Buchrezensionen

Hans-Dieter Mück: Wilhelm Lehmbruck 1881 – 1919. Leben. Werk. Zeit, Weimarer Verlagsgesellschaft 2014

Hans-Dieter Mück hat mit seinem Buch über den großen deutschen Bildhauer Wilhelm Lehmbruck ein Standardwerk vorgelegt, das die Forschung noch lange bestimmen wird. Stefan Diebitz hat den Folianten gelesen.

Wilhelm Lehmbruck hat von 1881 bis 1919 gelebt, und ähnlich dem Werk von Ernst Barlach und Käthe Kollwitz können seine Arbeiten uns noch heute berühren; seine Skulpturen gehören vielleicht zu den emotionalsten Erlebnissen, welche die deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts überhaupt zu bieten hat. Zweifellos hängt das auch damit zusammen, dass dieser Künstler von allem Abstrakten weit entfernt war, sondern sein Werk – wie auch das seiner beiden genannten großen Kollegen – ausschließlich den Menschen in den Mittelpunkt stellte, den er in typischen Haltungen abbildete: »Kniende«, »Der Gestürzte«, »Große Sinnende«.

Der bedeutende, nur wenig ältere Kritiker Paul Westheim beschrieb das zweite von Lehmbrucks eigentlichen Hauptwerken, die »Kniende«, mit folgenden Worten: »Das eine Bein ist ganz lang und schmal ausgezogen, der Oberkörper spinös emporgereckt, der Hinterkopf abgeflacht; alles im gewöhnlichen Sinne unrichtig und als Ganzes doch überzeugend, weil das Werk seine Form in sich hat. Zugegeben, daß es nur die Geste der barock gewordenen Gotik ist, aber doch eine starke, eine wahrhaftige Geste.« Westheim weist mit diesen Worten auf das wohl auffälligste Merkmal der Skulpuren Lehmbrucks hin, auf ihre extreme Längung, die selbstverständlich auch von anderen Autoren, Künstlern und Bewunderern seiner Kunst nicht übersehen wurde. Schon einige Jahre vor der »Knienden«, 1908, schuf Lehmbruck eine kleine Statuette (»Kleine Stehende«), an der sich, wenngleich in weniger deutlicher Art, dieselben Stilmerkmale finden.

So ist es die Vertikale, die sich im Werk dieses Bildhauers immer wieder betont findet – nicht allein bei der Darstellung des Körpers und seiner Haltung, sondern ebenfalls bei den Gesichtern, die meist sehr schmal ausfallen. Allerdings gibt es auch einige wenige Plastiken, die eher horizontal ausgerichtet sind, vor allen Dingen den »Gestürzten«; die Wirkung seiner Kunst kann also nicht allein mit der Betonung der Vertikalen zu tun haben. Zusätzlich (oder vielleicht sogar als erstes) mag es die Andeutung (oder Illusion) von Bewegung sein, die durch die dünnen, weit ausgreifenden Gliedmaßen hervorgerufen oder doch wenigstens unterstützt wird. Denn so etwas wie Bewegung ist sogar bei den Porträtbüsten angedeutet, bei denen die Schultern auffällig breit geformt sind, selbst, wenn eine so zierliche Person wie die Schauspielerin Elisabeth Bergner dargestellt wird. Der schmale Kopf stößt geradezu aus dem Rumpf nach oben! In diesem Fall ist es also doch wieder die Vertikale.

In aller Regel hat Lehmbruck, der sich immer wieder als Porträtist betätigte (er war ein begabter Zeichner) und gelegentlich auch mit Modellen arbeitete, seinen Hauptwerken anonyme, also entindividualisierte Gesichtszüge verliehen, die so eine Identifikation des Betrachters mit seinen Figuren erleichtern; auch das mag zu ihrer Wirkung beitragen. Am Beispiel der »Großen Stehenden«, die er bereits 1910 in Paris schuf, schreibt Mück über die für Lehmbrucks Plastiken typischen Gesichter mit dem »verhaltenen, introvertierten, melancholischen Ausdruck«. Es ist übrigens diese Arbeit, in der Mück eine erste Hinwendung Lehmbrucks vom Düsseldorfer Akademismus zum Expressionismus erkennt. Die »Große Sinnende«, entstanden nur drei Jahre später, zeigt dann eine weitere Kühnheit der Formung – es scheint, dass Lehmbruck von diesem Zeitpunkt an ganz bei sich selbst angekommen war.

