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Martina Pottek: Kunst als Medium der Erinnerung. Das Konzept der Offenen Archive im Werk von Sigrid Sigurdsson. Weimar 2007

Das Erinnern oder das Gedächtnis als Vorgang sukzessiver Ablagerung von Erinnertem - oder als Sedimentation von beharrlich Verdrängtem - in ästhetischer Form darstellbar und somit erlebbar zu machen, kann ein Künstlerleben aus- und erfüllen. Es schöpft sozusagen im entgrenzten Raum der Erinnerung. Die 1943 geborene Künstlerin Sigrid Sigurdsson hat im Modus der »offenen Archive« eine Anlaufstelle für verwaiste Erinnerungen geschaffen - einen Ort für bis dahin still versunkene Memorabilien. Unsere Rezensentin Susanne Gierczynski stellt für PKG die Arbeit Martina Potteks vor.

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In ihrer Dissertation widmet sich Martina Pottek der besonderen künstlerischen Ausdrucksform, mit der Sigurdsson Themen des Erinnerns und Gedenkens ästhetisch bearbeitet. Die zentrale Arbeitsthese der Autorin besagt, dass Sigurdsson‘s »Offene Archive« ein Forum für die Anbindung der eigenen Narration« anbieten und »damit zur Bildung von Geschichtsbewusstsein und zur Dialogisierung der Vergangenheit beitragen« (S. 15-16).

Kunsthistorisch verortet Pottek die Interpretation der Sigurdsson‘schen Arbeiten zwischen den Topoi »Erinnerungskunst«, »Gedächtniskunst« und jener seit den 1970er Jahren publiken Richtung der so genannten »Spurensicherung«. Als methodischer Hintergrund fungiert die »narrative Psychologie«. Denn, so Pottek: »Indem wir das Erlebte erzählen und ihm in der Erzählung Sinn geben, konstituiert sich letztlich auch unser Selbstbild.« (16) Besondere Virulenz erhält dieses mnemotechnische Verfahren im Werk Sigurdssons angesichts des zunehmenden Verlusts jener Zeitzeugen, die die nationalsozialistische Vergangenheit miterlebten. Sigurdssons eigene Werkgeschichte nimmt ihren Ausgang über das Todesjahr des Vaters, 1956, das eng mit dem Terror des NS-Regimes verwoben ist. (S. 48).

Die Vergangenheitsforscherin Sigrid Sigurdsson arbeitet einer Separierung von Geschichtsforschung und Kunst entgegen (S. 57). Das Geschichtskonzept Sigurdssons der 1960er Jahre vermittelt ein Geschichtsbild als Verknotung von Schicksalen und nicht als Folge großer politischer Ereignisse (S. 71). Favorisierte Materialien wie Kunststoffe jener Jahre, lehnte Sigurdsson ab - »ihr Material ist die Vergangenheit und die Geschichte«, so Pottek (S. 64). Mit den 1970er Jahren gerät das Thema »Gedächtnis und Erinnerung« in den Vordergrund, was der zeitgleichen Richtung der so genannten »Spurensicherung« entspricht (S. 73). Ab Mitte der 1980er Jahre realisiert Sigurdsson schließlich jene Erinnerungsprojekte und Gedächtnisräume, die den so genannten »Offenen Archiven« vorausgehen, die seit Anfang der 1990er Jahre entstehen (S. 109).

Das bislang bekannteste Archiv-Projekt Sigurdssons titelt mit »Vor der Stille« und ist im Hagener Karl Ernst Osthaus-Museum beheimatet. Für Pottek beinhaltet diese Installation als »Erinnerungsraum« nicht nur die Anregung der Gedächtnistätigkeit, »sondern ist auf einer Metaebene auch als Modell der Erinnerung selbst zu lesen« (S. 121). Pottek erarbeitet für die Deutung dieser installativen Wirkung sechs Topoi, mittels denen Sigurdsson‘s Strategie beschreibbar werden soll: »Reizüberflutung«, »Irritation durch Kontrastierung«, »Ironisierung«, »Täuschung«, »Schock« und »Empathieerzeugung« dienen dazu den Betrachter in die Arbeit zu involvieren und die Erinnerung zu stimulieren (S. 121). Grundsätzlich ist damit ein Betrachtertypus vorausgesetzt, der nicht auf Kontemplation sondern auf Dialog angelegt ist (S. 134).

