Kataloge, Rezensionen

Jutta Hülsewig-Johnen/Thomas Kellein (Hg.): Der Westfälische Expressionismus, Hirmer Verlag 2010

Soeben ist die Bielefelder Ausstellung zum Westfälischen Expressionismus zu Ende gegangen, die wohl keine Station außerhalb ihrer Region machen wird, was außerordentlich zu bedauern ist. Umso mehr ist der Katalog zu empfehlen, der nicht nur in guter Hirmer-Qualität gestaltet ist – wenn auch die Farben zuweilen hätten kräftiger ausfallen können! – sondern auch die Erträge der vorbildlichen Ausstellung zu bewahren hilft. Günther Baumann gibt Ihnen einen Überblick zu dem Katalog, der die Ausstellung auch für diejenigen erlebbar machen möchte, die sie verpasst haben.

Die Kuratorin Jutta Hülsewig-Johnen, ausgewiesene Fachfrau für den deutschen Im- und Expressionismus, prägt die Linie des Standardwerks mit Beiträgen zum »Expressionismus in der Provinz« sowie über Peter August Böckstiegel, Ludwig Godewols und August Macke. Ergänzt werden ihre Essays durch Texte von Christiane Heuwinkel (zu Carlo Mense), Ernst-Gerhard Güse und Walter Weihs (beide zu Wilhelm Morgner), Felicitas von Richthofen (zu Christian Rohlfs), die kuratorisch assistiert hat und von Erich Franz (zu Hermann Stenner). Sind hier schon die Highlights der Schau tiefgehend abgehandelt, bietet der in den Katalog eingestreute Bildteil einige Namen mehr, die dringend vor dem Vergessen bewahrt werden müssen, darunter Victor Tuxhorn, Ernst Sagewka und August Brunschön, die alle aus der Schule Godewols kommen, sowie Heinrich Schlief, Eberhard Viegener und andere mehr. Die den Band abschließende Chronologie fasst noch einmal die relevanten Daten zwischen 1901 und 1933 zusammen.

Der unter dem Strich bleibende Eindruck einer Neubestimmung expressionistischer Positionen überrascht nicht, ist aber beispielhaft auch für andere regionale Kunstbestrebungen: Die ländliche Tradition und das moderne Stadtleben schließen sich nicht aus, im Gegenteil: Sie befruchten sich gegenseitig und hinterlassen Spuren bei den »großen« wie den vermeintlich »kleinen« Meistern. Und für den Expressionismus gilt: Es gibt noch unendlich viel zu entdecken jenseits von München, Berlin und Dresden und jenseits von jeglichem kollektiven Gruppendenken. Längst ist der Rheinische Expressionismus als Begriff etabliert, und es ist an der Zeit, auch anderen Landstrichen einen Platz im großen Ganzen einzuräumen. Eine derartige Differenzierung könnte sogar dazu führen, dass die etablierten Zentren an den Rändern auch etwas durchlässiger betrachtet würden: So findet sich der Blaue Reiter ja keineswegs nur in München, sondern auch in der Provinz, etwa in Murnau, und diese keineswegs neue Erkenntnis könnte die Großstadt-Avantgarde mit dem ländlichen Raum versöhnen und die Landkarte könnte insbesondere für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts neu ausgezeichnet werden. Oberschwaben wartet bereits auf den Einzug in den zunehmend flächendeckenden Expressionistenteppich – wie eine (zeitlich weiter ausholende) Ausstellung in Bad Saulgau seit kurzem zeigt.

Der Katalog spart nicht mit spannenden Dokumenten und Zitaten. »Carl Mense ist Westfale der Geburt nach und … Kölner dem Wollen nach … Das Dämmernde, Nachdenklich-Beunruhigte, Verträumte und Visionäre des westfälischen Menschen und das Sprudelnd-Lebendige, das Sinnlich-Bewegte und Wirklichkeitsfromm des Rheinländers treten schon in den frühesten Werken dieses Malers zutage und verleihen ihnen den Rhythmus« Was Oskar Maria Graf, ausgerechnet dieses bayerische Urgestein (der noch im amerikanischen Exil mit Lederhose unterwegs war), über den Malerfreund Carl Mense schrieb, kann zum Charakteristikum wie zur Problemstellung der Bielefelder Ausstellung über des Westfälischen Expressionismus beitragen. Wie bei allen regionalen Eingrenzungen in der Kunst werden die Unterschiede zwar hervorgehoben, aber deutlich kommen auch die Schnittmengen zum Vorschein – sobald der eine Künstler fortgezogen oder ein anderer von außerhalb in den zur Debatte stehenden Raum eingezogen ist. So kommt es zu kaum festzumachenden Vermischungen wie im Fall Mense: Wo hört die westfälische Schwermut auf, wo beginnt die rheinische Frohnatur? Wie pauschal stimmen überhaupt derartige Bezeichnungen? Aus welcher Position heraus bewertet der Betrachter eine solche Kunst?

Mit Blick auf Bielefeld oder Hagen und ganz besonders auf Soest breitet sich eine Farbtopographie aus, die sich formal und inhaltlich dem im Grunde überregionalen expressionistischen Stil unterordnet und zugleich eine landschaftliche und »gemütsmäßige« Charakterisierung zulässt. Immerhin machen die im Katalog wiedergegebenen Arbeiten deutlich: Auch hier in Westfalen entstanden – warum auch nicht? – herausragende Kunstwerke. Dieser Gemeinplatz hat jedoch nicht nur Methode, sondern auch seine Berechtigung: Zum einen braucht man zwar die Lichtgestalten der Schau, August Macke an erster Stelle, dann aber auch Christian Rohlfs, kaum im Kontext vorzustellen; sie stehen über den Dingen bzw. einer regionalen Zuordnung. Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass gerade Macke im Rheinischen Expressionismus genauso zu Hause ist, wie er in einem Atemzug mit dem Blauen Reiter in München genannt wird. Zum anderen aber erlaubt es diese regionale Themenstellung aber auch, weniger bekannte oder zu Unrecht verschattete Positionen hervorzuheben. Den Namen Hermann Stenners etwa, im Stuttgarter Raum durchaus vom Hoelzel-Umfeld her vertraut, kann man nicht oft und laut genug nennen. Seine Arbeiten gehören zum besten, was der Expressionismus an »Entdeckungspotential« zu bieten hat. Nahezu unbekannt ist Wilhelm Morgner, Kopf eines Soester Künstlerkreises, und das völlig zu Unrecht, wie die Ausstellung zeigt. So wird der Katalog zu einer Fundgrube für alle Kunstfreunde, die bewundernd auf die Stars schauen und sich zugleich fasziniert von fremden Namen anregen lassen wollen.

Der Katalog versucht auch nicht, so etwas wie einen Gruppenstil zu manifestieren, wie es eine durchgehende Bildstrecke suggeriert hätte. Stattdessen setzt er um, was die Kuratorin für die Ausstellung konstatiert hat, dass sich der Westfälische Expressionismus aus dem »Werk Einzelner« zusammensetzt, »die dem Impuls folgten, sich der modernen Kunst zu nähern und ihren Beitrag dazu zu leisten«. Künstler um Künstler werden Werdegang und Werk abgehandelt, allein die Malklasse Ludwig Godewols wird als Gruppierung erkennbar. Dass dennoch so singuläre Werke wie die von Rohlfs oder Morgner nebeneinander (be)stehen können, liegt an der durchgängigen Leichtigkeit der Farben, die doch die Schwere des westfälischen Naturells zu vermitteln vermag. Man darf gespannt sein, welche Regionen sich zukünftig noch über den Expressionismus erschließen werden.

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