Mit Rauschebart, Glatze und nachdenklichem Blick präsentiert sich Camille Pissarro in einem Selbstporträt — und bildet damit den Inbegriff eines »Vaters des Impressionismus«, als der er heute gilt. Seine väterliche Rolle ist denn auch das Motto der Wuppertaler Ausstellung, die auf die Vordenkerrolle Pissaros verweist und ihn in Beziehung zu seinen Malerkollegen setzt. Rainer K. Wick hat sie sich angesehen.
Wer eine Ausstellung mit Werken des französischen Impressionismus zeigt, braucht sich um die Akzeptanz des breiten Publikums keine Sorgen zu machen. Dies zeigt einmal mehr die große Pissarro-Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum, die seit Mitte Oktober läuft und inzwischen von mehr als 25.000 Besuchern gesehen wurde. Mit dieser umfangreichen und repräsentativen Schau setzt Gerhard Finckh, der Direktor des Museums, eine vor Jahren begonnene Reihe zum Impressionismus und seinem Umfeld fort – nach den Malern von Barbizon, Renoir, Sisley, Monet und Bonnard nun also Camille Pissarro (1830-1903).
Unter den Impressionisten war Pissarro über Jahrzehnte eine maßgebliche Integrationsfigur, ja er war das »heimliche Kraftzentrum« (Finckh) der Bewegung. Erst nach 1894, in der Folge der Dreyfus-Affäre, kam es zwischen dem Künstler und einigen seiner Malerfreunde zum Zerwürfnis. Insbesondere Degas und Renoir entwickelten gegenüber Pissarro, Sohn eines jüdischen Vaters und einer kreolischen Mutter, einen dezidierten Antisemitismus. Die Tatsache, dass Pissarro der einzige war, der zwischen 1874 und 1886 an sämtlichen acht Gruppenausstellungen der Impressionisten teilgenommen hat, bezeugt sein hartnäckiges Festhalten an den Prinzipien dieser neuen künstlerischen Richtung. Das schloss nicht aus, dass er offen für Einflüsse jüngerer Kollegen war, so etwa für die Bildtektonik eines Paul Cézanne oder später für die divisionistischen Malpraktiken der Neoimpressionisten Seurat und Signac. Wenn Wuppertal den Künstler als »Vater des Impressionismus« feiert, so mag diese Zuschreibung im genealogischen Sinne fragwürdig sein – in dieser Hinsicht wird man eher Édouard Manet die (allerdings unfreiwillige) Vaterrolle zuzubilligen haben. Als der Älteste der Gruppe war er aber gleichsam »Verteidiger und Apostel« (François Mathey) des Impressionismus, und für manche der Jüngeren war er verständnisvoller Ratgeber und väterlicher Freund. Cézanne hat gesagt: »Pissarro war für mich ein Vater. Er ist ein Mensch, den man um Rat fragen kann, und so etwas wie der liebe Gott« – und mit seinem mächtigen Rauschebart könnte der Künstler tatsächlich das Klischee der gütigen Gottvaterfigur bedient haben.
Die Wuppertaler Schau, die alle Phasen des Werkschaffens des Künstlers umfasst, von den klassizistischen und romantischen Anfängen über den Realismus Courbets und den Pleinairismus der Maler von Barbizon bis hin zum Neoimpressionismus und darüber hinaus, macht deutlich, dass er nicht das Temperament, die Spontaneität und die Kühnheit eines Monet hatte, sondern ruhiger, bedachter, auch prosaischer war als jener. Der Kunstkritiker Théodore Duret, Freund der Impressionisten, testierte Pissarro, seine Arbeiten zeigten zwar nicht das Gefühl für das Dekorative wie die Sisleys, auch habe er nicht »Monets phantastisches Auge«, dafür aber »ein inneres, tiefes Naturempfinden und eine Kraft des Pinselstrichs«, die es ihm erlauben würden, »ebenso hoch [zu] kommen wie jeder andere Meister.«
Dass er, anders als Manet oder Renoir, kein großer Figurenmaler war, wird in Wuppertal allzu offensichtlich, und seine Stillleben muten im Vergleich zu den streng gebauten, zukunftsweisenden Kompositionen eines Cézanne eher konventionell an. Als Landschafter sind ihm aber Werke gelungen, die in exemplarischer Weise belegen, was impressionistische Malerei ausmacht: das flirrende Spiel des Lichts, die Flüchtigkeit des Augenblicks, das Atmosphärische, die Vibration der Oberfläche, die Auflösung der Umrisslinie, der skizzenhafte Duktus, die Frische der Farben. »Schneelandschaft in Louveciennes« von 1872 mit ihren farbigen Schatten ist eines jener zahlreichen fabelhaften Bilder der Wuppertaler Ausstellung, die als das Credo eines vollkommenen Impressionisten verstanden werden können.
