Rezensionen

Ein Ich mit Ruf– oder Fragezeichen? – Uwe M. Schneede untersucht das Selbstbildnis in der Moderne

Wenn ein gestandener Kunstgeschichtler längst die wohlverdiente Pension genießen kann und, statt sich zur Ruhe zu setzen, noch das Bedürfnis verspürt, ein Buch zu schreiben, dann muss es wohl dem Autor ein Herzensanliegen sein. Uwe M. Schneede ist ein gestandener Kunstgeschichtler: Leiter der Kunstvereine in Stuttgart und Hamburg, Professor in München von 1985–1990, dann bis zur Pensionierung 2006 Direktor der Hamburger Kunsthalle. Stets lag der Schwerpunkt seiner breit gefächerten Interessen deutlich auf der Kunst der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts: Max Ernst und der Surrealismus, Max Beckmann, Munch, Modersohn–Becker und immer wieder Ausflüge in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts. Walter Kayser hat das Buch für instruktiv und solide, aber nicht für außergewöhnlich erhellend befunden.

Cover © C.H. Beck
Cover © C.H. Beck

Zu den unerklärlichen Geheimnissen des Büchermarkts der jüngeren Vergangenheit gehört es, dass ein philosophischer Bestseller, der querbeet vieles auf kurzweilige Weise abhandelte, einen Titel besaß, der kaum etwas mit dem Inhalt zu tun hatte. Nichtsdestotrotz war gerade dieser Titel genial einprägsam. Glaubt man dem Autor Richard David Precht, so ging er auf den Verzweiflungsschrei eines reichlich angetrunkenen Studienfreundes auf nächtlicher Straße zurück: »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« Das ist nicht nur eine falsche syntaktische Verknüpfung, sondern klingt so irrwitzig und schizoid, dass man es nie vergisst. Dabei trifft er wohl weniger den narzisstischen Charakter einer nach übertriebener Anerkennung gierenden Generation, als dass er Ausdruck ist einer gründlichen Identitätskrise.
Die Sehnsucht nach Selbstvergewisserung in einer zutiefst verunsichernden Gegenwart ist auch ein entscheidender Motor für Selbstbildnisse. Anscheinend haben sie nicht nur in Büchern, sondern auch in Ausstellungen der letzten Jahre Konjunktur. Selbstbefragung ist angesagt. Allerorten.

Nun verspricht die neueste Veröffentlichung eines gestandenen, in Sachen Moderne ausgewiesenen Experten Aufschluss: »Ich! Selbstbildnisse der Moderne. Von Vincent van Gogh bis Marina Abramovic«. Statt des auftrumpfenden Rufzeichens hinter dem »Ich« wäre ein vieldeutiges Fragezeichen weitaus angebrachter gewesen.Uwe Schneedes Buch ist in 26 Kapitel eingeteilt. Darin nimmt sich der Autor die Selbstdarstellungen von 25 Künstler:innen vor, wobei jede:r mit mehreren Werkbeispielen vertreten ist. So lassen sich die Werke auf die eigene Entwicklungsgeschichte hin wie auch auf ihre Positionierung innerhalb ihrer Zeit befragen. Da eine innere Verwandtschaft unter ihnen vermutet wird, sind jeweils zwei, drei Künstler:innen unter Zwischenüberschriften zusammengefasst, welche reichlich allgemein und vieldeutig gehalten sind. Denn »Selbstprüfungen« unterscheidet sich nicht besonders trennscharf von Rimbauds berühmten Dictum »Ich ist ein Anderer« oder »Fremd im Selbst«. Die Auswahl der Künstler:innen und ihrer Werke überrascht nicht; sie entspricht vielmehr einem inzwischen durchaus etablierten Kanon der klassischen Moderne, beginnt sie doch nicht von ungefähr mit van Gogh, der (mit oder ohne abgeschnittenem Ohr) sich selbst in bohrender Selbstergründung immer wieder aufs Neue zu stabilisieren versuchte. Es folgen Paul Gauguin, dann Munch, Kokoschka, Kollwitz, Hodler, Corinth, Kirchner, Beckmann Schiele, Kahlo usw. – zum größten Teil also Namen, die zu erwarten gewesen sind.

