Wahrscheinlich gibt es viele, die von Jacques Callot noch nie gehört haben, aber wir alle kennen mindestens einen seiner Stiche aus unserem Geschichtsbuch: »Die Gehenkten«. Stefan Diebitz kann das kleine Buch empfehlen, das die 18 Kupferstiche einer meisterhaften Serie zeigt, und hat auch die Biografie Callots gelesen.
Ein riesiger Baum spreizt seine Äste, an denen vielleicht zwei Dutzend schlaffe Körper baumeln, und in seinem Schatten werden bereits die nächsten Delinquenten auf die Hinrichtung vorbereitet. Wie das Eingangskapitel des »Simplicissimus« schildert der Kupferstich die Praktiken einer Zeit, die in Sachen Grausamkeit ihresgleichen suchte. Es war der 30jährige Krieg, dessen Schrecken Grimmelshausen wie Callot in buchstäblich unvergesslichen Schilderungen beschworen, und vielleicht ist es anfangs auch nur ein historisches Interesse, das man an diesen Bildern besitzt. Aber natürlich sind alle diese Bilder schon ihres Gegenstandes wegen berührend, wenn nicht gar bedrängend, und außerdem zeigt eine nähere Betrachtung, wie außergewöhnlich kunstvoll Jacques Callot gearbeitet hat, der französische Kupferstecher, der, 1592 in Lothringen geboren, bereits 1635 starb, ganze 43 Jahre alt.
E.T.A. Hoffmann nannte 1814/15 seine erste Sammlung von Erzählungen »Fantasiestücke in Callots Manier« und stellte dem Band eine unerhört dicht geschriebene Würdigung des Meisters voran, in der er dessen Talent betont, »in einem kleinen Raum eine Fülle von Gegenständen zusammenzudrängen«, die Lebendigkeit der Figuren hervorhebt und natürlich auch auf das Fantastische zu sprechen kommt. Es sind exakt diese Fähigkeiten, die man dem Erzähler E.T.A. Hoffmann zusprechen wird, der sich auch als Zeichner im Stil Callots versuchte, als er sich selbst als den Kapellmeister Kreisler darstellte. Zwei Sätze aus dieser Würdigung hat Bernd Schuchter seiner etwas romanhaften Biografie Callot vorangestellt, die in einem anderen Verlag, aber zeitgleich mit den »Schrecken des Krieges« erschienen ist.
Es ist gut begründet, den engen Raum der Callotschen Arbeiten anzusprechen. Wer das Buch mit den Stichen in die Hand nimmt, wird vielleicht im ersten Augenblick die Abbildungen enttäuschend klein finden, muss dann aber feststellen, dass die Kupferstiche in ihrer Originalgröße zum Abdruck gekommen sind. Callot hat tatsächlich so klein gearbeitet! Bernd Schuchter darf ihn deshalb auch den »Meister des Diminutiven« nennen, wie es schon die Zeitgenossen Callots taten. Es war die Zeit, in der das Teleskop erfunden und von Galilei verbessert wurde, und Schuchter macht es wahrscheinlich, dass Callot ein Mikroskop benutzt hat, nachdem er sein »Lebensthema« gefunden hatte, »das Changieren zwischen dem Großen und dem Kleinen«
An verschiedenen Stellen beider Bücher geht Schuchter auf die Radiertechnik Callots ein. Callot hat die échoppe benutzt, einen Gravurstichel mit abgeschrägter Spitze, der ihm eine besonders lebendige Linienführung erlaubte. Dazu hat er mit der Abfolge verschiedener Ätzvorgänge experimentiert, deren giftige Dämpfe wesentlich verantwortlich gewesen zu sein scheinen für seinen frühen Tod. Dank dieser Techniken zeichnen sich seine Kupferstiche keineswegs nur durch ihre geradezu sagenhafte Feinheit aus, sondern zusätzlich durch subtile Hell-Dunkel-Abschattungen, die der Künstler durch die Abfolge verschiedener Ätzvorgänge erreichte. Schuchter hebt besonders das Resultat hervor, die Illusion von räumlicher Tiefe.
Eindrucksvoll und gelungen sind die Bildbeschreibungen Schuchters, die sich zunächst bei den »Capricci« bewähren und bei so kleinen Bildern natürlich wichtiger sind als bei großen. Die meisten Kupferstiche in den »Schrecken des Krieges« sind nicht größer als acht mal achtzehn Zentimeter, und es ist unfassbar, was Callot auf diesen kleinen Flächen unterzubringen wusste. »Die Gehenkten« schaue man sich auf dem Bildschirm an oder in einem Druck – das Blatt verträgt spielend eine erhebliche Vergrößerung, so unglaublich genau und filigran hat Callot gearbeitet. Auch auf anderen dieser kleinen Blätter sind Menschenmassen dargestellt, so auf Blatt 14, »Das Rad«, das Landsknechte und Publikum um ein Blutgerüst zeigt, auf dem der Henker eben weit mit der Eisenstange ausholt, um mit dieser die Schienenbeine des Delinquenten zu zerschmettern: eine Räderung von unten, die brutalste aller Hinrichtungen. Rechts neben dem armen Sünder sieht man einen Pfaffen, der ihm das Kreuz vorhält, während er dem Schlag, furchtbarsten Schmerzen und einem qualvoll-langsamen Tod entgegensieht.
