Das 20. Jahrhundert ist geprägt von radikalen politischen wie gesellschaftlichen Umbrüchen. Dies schlägt sich auch in der Avantgarde-Kunst nieder: Im Expressionismus explodieren Farben, im Kubismus zersplittern Formen, in der Dada-Bewegung verlieren Inhalte jede Bedeutung und im Konstruktivismus wird der Künstler zum Ingenieur. Es ist die Zeit der Manifeste, Programmhefte und Flugblätter. Doch was steht genau drin? Wir werfen einen Blick drauf.
In der Geschichtswissenschaft spricht man vom „langen 19. Jahrhundert“. Die Jahre von 1800 bis 1914 sind gekennzeichnet durch den Übergang zur Industriegesellschaft, die Bildung von Nationalstaaten und auch durch die Beschleunigung von Mobilität und Kommunikation. Seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts standen die Zeichen auf Fortschritt. Erstmals hatten nicht nur wenige Intellektuelle, sondern Millionen von Menschen das Gefühl, dass sich die Lebensverhältnisse in Europa stetig verbesserten. Wirtschaftliches Wachstum und politische Stabilisierung bei allmählicher Demokratisierung und dem langsamen Abbau alter Hierarchien zugunsten größerer Gleichheit der Staatsbürger legten eine solche Weltsicht nahe. Parallel sorgten ein aggressiver Nationalismus und eine imperialistische Politik jedoch für internationale Spannungen, die schließlich im Weltkrieg münden. Mit dem Ersten Weltkrieg zerfällt die Mächteordnung, die hundert Jahre zuvor auf dem Wiener Kongress geschaffen worden war: Das Osmanische Reich löst sich auf, ebenso Österreich-Ungarn. In Russland geht das Zarentum unter, in Deutschland das Wilhelminische Reich. In Italien übernimmt bald der Faschismus die Macht.
Geprägt vom neuen Lebensgefühl und einer radikalen Geisteshaltung schneidet der Maler und Grafiker Ernst Ludwig Kirchner das Programm der Künstlergruppe die Brücke 1906 in Holz: »Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.«
Währenddessen erschien am 20. Februar 1909 auf der ersten Seite der französischen Tageszeitung Le Figaro ein von Filippo Tommaso Marinetti, ein Schriftsteller und politischer Aktivist, unterzeichneter Leitartikel der etwas anderen Art. Er enthielt unter der Überschrift »Le Futurisme« das futuristische Manifest. Nach elf Programmpunkten schreibt er über das Ziel der Bewegung: »Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den Futurismus gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.« Das allein ist schon harter Toback für jeden Intellektuellen, aber dennoch ist Punkt 9 der eigentlich problematischste. Dort heißt es »Wir wollen den Krieg verherrlichen, - diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes«. Das Sterben für die schönen Ideen vollzog sich dann auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, der gelegentlich, nicht ganz zu Unrecht, als der "futuristische Krieg" bezeichnet wird. Später fanden auch die Faschisten gefallen an diesem Programm und konnten den Futurismus für sich instrumentalisieren: Marinetti wurde 1924 Mussolinis Kulturminister.
Als Reaktion auf den Krieg und auf Grundlage dessen gründet sich in Zürich die Dada-Bewegung. Das Dadaistische Manifest wurde bei der ersten Soirée des „Club-Dada“ am 12. April 1918 von dem deutschen Schriftsteller Richard Huelsenbeck verlesen und als Flugblatt verteilt. Es beginnt mit einer Schmähung der Expressionisten, von denen man sich enttäuscht sieht: »Haben die Expressionisten unsere Erwartungen auf eine Kunst erfüllt, die uns die Essenz des Lebens in Fleisch brennt? NEIN! NEIN! NEIN!. […] Unter dem Vorwand der Verinnerlichung haben sich die Expressionisten in der Literatur und in der Malerei zu einer Generation zusammengeschlossen, die heute schon sehnsüchtig ihre literatur- und kunsthistorische Würdigung erwartet und für eine ehrenvolle Bürger-Anerkennung kandidiert.« Ziel der Dadaisten ist es, mehr Realität in die Kunst zu bringen: »[…] mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. « Mit dialektischer Rhetorik endet es mit der Definition eines Dadaisten: »Dadaist sein, heißt, sich von den Dingen werfen lassen, gegen jede Sedimentsbildung sein, ein Moment auf einem Stuhl gesessen, heißt, das Leben in Gefahr gebracht haben« – nur um ganz zum Schluss zu bemerken: »Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!«
Als zweite Reaktion auf den Krieg und mitten in der Aufbruchsstimmung der kommunistischen Revolution entstand der russische Konstruktivismus. Ausgehend von der Präzision und Logistik der Maschine wurde der Erfahrung des Chaos eine neue, von Vernunft und Objektivität getragene Ordnung gegenübergestellt, die sämtliche Lebensbereiche erfassen und damit die Einheit von Kunst und Leben wieder herstellen sollte. In ihrem »Produktionistischem Manifest« forderten die Künstler Alexander Rodtschenko und Warwara Fjodorowna Stepanowa daher 1921: »die Aufgabe der Konstruktivisten-Gruppe besteht darin, der materialistischen konstruktivistischen Arbeit einen kommunistischen Ausdruck zu verleihen.« Dies solle auf der Grundlage wissenschaftlicher Hypothesen angegangen werden. An die Stelle des Künstlers tritt der systematisch untersuchende, rational planende „Künstleringenieur“.
Gegen die Verfallserscheinungen der Moderne und für eine Lebensreform sprach sich der Architekt Walter Gropius 1919 in Weimar aus. Das Bauhaus-Manifest verkündete: »Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der großen Baukunst. […] Architekten, Maler und Bildhauer müssen die vielgliedrige Gestalt des Baues in seiner Gesamtheit und in seinen Teilen wieder kennen und begreifen lernen, dann werden sich von selbst ihre Werke wieder mit architektonischem Geiste füllen, den sie in der Salonkunst verloren.« Analog zu den mittelalterlichen Dombauhütten fordert er daher die Rückkehr zur Arbeit in der Werkstatt, aber mit der Besonderheit: »Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! […] Erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.«