© C.H. Beck
© C.H. Beck

Umso interessanter ist es, von welcher Fragestellung und welchem Erkenntnisinteresse sich die Betrachtungen dieses Buches leiten lassen und zu welchen interpretatorischen Schlüssen sie schließlich kommen. Gemeinhin ist ein Aufschluss über solch einen theoretisch–methodischen Ansatz dem Einführungs– und Schlusskapitel zu entnehmen. Schneede hält dort fest, dass Selbstbildnisse zwar nicht in der Moderne erfunden worden seien, sondern eng mit dem »humanistischen Gedanken von der einzigartigen Persönlichkeit« verknüpft seien. »In der Moderne jedoch rückte die Gattung in den Mittelpunkt« (9). Alles, was Schneede als Merkmal des Selbstbildnisses im 20. Jahrhundert anführt: dass es inszeniert sei, dass es sich zu einer »neuen symbolhaften Gattung« entwickelt habe, dass es einen »appellativen Charakter« besitze, ist, mit Verlaub, eine ziemliche Plattitüde.
Da sich bekanntlich erst in der Beschränkung der wahre Meister zeigt, ist es durchaus verständlich, wenn sich Schneede in der Auswahl der Kunstwerke konzentrieren will. Dass er aber lediglich »das gemalte Einzelselbstbildnis« (14) zum Gegenstand seiner Untersuchungen wählen will, also Werke, die den Künstler/die Künstlerin mit anderen zusammen zeigen, die ihn/sie indirekt und symbolisch vertreten, und auch plastische Arbeiten unberücksicht bleiben sollen, wird nicht einsichtig begründet. Da passt die Methodik nicht zum Thema. Zudem rückt der Verfasser im gesamten zweiten Teil von dieser Einschränkung ab. Ja, es gehört zu seinen besonders einsichtigen Erkenntnissen, dass spätestens seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Thema der Selbstbekundung mit einem »Umstieg in die neuen Medien« (147) einhergeht: Der Körper selbst wird zum Ausdrucksmittel, die fotografisch dokumentiert Aktion, die Performance und bis an die Grenze des Erträglichen gehenden leiblichen Selbstaussetzungen einer Marina Abramović. Es ist deshalb unlogisch aber unumgänglich, dass Uwe Schneede die zuvor gesetzte Einschränkung durchbricht. Das 20. Jahrhundert ist eben die Epoche, in welcher der im Untertitel bemühte traditionelle Gattungsbegriff des »Selbstbildnisses« obsolet geworden ist.

Erläuterungsbedürftig ist es auch, wo und wie Schneede überhaupt die Grenze zwischen herkömmlichen Selbstbildnis und der »Moderne« setzen würde und warum sich in dieser das offensichtlich exzessive Bedürfnis nach »Selbstbekundung« (ein etwas hölzerner Hilfsbegriff, der dauernd bemüht wird) immer mehr gesteigert hat. Geradezu naiv wirkt es, wenn der Verfasser Munchs vordergründige Erklärung, Selbstbildnisse böten sich für einen Maler eben an, weil man sich ja als »hervorragendes Gratismodell« stets zur Verfügung stehe, ebenso ernstzunehmen scheint wie das auf dem Vorderblatt abgedruckte Zitat aus Lovis Corinths »Das Erlernen der Malerei« von 1908: »Das beste und willigste Modell aber ist man selbst.«
Beide Bemerkungen sind vorgeschoben, nichts als Nebelkerzen. Sie verdecken nur den abgründigen Impuls, der gerade diese beiden Maler immer wieder zu einer gnadenlosen Selbstvivisektion vor den Spiegel trieb. (Bekanntlich hatte es sich Corinth zur Aufgabe gemacht, jedes Jahr um seinen Geburtstag am 21. Juli herum ein Selbstporträt anzufertigen. Entstanden ist auf diese Weise eine Folge, die den von Depressionen und Krankheitsschüben verursachten inneren und äußeren Verfall ohne jegliche Beschönigung dokumentiert). Selten hat sich so ungefiltert das Gefühl ausgedrückt, welches Heidegger mit dem Sprachspiel des »ek–sistere« umschreiben wollte. Er meinte damit jenes Hinausstehen und Aushalten der absoluten Unverfügbarkeit angesichts des ständigen »Vorlaufens« Bewusstseins in den Tod.