Natürlich fällt der Blick zunächst auf das Zentrum des Bildes, denn die Stadtmauern links und die aufragenden Lanzen rechts (die von fern an das fast gleichzeitige »Las lanzas« von Velázquez erinnern) bilden einen die Aufmerksamkeit steuernden Rahmen. Aber wenn man seinen Blick wandern lässt, dann sieht man ganz links im Vordergrund schon das Opfer der nächsten Hinrichtung, geleitet von Pfaffe und Mönch. Unten auf dem Blatt finden sich sechs französische Verse, deren Übersetzung durch Lothar Klünner im Anhang gegeben ist: »Die göttliche Asträa, die im ganzen Land / mit immer wachem Auge Angst und Trauer bannt, / rechts in der Hand das Schwert, die Waage in der linken, / sie ist die Richterin, bestraft den Dieb, den flinken, / der Wandrer überfällt, Mordspiele treibt mit ihnen, / nun spielt das Rad mit ihm, er muß für alles sühnen.« Es scheint, dass Callot gegen diese Form der Leibesstrafe – auf das Rad wurde man buchstäblich geflochten – nichts weiter einzuwenden wusste und dass sein Blatt die Grausamkeit nur dokumentiert, aber keinesfalls anklagt.
Im großen Ganzen neigt auch Schuchter dieser Auffassung zu, entschließt sich zum Ende seiner Biografie hin dann aber doch zu einer darüber hinausgehenden Deutung: »Hier wird von keiner gerechten Strafaktion berichtet, sondern es verkehrt sich die vordergründige Erzählung in einen Abgesang auf die Menschlichkeit selbst, und diese Abscheu erregende Darstellung menschlicher Unzulänglichkeit erzeugt gerade dadurch den Wunsch nach einem anderen Leben, nach einer humanistischeren Art, sein Leben zu gestalten; eben seinem Gewissen gemäß, ohne Leid und Tod und Soldatentum.«
War Callot ein Moralist? Dokumentieren seine Stiche, ohne zu werten, oder sind sie eine Anklage? Die Verse unter den Stichen formulieren ja nur eine Moral, die diejenige der Mehrheit gewesen ist, keine Anklage aus eigenem Antrieb. Und nichts, das wir unterschreiben würden. Etwas anders scheint es um eine legendäre Bemerkung zu stehen, die schon E.T.A. Hoffmann in seiner Würdigung hervorhebt und die ihm unmittelbar nach den napoleonischen Kriegen besonders wichtig gewesen sein muss.
Schuchter zitiert sie ebenfalls, denn sie deutet das Ethos eines großen Künstlers an: »Man erzählt«, schreibt Hoffmann, »daß, als Richelieu von ihm verlangte, er sollte die Einnahme seiner Vaterstadt Nancy gravieren, er freimütig erklärte: eher haue er sich seinen Daumen ab, als daß er die Erniedrigung seines Fürsten und seines Vaterlandes durch sein Talent verewige.« Für Schuchter, obwohl er sich für die Wahrheit dieses von ihm etwas abweichend zitierten Ausspruches nicht verbürgen will, offenbart er »die Essenz eines ganzen Lebens.« Callot war lothringischer Patriot und ein strikter Gegner der Eingemeindung Lothringens in Frankreich.
Das Nachwort Schuchters zu den 18 Stichen ist vollkommen überzeugend, aber an seiner Biografie des Meisters muss doch ein wenig Kritik geübt werden. Sie bringt natürlich mehr Bildbeschreibungen (und diese sind durchweg gelungen) und schildert wie das Nachwort die Weiterentwicklung der Kupferstichtechnik durch Callot – hier bewegt sich Schuchter auf einem Terrain, von dem er viel versteht. So sind diese Teile sehr lesens- und bedenkenswert. Das gilt auch für seine Schilderung des 30jährigen Krieges. Schwach und aufgesetzt aber ist bereits das Leitmotiv »Jacques Callot fror.«, das sich durch die gesamte Biografie zieht. Und unpassend, wenn nicht ärgerlich sind die romanhaften Passagen in erlebter Rede, die weder auf Fakten beruhen noch irgendwie originell oder überraschend sind. Ganz im Gegenteil, sie bedienen jedes Klischee:
»So voll war sein Herz damals, so übervoll mit Bildern und Gefühlen, die er doch nur schemenhaft in den Firnis zu kratzen vermochte. Callot dachte an den heiligen Lukas, der der eigentliche Grund für das Fest am Markt von Impruneta gewesen war, an den Geruch von gebratenen Spanferkeln und an das Geschrei der Marktweiber; an die vielen Tiere und den Gestank ihrer Exkremente, die vielen liederlichen Weiber, die ihre prallen Busen vor sich hertrugen und die betrunkenen Männer beschwörten, ihnen noch einen Wein zu zahlen.«
Es ist in beiden Büchern der Callot der »Schrecken des Krieges«, der ganz im Mittelpunkt steht; der Callot der »Capricci« kommt dagegen ein wenig zu kurz. Man sollte deshalb einmal einen Blick auf die Illustrationen von E.T.A. Hoffmanns »Prinzessin Brambilla« werfen (Hoffmann nannte sie »fantastisch karikierte Blätter«), um den Callot der »Fantasiestücke« kennenzulernen und zu sehen, wie er uns seine Figuren vor Augen stellt – sie besitzen wirklich eine ganz unglaubliche, fast tänzerische und sehr ausdrucksvolle Beweglichkeit, die sich dem Betrachter für lange einprägt. Hoffmann hatte vierundzwanzig Radierungen nach Callot geschenkt bekommen und wählte daraus acht, um sich von diesen zu seinem selbst »Capriccio« genannten Bravourstück anregen zu lassen. Die Radierungen stellen Figuren oder Masken der venezianischen Commedia dell’arte dar und sind so eng mit der Geschichte verknüpft, als hätte der Künstler eine vorab gefertigte Erzählung illustriert. Dank ihrer Lebendigkeit stehen sie dem Betrachter noch sehr lange vor Augen – wie so vieles andere aus der Hand des großen Jacques Callot.