Joseph Beuys, der „Mann mit dem Hut“ – der Jahrhundertkünstler, der Weltstar, das ist unbestritten. Bleibt er aktuell und strahlt er noch in seiner ehemals so kontroversen Weise? Sicher hat sich hier einiges verändert. Es war vor allem die Art der Präsentation, die seine Kunstwerke in einem völlig neuen Licht erscheinen ließ und die zu hitzig-kontroversen Diskussionen in der Kunstwelt wie auch bei dem „Bürger auf der Straße“ führten. Seine Installationen und Aktionen haben ihn weltberühmt gemacht und dennoch war er nie nur der Gefeierte. Beuys stand auch für die Anti-Kunst. Seine Direktheit, die nicht selten beim Publikum einen Schock erzeugte, wird heute anders erlebt. Beuys brillierte durch Konfrontation und das Unerwartete. Melanie Obraz hat sich auf eine faszinierende Spurensuche begeben.
Vorab sei bemerkt, dass das Hessische Museum den größten Werkkomplex von Beuys weltweit beherbergt, welcher von Beuys selbst installiert wurde und ganz auf die Wirkung für die Besucher:innen ausgerichtet ist. Das Publikum ist Dreh- und Angelpunkt und ebenso wichtig wie die Exponate. Beuys war nicht von seinen Werken zu trennen. Er wirkte in der Präsentation und verlieh den Werken durch seine Persönlichkeit das Besondere. Dies verdeutlicht das Fotoportrait von Joseph Beuys als Intro des Buches. Mit Schönheit im bekannten Sinn hatte seine Kunst nichts gemein. Ihm ging es nicht um Harmonie, da sie im Miteinander der gesellschaftlichen Realität ohnehin nur selten erfahrbar ist. Beuys suchte die Verbindung zu allen Menschen, die für ihn alle Künstler waren. Dennoch verlangten seine Aussagen nach Interpretation, um so überhaupt verstanden zu werden. Das völlig Unerwartete in seinen Werken ist schon geschehen und kann nicht mehr in jener Ursprünglichkeit des Augenblicks zurückgeholt werden. Was aber macht seine Arbeit bis heute interessant?
Wenn man sich Beuys zuwendet, betritt man eine andere Welt. Er übt Macht aus, indem er auf eine neue Perspektive hinweist. Damit befördert er einen subjektiven Blick, der sich auf alle Zuschauer:innen separat auswirkt. Beuys verführt sein Publikum zum Selbstdenken und damit zum Selbsturteilen. Es ist eben kein Schwebezustand der Schönfärberei. Er bietet keine Entrücktheit, sondern Realität. Sein berühmter Ausspruch „Jeder Mensch ist ein Künstler“ sagt vor allem, jeder ist mächtig bzw. kann eigenmächtig handeln und entscheiden. Beuys´ Kunst will hellhörig machen und das Denken anregen. Seine Arbeiten können als Plädoyer gelten, der eigenen Wahrnehmung mehr zu trauen als allem anderen. Entscheidend ist es, laut Beuys, sich von überkommenen Vorstellungen zu lösen, und das heißt vor allem von dem eingefleischten kunstgeschichtlichen Erbe. So kommt es ihm stets darauf an, eine neue kulturelle Identität zu entwickeln. Die Kunst ist ihm ein Spiegel des Menschlichen. Seine Exponate bieten keine Idylle und zeigen vehement, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist: Kunst ist Ausdruck der Tätigkeit von Menschen, welche sich nicht damit zufrieden geben dürfen, nur die Schönheit der Welt anzuschauen. Aus diesem Grunde fordert Beuys, jeden Menschen auf, Eigenes hervorzubringen. „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Seine Werke, die noch angesehen werden können, sprechen die Sehnsucht an, ein Nebeneinander von Widersprüchen zu akzeptieren.