© C.H. Beck
© C.H. Beck

Dass man der »Geworfenheit« und »Nichtigkeit« des Daseins nichts anderes entgegenzuzsetzen vermag als die Kunst, macht die Selbstbekundungen dieses Buches zu mehr als privaten Selbstgesprächen. Sie strafen die Meinung gründlich Lügen, das »Setting« des klassischen Selbstbildnisses: der Maler/die Malerin vor dem Spiegel in der Stille seines Ateliers in einer schöpferischen Pause oder einer momentanen Schaffenskrise, gerade einmal bereit für ein Zwischenwerk, sei etwas Privates, besonders Intimes. Es gibt nichts Privates, was nicht auch von öffentlicher Bedeutung wäre, auch, und vielleicht erst recht nicht, das Selbstbildnis. Jedes Selbstbildnis ist ein Diagnoseinstrument. Die künstlerische Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« ist immer Ausdruck von Verunsicherung, Identitätsdiffusion, Selbstvergewisserung, einem Bedürfnis nach Bilanzierung und Bestandsaufnahme in der Krise. Es versucht auf die singulären Erschütterungen und Zerstörungen zu antworten, die der Mensch im 20. Jahrhundert sich und der Welt angetan hat.

Es hätte auch eines größeren psychologischen Verständnisses und einer tieferen analytischen Reflexionskraft bedurft, um die Tendenz zu verstehen, dass Künstler:innen dieser Zeit sich selbst darstellen, indem sie sich paradoxerweise möglichst unkenntlich machen. Die Tendenz zum Grimassenschneiden, zur Verkleidung, zum Spiel mit Maske und Rolle ist sicherlich nicht neu; man denke nur an die einschlägigen Selbstporträts eines Dürer, an Parmigianino, an den jungen wie späten Rembrandt oder an die Büsten eines Franz Xaver Messerschmidt; ohne diese Vorläufer wäre ein Egon Schiele, ein Arnulf Rainer, ein Jürgen Klauke oder eine Cindy Sherman nicht denkbar. Wo genau verläuft hier die Grenze zwischen Tradition und Moderne? Und was verbirgt sich hinter dieser paradoxen Verwandlungs– und Entfremdungsobsession? Schneede beschreibt dieses allenthalben auffällige Phänomen annäherungsweise, er gibt aber nirgends eine wirklich einleuchtende Erklärung.
Fazit: Ein Buch zu einem wichtigen, sehr vielschichtigem Thema, welches in einem größeren Reflexionszusammenhang bedeutend sein könnte für ein besseres Selbstverständnis unserer Zeit. Ein Buch mit einem schönen Reigen an Bildern und einem zu engem Blickwinkel der Betrachtung. Und schließlich ein Buch, das in der Durchdringung seines Themas an reflektorischer Kraft viele Wünsche offen lässt (auch nach weiteren Arbeiten zu diesem Thema).


Titel: Ich! Selbstbildnisse der Moderne – Von Vincent van Gogh bis Marina Abramovic
Autor: Uwe M. Schneede
Verlag: C.H. Beck
München 2022
240 Seiten
29,95 €


Verweise:
https://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/dancing_with_myself__selbstportr–7585.html
https://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/james_hall__das_gemalte_ich__die–7651.html
https://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/ich_bin_hier__von_rembrandt_zum_–7205.html
https://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/trnek__renate__hrsg____selbstbil–1989.html?highlight=Kayser

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns