch den See schwimmt. In abstrahierten Linien fasst sie die Bewegungsabläufe und -richtungen simultan in einer situativen Zeichnung zusammen, ohne den Anspruch einer wissenschaftlichen oder mathematischen Visualisierung zu hegen. Die Zeichnungen haben etwas von Tagebucheinträgen, betitelt mit „... ein kleiner Cappuccino … und ein großer Cappuccino.. bitteschön“, die einen solch alltäglichen und zugleich gar intimen Eindruck ihres persönlichen Erlebens dokumentieren und lesbar machen.
Den größten Teil ihrer aktuellen Werkgruppe nehmen jedoch Serien ein, dessen Notationen nicht nur durch die gezeichnete Linie visualisiert werden, sondern durch geschnittene Linien mittels Skalpell, welche durch Schichten und Montieren dreidimensionale Bildmatrizes entstehen lassen. Diese Schnitte im Papier versteht die Künstlerin als Operation und als Analyse ihres Untersuchungsgegenstandes, wie sie in ihrem Konzept zu The Sum of All Best Practices schreibt, das in neun Sprachen übersetzt am Ende der Publikation abgedruckt wurde. Die Serie zeigt monochrome Collagen in schwarz oder weiß aus unterschiedlichstem Blattwerk, dessen Ausgangsmaterial die Künstlerin 2021 auf dem Weg zu ihrem Berliner Atelier sammelte.

Jorinde Voigt, The Sum of All Best Practices VIII, © Hatje Cantz
Jorinde Voigt, The Sum of All Best Practices VIII, © Hatje Cantz

Die einzelnen Blätter werden akribisch auf dem Papier abgepaust, geschnitten und montiert. Das aus der Überlagerung entstehende Spiel aus Licht und Schatten führt zu einer Verschmelzung der einzelnen Formen und zu immer neuen Linien aus Papierschnitten und Schlagschatten. Die auf dem Hintergrund integrierten Spiegel werfen den Blick der Betrachter:innen zurück, machen diese zum integralen Bestandteil der Arbeit während sie gleichzeitig multiperspektivische Ansichten zulassen. Zu dieser Verschränkung schreibt Jorinde Voigt: „Jede Form in der Gegenwart erzählt von der eigenen Vergangenheit. […] Die Charakteristik einer Person, einer Pflanze, aller Lebensweisen ist immer eine Botschaft aus der biographischen oder evolutionären Vergangenheit und berichtet durch ihre spezifischen Eigenschaften eine erfolgreiche Strategie oder Lösung, welche das Überleben oder den Umgang mit kritischen Situationen ermöglichen.“ Voigts Interesse liegt auf dem Zusammenbringen unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Parameter. Die Variationen, die sie in schwarz und weiß anfertigt, zeigen mögliche Kompositionen aus schier unendlich vielen, potenziellen Möglichkeiten, „[…] wie das einzelne Spezifische sich wieder in eine spezifische Komplexität findet.“

Jorinde Voigt, Studie zur Wirklichkeit XIV, 2021, © Hatje Cantz
Jorinde Voigt, Studie zur Wirklichkeit XIV, 2021, © Hatje Cantz

Diese Art der Untersuchung zeigt sich in vielen ihrer Arbeiten durch die Nutzbarmachung der Serie zur Ausschöpfung von Themen. Ihre Werkserien sind daher bestimmt durch Wiederholungen und Variationen, die es ihr ermöglichen, psychische wie physische Phänomene multiperspektivisch zu erfassen. Doch all diese Versuche des Ausschöpfens münden in der Unmöglichkeit, das Reale gänzlich fassen zu können, wie Erin Manning in ihrem Vorwort schreibt. Diesen Potenzialen widmet sich Jorinde Voigt in der Serie Studie zur Wirklichkeit. Schrift und Linie verschmelzen zu kringeligen Wellenlinien auf dem weißen Papier. Zur Tinte tritt auch das Skalpell, das durch Cut-Outs ihre Notationssysteme der Wirklichkeit in die Tiefe erweitert. Schicht für Schicht wird in zunehmendem Kolorit das farbige Papier offengelegt, das in letzter Instanz erneut auf die montierten Spiegelflächen stößt und gleichsam den betrachtenden Blick wieder zurückwirft. Das weiße Papier wird von Voigt förmlich seziert und die organischen Formen treten in den unteren Papierschichten zum Vorschein. Dünne Papierstränge in leuchtendem Rot durchdringen die Papierschichten wie Adern, deren Windungen und Verflechtungen durch schwarze Linien mit der Tinte verstärkt werden. Die schriftliche Kennzeichnung „Loop“, die kreisenden Bewegungen der Linien und Richtungspfeile, sowie der zurückgeworfene Blick auf den freigelegten Spiegel bringen ein Trio von Wiederholung in einer Bildmatrix zusammen, die in mehrerlei Hinsicht eigen für ihr Werk sind. So generieren sich beim Betrachten immer weiterführende Assoziationen. Wie in der Serie Atem-Studie, die durch Notationen von Pfeilrichtungen das Ein- und Ausatmen als ein Durchströmen und Zirkulieren visualisiert, und den Untersuchungsgegenstand des Atmens in seine elementarsten Bestandteile zerlegt. Durch die Schnitte im Papier werden immer tiefere Schichten offengelegen und auf ganz eigentümliche Weise das komplexe System vom Körper und seinen Vorgängen durchdrungen. Ihre hierbei eingesetzten Notationen bilden eine Zeichensprache, die sich im Wesen mit allem Wahrgenommenen befasst.

