Wir werden von Selfies in unserem Alltag überflutet. Doch gerade diese scheinbar selbstverständliche Menge an schnellgeschossenen Fotos des eigenen Ich in jeder Lebenslage sollte uns zu einem Rückblick auf die Entwicklung der Bildgattung »Selbstporträt« bewegen. Denn die Geschichte der Selbstdarstellung im Bild ist keineswegs so selbstverständlich, wie es uns Selfies heute glauben lassen. Spunk Seipel hat sie mit James Halls Buch erkundet.
Wie sieht ein Künstler sich selbst und wie stellt er sich dar? Was offenbart er mit seinem Selbstporträt über sich? Welche Absichten hat er mit seiner Selbstdarstellung? Das sind nur einige der Fragen, die die Faszination des Selbstporträts in der europäischen Kunstgeschichte ausmachen. James Hall legt eine kurze, aber fundiert geschriebene Geschichte über »Das gemalte Ich- Die Geschichte des Selbstporträts« vor und bringt uns diese sehr spezielle Gattung in der Kunst, die uns heute so selbstverständlich erscheint, näher.
Der britische Wissenschaftler legt sein Buch chronologisch an und vergisst dabei nicht, die oft ignorierten frühen Beispiele aus der Antike und dem Mittelalter in seine Betrachtung mit einzubeziehen. In diesen Epochen gibt es nur wenige Beispiele für Selbstporträts, wie eine Stele des Hofbildhauers Bak aus der Regierungszeit von Echnaton. Sie ist stilistisch so sehr dem zeitgenössischen Stil der Amarna-Zeit angepasst, dass sie für die Ansprüche heutiger Rezipienten wenig persönliches preisgibt.
Die griechische Antike bleibt von einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Selbstporträt geprägt. Plato vertrat im 10. Buch von »Der Staat« die Meinung, Kunst sei bloß eine Nachahmung der äußeren Welt, die ihrerseits ein schwacher Widerschein der letzten Wirklichkeit, der Welt der Ideen und idealen Formen ist. Der Künstler gebe zufällige Erscheinungen wider und sein Selbstporträt habe keine besondere Bedeutung. (S. 15)
Bei den wenigen Beispielen aus dem Mittelalter, zumeist als Buchmalerei erhalten, wird vor allem deutlich, welche Erwartungshaltung heutige Betrachter an Selbstporträts haben und wie schwer zugänglich die mittelalterliche Kunst mit ihren eigenen Regeln und Symbolen für uns heute ist. Zudem ist die Quellenlage zu den Bildern äußerst gering. Dabei machen doch gerade die zusätzlichen Informationen viele Selbstporträts erst richtig interessant. Biografische Hintergründe und zeitgeschichtliche Geisteshaltungen prägen das Selbstbildnis eines jeden Künstlers ebenso wie Entwicklungen in der Kunst. James Hall gelingt dies mit seinen zahlreichen Bildbeispielen ausführlichst darzulegen.
Folgerichtig erzählt Hall nicht nur eine lineare Geschichte des Selbstporträts, sondern stellt jede Epoche unter ein besonderes Thema. »Verrückt nach Spiegeln«, »Das Künstleratelier« oder sogar reißerisch »Sex und Genie« lauten die Titel, die zugleich verbindende Elemente in den Selbstporträts der jeweiligen Zeit knapp umfassen. Es ist ein Konzept, das aufgeht und Spannung erzeugt. So ist das Buch für den interessierten Laien wie den Wissenschaftler ein idealer Einstieg in die Bildgattung.
Technische Entwicklungen wie der Spiegel spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Selbstporträts. Besonders dafür, dass im 15. Jahrhundert Künstler sich vermehrt selbst dargestellt haben, vermuten viele Forscher als Grund Neuerungen bei der Herstellung von Spiegeln. James Hall untersucht diese These genauer und legt seine Zweifel daran dar: Spiegel gab es schon in der Antike und auch im Mittelalter. Im 15. Jahrhundert gab es keine wesentlichen technischen Fortschritte, geschweige denn, dass Spiegel so kostengünstig wurden, dass sich jeder Maler einen in das eigene Atelier hätte hängen können. Es muss also laut Hall soziale Gründe haben, dass das Selbstporträt für Künstler attraktiv wurde.
