Ausstellungsbesprechungen

In Szene gesetzt: George Bernard Shaw und die Fotografie, Günter Grass-Haus Lübeck, bis 9. Oktober 2018

George Bernard Shaw ein Fotograf? Lange wusste man es nicht einmal, aber jetzt endlich gibt es eine Ausstellung, die uns wenigstens einige wenige seiner Bilder vorstellt. Stefan Diebitz hat sie besucht.

Es dauerte bis 1980 – dreißig Jahre nach seinem Tod! –, bis man herausfand, dass Shaw (1856 – 1950) nicht nur gelegentlich über Fotografie geschrieben hatte, sondern dass er selbst, immerhin einer der meistfotografierten Männer seiner Zeit, eifrig fotografiert hatte. Sein Nachlass enthielt über 20.000 Bilder! Und er hatte beileibe nicht nur geknipst, sondern Fotografie als die Kunst seiner Zeit begriffen, ihm wichtiger als Malerei. Er ging sogar so weit, von sich selbst zu sagen, er hätte sich bei mehr Talent für die bildende Kunst und gegen die Literatur entschieden. Die Leidenschaft für das Fotografieren hatte er übrigens mit einem anderen Star der englischen Literatur gemein, mit dem fast gleichaltrigen Arthur Conan Doyle; auch dieser fotografierte, was das Zeug hielt, und schrieb zusätzlich etliche Essays und Artikel über das Fotografieren.

Schon in seinen wenig erfolgreichen Romanen, die er noch in den neunziger Jahren vor seiner erstaunlichen Karriere als Theaterautor veröffentlicht hatte, tauchen Fotografen auf, und ab 1898 fotografierte Shaw dann selbst. Grundsätzlich verstand er sich selbst als »down-starter«, also auf so ziemlich sämtlichen Gebieten als Autodidakt. So auch als Fotograf. Dabei war das Fotografieren auf jeden Fall eine kostspielige Leidenschaft, denn nicht allein die Kameras waren teuer – und er versuchte es mit verschiedenen –, sondern zumindest anfangs auch die Platten und ihre Entwicklung, die schwer zu Buche schlugen. Zunächst dank einer wohlbetuchten Ehefrau, später dank seiner eminenten Erfolge konnte er sich aber dieses Hobby leisten.

Das erste, was dem Besucher der Ausstellung auffällt, ist die Vielzahl der Selbstporträts. Ganz offensichtlich ist das Selfie keine Erfindung unserer Zeit, wenngleich es früher mit erheblich mehr Aufwand verbunden war. Aber immer wieder hat sich Shaw selbst abgelichtet, teils um sich selbst zu inszenieren – ganz und gar uneitel scheint er nicht gewesen zu sein, und auch das berechnende Schielen auf seinen von einem markanten Äußeren abhängigen Marktwert war ihm offenbar nicht fremd –, teils, um sein Selbstverständnis als Künstler zu reflektieren. Aber bei den meisten Bildern hat er dann doch lieber auf eine Veröffentlichung verzichtet. Schließlich war er auf vielen Fotos nackt! Auch seine Modelle hätte er gern ohne Kleider fotografiert, fand sich aber dann doch selbst zu schüchtern: »The camera can represent flesh so suberbly, that if I dared, I would never photograph a figure without asking that figure to take its clothes off.«

Natürlich wurde er selbst auch von fremder Hand porträtiert, und einmal sogar von der Hand eines Genies, als er nach Paris fuhr, um von Auguste Rodin eine Büste herstellen zu lassen. Die Ausstellung zeigt Fotos der Büste und noch dazu ein Bild von Shaw in der Pose des Rodinschen Denkers – selbstredend war er nackt, als er, das Kinn in die Faust gestützt, vor sich hin brütete.

Zu seinen engen und langjährigen Freunden gehörte das Ehepaar Beatrice und Sidney James Webb, wie Shaw selbst sozialistisch oder sozialdemokratisch eingestellt; sie zählen zusammen mit Shaw zu den Gründern der London School of Economics, heute und seit langem eine der renommiertesten Universitäten der Welt. Beide Porträts zeigen das Ehepaar in einer sehr ähnlichen Pose im Sessel mit einem Buch in der Hand; sie schaut nachdenklich ins Leere, er blickt hinunter auf die aufgeschlagenen Seiten. Ein weiteres Freundesfoto zeigt die Schauspielerin Lillah McCarthy, die in mehreren seiner Stücke die weibliche Hauptrolle spielte – darunter die Eliza Doolittle –, beim Rudern.