Denn Beuys ging es um ein reines Schauen, um Wesentliches sichtbar zu machen. Seine Kunst sollte dermaßen ausdrucksstark und direkt vermittelt werden, so dass Interpretationen eigentlich überflüssig wären. Dabei wendet er sich auch den mystischen Aspekten zu, die vom Publikum teilweise als Rituale verstanden werden können. Die Aussage von Beuys: „Ich stelle nichts aus, sondern ab“ ist bezeichnend in der Weise, da er die Betrachter:innen persönlich in seine Arbeit mit einbindet – ihnen die Aufgabe zuweist selbstständig zu agieren. Kunst ist für ihn ein Teil des alltäglichen Lebens und zeigt sich gerade deshalb als Kunst. Kunst hat bei Beuys auf intensivste Weise mit allen Menschen zu tun und befindet sich in keinem Glashaus. Nichts wird in seinen Arbeiten zugedeckt sondern vielmehr offengelegt. Es ist nie eine abgeschlossene künstliche Welt, die Beuys offenbarte, sondern stets das Besondere der Realität. Die Betrachter:innen sehen hier die Kunst in ihrem eigenen Licht, welches sie ebenso zu Protagonisten macht. Was fanden und finden die Rezipienten:innen seiner Kunst in seinen Exponaten? Eine Spur der Wahrheit und die Erkenntnis, auf die eigenen Fähigkeiten angewiesen zu sein. Hier kann nicht das Schöne bestaunt werden, zumal Beuys dem Schönen wie es in der Kunstgeschichte oft zur Darstellung gelangte, völlig ablehnend gegenüberstand.
Auch seine Autobiografie zeichnet Täuschung, Lüge und/oder Wahrheit auf einer neuen Ebene. Beuys gibt sich darin als Künstler, der sich einer Metaebene verbunden fühlt und positioniert sich in der Nähe zu Nietzsche, denn: „Bevor gedacht wird, muss schon gedichtet worden sein.“ Dies zu verstehen, auch darin besteht die Aufgabe, die Beuys an sein Publikum stellt.
Vor allem kam es Beuys darauf an, die künstlerische Praxis offen zu legen, um Aussagen über die ethischen und sozialen Potentiale einer Kunst in der Konfrontation der deutschen Vergangenheit und der globalen Zukunft zu begründen. Also initiiert er mit seinen Werken eine künstlerische Auseinandersetzung mit deutscher Identität und Geschichte. Das sich daraus entwickelnde Neue und Überraschende ist als das Erstrebenswerte zu sehen, worin sich auch das von Beuys beabsichtigte Neue einer anderen Bildung manifestieren konnte. In diesem Sinne zeigte er auch in den Aktionen und Projekten wie den „7000 Eichen“, dass er für die Parteipolitik ein Utopist, ja ein Phantast blieb. Das Weiterdenken und Verstehen kann in diesem Sinne auch für die heutige Zeit wie auch für die Zukunft ein Lichtstrahl sein, den Beuys bestimmt stets weiter verfolgt hätte.
Uns, als betrachtende Künstler:innen – im Beuys´schen Sinne -, bleiben also nicht nur Spekulationen, sondern die Arbeit an einer Gestaltung unserer Umwelt schlechthin. Somit ist die soziale Plastik eine stete Herausforderung, die sich nicht ausschließlich auf die Kunst bezieht, sondern den Ganzheitsaspekt des Lebens umschließt.
Beuys gibt die Thematik nicht abschließend vor, sondern öffnet mit seiner Kunst Freiräume, in denen sich Menschen entfalten können. Eigentlich ein paradiesischer Zustand, dem man nicht abgeneigt gegenüberstehen sollte. Auch aus diesem Grunde bleibt Beuys aktuell, und zwar hinsichtlich des moralischen Anspruchs, den jeder Mensch an sich zu stellen hat und jene ganz eigene Zuweisung an die Kunst, die sich vor allem durch den Freiheitsgedanken auszeichnet.
Insofern ist jeder Mensch ein Gestalter, Plastiker und Teilnehmender am Projekt der sozialen Plastik und also am sozialen Organismus der Gesellschaft. Briefe und eindrucksvolle Fotografien komplettieren das Bild über Joseph Beuys und machen das Buch zu einem eigenen Kunsterlebnis.
Titel: Beuys in Hessen
Hrsg.: Hessische Kulturstiftung
Wienand Verlag
Beiträge von: René Block, Martin Groh, Mechthild Haas, Kristina Hinrichsen, Felicitas Hoppe, Angeli Janhsen, Harald Kimpel, Fayer Koch, Mario Kramer, Gabriele Mackert, Christoph Otterbeck, Dörte Schmidt, Eva Claudia Scholtz, Philip Ursprung
256 Seiten
105 farbige und 111 s/w Abbildungen
ISBN 978-3-86832-666-6