Während sich viele Studien auf die Epochenschwellen um 1800 bzw. 1900 konzentrieren und daraus oft Erklärungsmuster für das gesamte 19. Jahrhundert ableiten, wurde die Kunstgeschichtsschreibung der universitären Institutionalisierungsphase bisher selten einer ausführlichen Analyse unterzogen. Diese Lücke schließt die vorliegende Publikation, die 2006 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität eingereicht wurde. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Inhaber der ersten fest etablierten Universitätslehrstühle für Kunstgeschichte, Anton Springer (1825-1891) und Carl Justi (1832-1912), deren Forschungen von hoher institutionsgeschichtlicher Bedeutung sind.
Ihre Hauptwerke „Raffael und Michelangelo“ von 1878 bzw. „Diego Velazquez und sein Jahrhundert“ von 1888 repräsentieren zwei verschiedene Konzepte der Kunstgeschichtsschreibung und haben als Standardwerke die Entwicklung des Fachs maßgeblich beeinflusst. Beiden Autoren ist gemeinsam, dass sie zunächst durch das Studium fachfremder Disziplinen wie der Philosophie (Springer) und der Theologie/Philosophie (Justi) bzw. durch die zeitgenössische Theoriebildung in der Ästhetik und Geschichtswissenschaft geprägt wurden.
Bei beiden Wissenschaftlern präpariert sich die kunsthistorische Auffassung überwiegend in einem autodidaktischen Aneignungsprozess heraus, in dem zumindest teilweise ein Transfer kunstfremder Denkmuster auf ihre Methodik erfolgte. Rößlers Studie gliedert sich in zwei Hauptteile, in denen die epistemologisch-darstellungsästhetischen Programme Antons Springers und Carl Justis jeweils gesondert behandelt werden. Der erste Teil ist der Genese von Springers kunsthistorischer Methodik aus der Ästhetik des Realismus gewidmet: Unter Einbeziehung von Springers Publizistik seit 1845 wird gezeigt, dass zahlreiche Argumentationsmuster und operative Vorgänge seines kunsthistorischen Denkens auf Prämissen beruhen, die aus der posthegelianischen und realistischen Theoriebildung stammen.
# Page Separator #
Rößler zeigt auf, wie das Zusammenwirken von wissenschaftlicher Empirisierung und national-liberalem Gesellschaftsentwurf zu einer Darstellungsstrategie führt, die politische Interessen eng mit der zu vermittelnden Kunstgeschichte verknüpft. Seiner Studie kommt der Verdienst zu, dass hier erstmals die ästhetischen und ideellen Grundlagen der universitären Kunstgeschichtsschreibung zwischen 1850 und 1900 systematisch erschlossen werden. Der Autor geht den ideellen Hintergründen dieser wissenschaftlich kaum behandelten Phase der deutschen Kunstliteratur nach und rekonstruiert die methodischen Impulse, die von Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Literatur ausgingen und entscheidend auf die Werkinterpretation und die Auffassung von der künstlerischen Kreativität gewirkt haben. Er setzt sich dabei das Ziel, die Kunstgeschichtsschreibung Carl Justis und Anton Springers aus ihrem jeweiligen ideengeschichtlichen Standort heraus zu bestimmen. Bei beiden Personen handelt es sich um Kunsthistoriker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nach 1860 den bewussten Anschluss an die Geschichtsschreibung und die Literatur suchen. Anhand der exemplarischen Behandlung dieser beiden Fachvertreter zeigt Rößler die geschmacks- und ideengeschichtliche Dimension des kunsthistorischen Denkens einer Zeit auf, in der weltanschauliche Argumentationsmuster eng mit Fragen der Kunstbetrachtung und ihrer Systematisierung verknüpft sind und sich auf die Organisationsstruktur des kunsthistorischen Sachtextes auswirken. Dies wird anhand der Analysen von Springers Schriften deutlich, dessen Beiträge zum Nachwirken der Antike, zur Erforschung der Handzeichnung und zur ikonographischen Analyse für die Entwicklung des Faches wegweisend waren. Im zweiten Teil der Arbeit steht Carl Justi im Zentrum der Analyse. Anhand seiner ersten wichtigen Schrift „Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen“ (1866/72) nimmt Rößler eine ideengeschichtliche Einordnung vor und erläutert, dass spätestens seit Wilhelm Waetzoldts Standardwerk „Deutsche Kunsthistoriker“ (1921/1924) die Biographien Carl Justis als das Paradigma einer Kunstgeschichtsschreibung gelten, in der eine sprachlich dichte Erfassung von Kunstwerken, hohe kulturgeschichtliche Sachkenntnis und Vertrautheit mit der Weltliteratur zu einer literarisch ansprechenden Darstellung verschmolzen werden.
# Page Separator #
Justis Velázquez-Monographie wird als eine der ersten großen Forschungsbeiträge zur spanischen Kunst gewertet und zählt zusammen mit Jacob Burckhardts „Cultur der Renaissance in Italien“ zu den kulturgeschichtlichen Hauptwerken des 19. Jahrhunderts. Berühmt sind hier die Einflechtungen von fiktionalen Passagen, die dazu führten, dass Justi zusammen mit Historikern wie Ranke, Gregorovius und Mommsen einen festen Platz in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts einnahm. Rößler gelingt es aufzuzeigen, dass die an der Velázquez-Monographie beobachtete Pluralisierung von Textformen (Dialog, Brief, Essay) und die rhetorische Konzeption der Bildbeschreibung der Ausdruck eines verdichteten Verständnisses von Historiographie sind, das sich in scharfer Abgrenzung zu normativ reglementierten Klassifizierungs- und Ordnungsmethoden konturiert. Mit dem im Nachmärz einsetzenden Ruf nach mehr Spezialforschung und dem gleichzeitigen Wunsch nach kulturgeschichtlicher Kontextualisierung von Kunstwerken stehen die Kunsthistoriker vor einem neuen darstellerischen Integrationsproblem. Nun zeichnet sich eine formale und inhaltliche Problemstellung ab, die in den Arbeiten Springers und Justis zu der zentralen darstellerischen Aufgabe wird: die Frage nach dem Verhältnis zwischen künstlerischem Werk und kulturgeschichtlichem Kontext. Rößler legt dar, dass sich am Verhältnis von Werk und historischem Kontext nicht nur die grundlegende hermeneutische Fragestellung nach der Interpretation von Werken der bildenden Kunst abzeichnet, sondern auch die Art und Weise, mit der dem zentralen geisteswissenschaftlichen Forschungsimperativ der Zeit, nämlich der Erforschung des in seiner Kultur produktiven Individuums und der psycho-energetischen Struktur seines Schaffensprozesses, entsprochen wird. In der synergistischen Verschmelzung von Leben, Werk und Kontext wird die Biographie zur zentralen Darstellungsform der Geisteswissenschaften, indem an ihr Fragestellungen wie die künstlerische Produktivität innerhalb des sozialen Zusammenhangs und der Verarbeitung der äußeren Lebenswelt im Kunstwerk konkretisiert werden können. Die mit dieser Entwicklung sich herausbildende pluralisierende Textstruktur trägt zu einem Verfahren der Perspektivenbrechung bei, das charakteristisch für die moderne Kunstgeschichtsschreibung wird. Die Dissertation von Johannes Rößler ist eine fundierte und quellengesättigte Untersuchung, die einen wichtigen Beitrag zu einem nach wie vor großen Forschungsdesiderat darstellt.