Die Kabinettsausstellung zeigt uns nicht allein die bis heute unbekannte Seite eines bedeutenden Schriftstellers, sondern lässt auch die Epoche lebendig werden, in der er lebte. Denn der große Individualist Shaw – selbst oder sogar er – Shaw war mehr Kind seiner Zeit, als man zunächst glauben möchte. In Deutschland wäre er ein Wandervogel gewesen, denn er liebte die Natur, dazu verstand er sich als Sozialist, und als Vegetarier, Antialkoholiker und Nudist war er ein Verwandter der Lebensreformer. Seine bis ins Alter bewahrte Schlankheit ist die eines Asketen, der furchtbar gern alt werden wollte und es ja auch tatsächlich wurde. Dazu verstand er sein markantes Äußeres mit dem Rauschebart und den mächtigen Augenbrauen als große Hilfe bei seiner energisch betriebenen Selbstvermarktung, und auch damit stand er nicht allein. In Deutschland war es der in etwa gleichaltrige Hermann Sudermann, ein mehr oder weniger vergessener Theaterautor, dessen »Sudermannbart« aber bis heute erinnert wird. Und woran denkt man, wenn man an den Autor denkt, in dessen Museum die Fotos ausgestellt werden? Eben.

Selbstverständlich hat Shaw nicht nur sich selbst fotografiert, sondern auch seine Freunde und seine Frau. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit Großstadt- und Landschaftsbildern, und diese scheinen mir die gelungensten Arbeiten. Viele von ihnen zeigen von einer leicht erhöhten Position die Themse, die irische Küste oder einen Park von einer Brücke aus. Auffällig an ihnen ist ihre erstaunliche Tiefe, die teils durch die Staffelung des Raums erreicht wird, teils durch das gern etwas diesige Wetter, endlich durch die absichtliche Unschärfe. So präsentiert ein besonders schönes Foto Lastkähne auf der dunklen Themse im Vordergrund, im Hintergrund aber zeichnet sich undeutlich die mächtige Silhouette des Parlaments im Nebel ab, und noch weiter hinten kann man gar nichts mehr richtig erkennen, weil es irgendwie verschwimmt. Eigentlich ist das Foto deshalb so enorm stimmungsvoll, weil es in technischer Hinsicht alles andere als perfekt ist.

Merkwürdig an alldem ist aber, dass der engagierte Sozialist sich weder an Straßenszenen noch am Arbeitsleben versuchte; beides kommt nicht einmal im Hintergrund vor. Keine arbeitenden Menschen, kein Wohnungselend mit alten Menschen im Fenster oder Kindern im Hinterhof, keine Bettler in Lumpen. Wenn er nicht gerade seine Freunde fotografierte, dann sind seine Bilder tatsächlich menschenleer; und wenn er die Personen nicht inszenieren konnte, dann war er offenbar nicht an ihnen interessiert. Der Titel der Ausstellung ist deshalb klug gewählt, denn wirklich ist alles »in Szene gesetzt«. Und seine provokante Bemerkung, für einen Schnappschuss von Jesus gäbe er alle Gemälde hin, klingt ziemlich unwahrhaftig, denn für Schnappschüsse hatte jemand wie er ganz offensichtlich überhaupt nichts übrig.

Und wenn es anders gewesen wäre? Mit Stativ, Platten und einer langen Belichtung wären Schnappschüsse kaum möglich gewesen. Außerdem (oder vielleicht deshalb?) war Shaw besonders in seinen Anfangsjahren ein Anhänger des »Pictorialismus«, nach dem sich die Fotografie in einem direkten Konkurrenzverhältnis zur Malerei befindet – und zwar, indem sie deren Ästhetik folgt. Entsprechend sorgfältig, oft auch symbollastig, sind deshalb die meisten seiner Bilder aufgebaut; viele wirken durchaus malerisch, schon wegen ihrer absichtsvollen Unschärfe, die an die Malerei des Impressionismus anknüpft. Und in seinen Essays und Artikeln kehrt Shaw in den Worten des Kurators Philipp Bürger »die alten Argumente, die seit der Erfindung der Fotografie abwertend gegen deren vermeintlich mechanisches und unkünstlerisches Wesen gewendet werden, schlichtweg um«, sieht nämlich die Malerei, nicht aber die Fotografie als eine mechanische Tätigkeit.

Ebenso wie die Kabinettsausstellung ist der schmale Katalog mit seinen konzisen Informationen aus der Feder Philipp Bürgers zu empfehlen.

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