In einem eigenen Kapitel widmet sich die Untersuchung den so genannten »Besucherbüchern« und »Reisebüchern«, die durch Mitwirkung der Besucher der Sigurdssonschen Installationen entstehen. Während die Besucherbücher vor Ort mit Eintragungen versehen werden, sind die Reisebücher ausleihbare blanko-papierne Bücher, die von den Teilnehmern bearbeitet und innerhalb von 30 Monaten zurückgegeben werden sollen (S. 147). »Ähnliche Konzeptionen mit vergleichbar offenen Werkstrukturen«, so Pottek, »waren zum Zeitpunkt der Einführung [1993] der »Reisebücher« im Bereich der zeitgenössischen Kunst nicht bekannt« (S. 147)

Der zum Teil verwirrende Assoziationsreichtum, den die Autorin oftmals leider nicht benennt und der gerade der Arbeit Sigurdssons das unbedingte Maß an Doppelbödigkeit verleiht, das ihrem Thema und ihrer Darstellung der Gedächtniskultur anhaftet, ist auch im Motiv des »Reisebuchs« angelegt: Ein Buch, völlig unbeschrieben oder ungeschrieben, geht auf die Reise mit Menschen, die wiederum durch das Aufschreiben ihrer Geschichte(n) auf eine innere Reise geschickt werden um dieselbe schließlich aufzuschreiben und in den sicheren und sammelnden Hafen des Archivs zurückzugeben.

Sigurdssons Form der »Etablierung einer Erinnerungs- und Erzählkultur« (S. 197), der Pottek auf Seite 146 noch ein »zutiefst demokratisches (Kunst-) Verständnis« attestierte, wird gegen Ende der Untersuchung doch noch entgegengehalten, dass Archiven »generell« auch ein »Machtcharakter« innewohne, der sich »vor allem anhand der Kategorien von Zugänglichkeit und Auswahl festmachen lässt« (S. 200).

Den Anspruch an eine Dissertation, Pionierarbeit zu leisten, vermag die vorliegende Publikation im Hinblick auf den monografischen Anspruch einzulösen. Allein darin liegt auch ihre Beschränkung. Pottek‘s Herangehensweise an das Werk Sigurdssons ist primär an der Offenlegung der Arbeits-Strategien der Künstlerin orientiert. Bemüht, einen verbindlichen wissenschaftlichen Kontext und Werkzugang zu erarbeiten, verliert die Autorin tendenziell dabei den direkten Blick auf das einzelne Werk und die zeitgleiche Kunsthistorie. Werk-Beschreibungen finden dadurch eher randständig statt, wo sie die Bildwirkung und -mächtigkeit, die Sigurdssons Arbeiten innewohnen, transportieren könnten. In diesem Sinne bleibt die eingangs aufgestellte These Potteks in ihrer Grundsätzlichkeit noch einmal zu überdenken, ob denn Sigurdssons »Kunstschaffen« tatsächlich »nicht auf die Schöpfung einer ästhetischen Ausdrucksform, nicht auf die Gestaltung eines Materials« abzielt, »sondern eher auf die Hervorbringung eines vielschichtigen und sich wandelnden Systems« (S. 21).

Martina Pottek hat sich auf ein künstlerisches Territorium vorgewagt, das per se schwer beschreibbar ist und hat auf gut lesbare Art und Weise eine Zugangsmöglichkeit zu einer sehr komplex verklausulierten Kunstsprache freigelegt.

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