Mück hat mit seinem Buch, unterstützt durch einige Kollegen, eine außerordentliche Fleißarbeit vorgelegt. Im Grund breitet es, selbstverständlich chronologisch geordnet, das Material für eine bis ins kleinste gehende Biografie eines ganz und gar der Kunst gewidmeten, trotz aller künstlerischen Triumphe traurigen, ja deprimierenden Lebens aus. Das Werk legt dem Leser alle überhaupt nur möglichen schriftlichen Dokumente oder Fotos vor – fast immer kommentiert und gelegentlich berichtigt. Insgesamt sind es deutlich mehr als tausend Schwarzweiß-Abbildungen von Fotos, Zeichnungen, Grafiken oder Dokumenten, die zusammen mit Zitaten aus den meist autobiografischen Büchern verschiedener Autoren sowie 39 Bildtafeln einen sehr guten Überblick sowohl über Lehmbrucks künstlerisches Werk als auch über sein Leben geben. Den Band beschließen Personen- und Werkregister sowie eine umfangreiche Bibliografie, so dass man damit hervorragend arbeiten kann.

Manche, sogar sehr viele von Mücks Kommentaren (oft nur ein in eckige Klammern gesetztes »sic!«) sind leider absolut überflüssig – der Autor traut dem Leser offenbar nicht zu, offensichtliche Widersprüche und Fehler aller Art allein zu entdecken, obwohl er ihm doch selbst das Material dazu bietet. Immer wieder finden sich auch hinter einem »NB« Anregungen und angedeutete Interpretationen aller Art. Insgesamt stellt dieses dicke Buch einen dicken Batzen materialreiches Papier dar, aus dem man, wenn man nur wenige Lücken füllt, eine ziemlich gute Biografie erstellen könnte. Oder man könnte einen Künstlerroman schreiben, der allerdings schrecklich melancholisch ausfallen würde.

Selbstverständlich werden alle Personen vorgestellt, denen Lehmbruck während seines kurzen Lebens begegnete; im Falle seines Aufenthaltes in Zürich, wohin er 1916 vor dem Krieg geflohen war, beschreibt Mück auf fast einhundert Seiten alle möglichen Künstler, Dichter oder Schauspieler, die sich in der Stadt versammelten und denen Lehmbruck über den Weg gelaufen war oder wenigstens hätte laufen können. Dazu kommen dann die Revolutionäre jener Tage, unter ihnen auch ein gewisser Lenin (dem Lehmbruck allerdings nicht begegnete). Insgesamt handelt es sich um eine erstaunliche Vielzahl von wirklich bedeutenden avantgardistischen Künstlern.

Man darf nicht vergessen, dass eben in jener Zeit, 1916, in Zürich DADA im »Cabaret Voltaire« begann. Aber für Lehmbruck spielte DADA keine Rolle und kommt deshalb auch kaum im Buch vor. Vielmehr steht die nur wenig später berühmte Schauspielerin Elisabeth Bergner im Mittelpunkt der Darstellung der Züricher Jahre Lehmbrucks. Bergner, die damals noch ganz am Anfang ihrer Karriere stand, schlug in Zürich keineswegs Lehmbruck als Einzigen in ihren Bann, aber in seinem Fall hatte das schlimme Folgen, denn zusammen mit einer Syphilis, die er sich bei einer Prosituierten geholt hatte, war seine ganz hoffnungslose Verliebtheit für sein eheliches Unglück verantwortlich – dabei war Elisabeth Bergner offensichtlich weit davon entfernt, den liebeskranken Künstler zu erhören. Aber konnte ihn das abhalten, ihr in Zürich zu Füßen zu liegen und später nach Berlin zu folgen, wo sie nach Kriegsende ein Engagement antrat?

Seine letzten Wochen im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit kann man sich wohl gar nicht elend und hoffnungslos genug vorstellen. Abgesehen von wenigen Reichen oder Kriegsgewinnlern hatte die ganze Bevölkerung zu hungern und zu frieren, aber sicherlich mit am meisten die Künstler. Und nun gar die Avantgardisten ohne breites Publikum, deren Mäzene selbst alles verloren hatten! Lehmbruck war zu jener Zeit offenbar gänzlich mittellos – seine Frau weilte mit ihren drei Kindern weit entfernt –, und er lief sich die Hacken ab, um Aufträge zu erhalten, Geld zu erbetteln oder, als sie sich schon wieder aus Berlin verabschiedete, auf dem Bahnsteig dem Zug hinterherzuschauen, in dem Elisabeth Bergner nach Wien reiste, um dort die »Lulu« zu spielen. Nur wenige Tage später nahm sich Wilhelm Lehmbruck am 25. März 1919 in seinem ärmlichen Atelier mit der Hilfe von Gas das Leben. Das Buch beschließen im »Epilog« genannten letzten Kapitel einige Nachrufe, so die sehr schöne und persönliche Rede von Hans Bethge, einem langjährigen Freund von Wilhelm Lehmbruck.

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