Dennoch, der Spiegel wurde ein Thema in der Malerei und damit auch das Abbild des Künstlers. Ein prägnantes Beispiel ist das Arnolfi Doppelbildnis von Jan van Eyck, auf dem im Hintergrund ein konvexer Spiegel an der Wand hängt, in dem nicht nur das Paar gespiegelt wird, sondern auch der Künstler. Aber van Eyck ordnete den Spiegel zeitgemäß in einen theologischen Diskurs ein, in dem er den Spiegel mit Szenen der Passion Christi rahmte. Hall macht deutlich, dass nicht nur der oft zitierte Mythos von Narciss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat, für die Künstler von Bedeutung war, sondern vor allem auch theologische Bedeutungen des Spiegels. In Gottesdiensten dienten sie dazu mit Engeln zu kommunizieren oder wurden vor Reliquien gehalten, um etwas von deren Aura einzufangen. Der Spiegel und das eigene Abbild hatten demnach eine viel höhere Bedeutung als oft angenommen.
Im 15. und 16. Jahrhundert wird das Selbstporträt zu einer eigenen Gattung und spiegelt das neue Selbstbewusstsein der Künstler. Sie gesellen sich selbstbewusst neben Menschen der führenden sozialen Schichten oder Heilige. Im 15. Jahrhundert erlebt auch die Losung »Jeder Maler malt sich selbst« immer weitere Verbreitung: »Wen immer der Künstler darstelle bekäme eine ›Familienähnlichkeit‹ mit dem Künstler selbst, so wie ein Gefolgsmann die Farben seines Lehnsherrn trägt. Er erschafft die gesellschaftliche Elite nach seinem Ebenbilde neu.« (S. 51f.) Es ist von da aus kein weiter Schritt zum unabhängigen Selbstporträt, in dem der Künstler sich christusgleich zeigt, wie Albrecht Dürer in seinem Münchner Selbstbildnis.
Aber auch die eigene Familie, die nun in das Selbstporträt einbezogen wird, spielt über Jahrhunderte eine wichtige Rolle. So hat Israhel von Meckenem 1490 als Reaktion auf die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts aufkommenden Porträts bürgerlicher Ehepaare als erster Künstler in Europa sich und seine Frau zusammen in einem Kupferstich gleichberechtigt dargestellt. Das Thema interessiert bis heute: Eine der letzten Abbildungen im Buch zeigt eine polychrome Holzskulptur aus dem Jahr 1990 von Jeff Koons mit seiner damaligen Ehefrau Illona Staller. Koons stellt sich mit dem Tabubruch seiner pornografischen Darstellung in eine jahrhundertelange Tradition des Selbstporträts. Zugleich kreiert er eine Absage an die absichtliche Unbeholfenheit vieler Künstlerselbstporträts des 20. Jahrhunderts und den malträtierenden Kult des geschundenen Körpers der Bodyartkünstler.
Der Blick zum Endes des 20. Jahrhunderts, zu aktuellen Strömungen in der Kunst, illustriert besonders gut, welche Entwicklungen das Selbstporträt durchlaufen hat. Selbstporträt muss heute nicht mehr das möglichst exakte Abbild eines äußeren Scheins sein. Im Gegenteil, die Künstler misstrauen diesem Blick, als ob sie nachträglich Plato recht geben wollten.
Künstler haben sich nicht nur als arbeitende Personifikation der Muse dargestellt, sondern im Laufe der Jahrhunderte vermehrt ihr Abbild psychologisiert. Ende des 19. Jahrhunderts entsteht ein Bruch in der Selbstdarstellung: Künstler maskieren und verkleiden sich. Nicht wie Rembrandt, der damit eher Kostümstudien betrieb, sondern vielmehr mit dem Ziel, ihrer Identität und ihrer sozialen Definition davon auf den Grund gehen zu können. Claude Cahuns Werk zum Beispiel besteht fast ausschließlich aus Maskeraden. John Coplands Fotografien seines Körpers zeigen nur noch Fragmente. Das Selbstporträt von Sophie Calle besteht aus dem Bericht eines Privatdetektivs, der sie heimlich observiert hatte. Diese Beispiele zeigen, dass das Selbstbildnis ein dynamisches Ausdrucksmittel ist, das für Künstler trotz der jahrtausendealten Tradition noch lange nicht ausgeschöpft ist.
James Hall geht der Frage nach, was Künstler antreibt, sich selbst zu porträtieren. Anhand zahlreicher Beispiele hat er eine Geschichte der europäischen Selbstdarstellung von Künstlern, vorrangig Malern, vorgelegt, die zugleich eine Kulturgeschichte Europas wiedergibt. Das Selbstporträt hat im Laufe der Jahrhunderte nichts von seiner Anziehungskraft verloren, weder für Künstler, noch für Sammler und Betrachter. Die Lust der Menschen, sich jederzeit und überall selbst mit einem Selfie zu verewigen und mit anderen zu teilen ist eine Folge der Geschichte des Selbstporträts in der Kunst.