Jorinde Voigt, H.Schmitz: Intensität, Atmosphären + Musik 7, 2021, © Hatje Cantz
Jorinde Voigt, H.Schmitz: Intensität, Atmosphären + Musik 7, 2021, © Hatje Cantz

Bei der Entschlüsselung dieser Verflechtungen und Verstrickungen spielt der Begriff des Rhizoms eine bedeutende Rolle, der im Vorwort von Erin Manning verwendet wird. Ein Rhizom, aus dem Altgriechischen rhizoma, gleichbedeutend mit „Wurzelmasse“, ist in der Botanik ein unterirdisches, flach im Boden wachsendes Sprossachsensystem. Es dient als Speicherorgan für Nährstoffe und ist durch seine Nodien und Blattansätze von den Wurzeln zu unterscheiden. Das Rhizom dürfte Assoziationen zu den Blattwerken in The Sum of All Best Practices wecken, aber auch zu den organischen roten Strängen, die durch die aufgeschnittenen Papierflächen freigelegt werden, wie in den Serien Studie zur Wirklichkeit oder H. Schmitz: Intensität, Atmosphäre + Musik. „A rhizome may be broken, shattered at a given spot, but it will start up again on one of its old lines, or on new lines (Deleuze and Guattari 1989: 10)“, zitiert Manning in ihrem Vorwort. Über die botanische Definition hinaus, geht es nämlich auch um den Begriff des Rhizoms als Konzept des Poststrukturalismus: ein nichtlineares Netzwerk, das jeden Punkt mit jedem anderen Punkt verbindet. Den Begriff prägten Gilles Deleuzes und Félix Guattaris in ihrer Abhandlung Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, aus dem Manning in ihrem Vorwort einige Zitate herausstellt und durch die Nennung einzelner Werke Voigts eine Verbindung herstellt. Das Rhizom wird in Jorinde Voigts Werk zu einer fluiden Metapher zwischen Naturwissenschaft und Philosophie.

Das als Flyer in der Publikation eingelegte Vorwort der Kulturtheoretikerin, Philosophin und Künstlerin Erin Manning ist eine Zusammenstellung von versprachlichten Bildern und Assoziationen, Fragen, die sie an Jorinde Voigts Werk stellt und Zitaten aus Deleuzes und Guattaris Abhandlung, in denen Manning auf einzelne Serien der Werkreihe On Reality verweist und sie einbettet. Und so liest sich das Vorwort zum Teil wie ein ganz eigenstehendes literarisches Werk und eröffnet immer weitergehende bildliche und philosophische Diskurse beim Lesen und Betrachten.
Somit verlangt es nicht nur nach einem Eindenken in die eigenwilligen Notationssysteme und Zeichensprache in Jorinde Voigts Werk, sondern fordert die Betrachtenden durch die abstrakten Gedankenmodelle und komplexen Theorien zusätzlich intellektuell heraus. Zum tieferen Verständnis wären weitere Ausführungen zu den vierzehn Serien der Werkreihe On Reality, wie das für sich stehende und spannende Konzept von Jorinde Voigts zu The Sum of All Best Practices, durchaus aufschlussreich gewesen. Dennoch entziehen sich ihre Werke keinesfalls jeglicher Zugänglichkeit. Ihre Titel setzen ihre Arbeiten in einen klaren Referenzrahmen und ihre Notationssysteme laden zum Dekodieren ihrer Wahrnehmungs- und Gedankenbilder ein, die zum Nachsinnen über eine Lesbarkeit der gezeichneten und geschnittenen Linie anregt.

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