In den meisten Fällen handelt es sich um Landschaften, die eine heitere, vom Menschen kultivierte Natur mit Häusern, Feldern und Gärten zeigen. Zuweilen sind auf den Straßen Passanten zu sehen, ab und zu taucht auf den Flüssen ein Lastkahn auf, manchmal in Gestalt eines Dampfschiffs, hin und wieder deutet ein rauchender Schonstein an, dass die Industrialisierung auch vor den ländlichen Gebieten in der Umgebung von Paris nicht Halt gemacht hat. Pissarro, Impressionist und Augenmensch par excellence, nimmt das wahr, registriert es, ohne es zu bewerten – weder zu beschönigen, gar zu heroisieren, noch zu leugnen oder anzuklagen.
Diese neutrale, ja distanzierte, zugleich aber an den Phänomen prinzipiell interessierte Haltung zeichnet auch die in Wuppertal breit dokumentierte Werkgruppe der Ansichten von Rouen, Dieppe und Le Havre sowie insbesondere die Pariser Stadtansichten aus, die gegenüber den beschaulichen Landschaften ein urbanes Kontrastprogramm darstellen. Diese späten Bilder entstanden seit den 1880er Jahren bei ausgedehnten Aufenthalten in den drei nordfranzösischen Hafenstädten sowie in der Hauptstadt, wo sich der Künstler in den großen Hotels ein Zimmer mietete, um von dort aus malen zu können. Während Claude Monet in seiner berühmten Bildserie der Fassade der gotischen Kathedrale von Rouen ein historisch nobilitiertes Motiv wählte, wurde Pissarro von dem durch Technik und Industrialisierung geprägten »modernen Leben« der Hafenstadt angezogen. So etwa, als er 1896 das atmosphärisch dichte Bild »Aufsteigender Rauch an der Pont Boieldieu in Rouen im Sonnenuntergang« schuf. Was ihn an der schräg in die Tiefe führenden, erst zehn Jahre zuvor erbauten eisernen Brücke faszinierte, war ihr Anblick »bei Schmuddelwetter mit viel Wagenverkehr, mit Fußgängern, [...] Schiffen, Rauch, Dunst in der Umgebung, sehr lebendig und sehr bewegt« (Pissarro).
Ist es hier die Realität eines im industriellen Aufschwung befindlichen Ortes, der sich der Maler zuwandte, so waren es in Paris neben der Seine mit ihren Brücken, dem Louvre und den Tuilerien die großen Boulevards und Plätze, die unter Kaiser Napoléon III. in den 1850er und 60er Jahren gemäß den Planungen des Stadtpräfekten Georges-Eugène Haussmann entstanden waren. Haussmann hatte das alte Paris einer radikalen Verjüngungskur unterzogen, indem er – die mittelalterliche Bausubstanz dabei zum Teil zerstörend – schnurgerade, breite Schneisen durch die Hauptstadt legen ließ. Sie sollten den Anforderungen des modernen Verkehrs gerecht werden und als monumentale Sichtachsen den Stadtraum übersichtlich gliedern. Vorgeschrieben war eine hinsichtlich Geschoßhöhe und Fassadengestaltung einheitliche Randbebauung der Boulevards mit repräsentativen Prachtbauten, einheitlich war auch die Möblierung der Straßen und Plätze mit genormten Bänken, Kiosken, Plakatsäulen und Laternen.
Schon früh hatten Impressionisten wie Monet, Renoir und Caillebotte das »Neue Paris« als mondäne Metropole des Industriezeitalters in ihr Themenrepertoire aufgenommen. Pissarro, bis dato eher der Maler ländlicher Naturräume, entdeckte dieses Bildthema erst relativ spät, um sich damit in seinem letzten Lebensjahrzehnt umso intensiver auseinanderzusetzen. Die Wuppertaler Schau zeigt einen repräsentativen Querschnitt durch diese Werkgruppe, darunter das exzeptionelle Gemälde »Boulevard Montmartre bei Nacht« aus dem Jahr 1897. Wie Karin Sagner in ihrem Beitrag zu dem hervorragenden Katalogbuch betont, besteht der Reiz dieser auf dem Hell-Dunkel-Kontrast und dem Kontrast der Komplementärfarben Blau und Orange beruhenden nächtlichen Szene »in der farbigen Belebung der Architekturformen durch die Lichterkette der Straßenlaternen und die orange-gelb aufleuchtende Schaufensterreihung.« Flanierende Menschen, nur kommaartig angedeutet, beleuchtete Kutschen und die Spiegelung auf der regennassen Straße betonen das Lebendige und Flüchtige dieser Straßenszene.
Typisch für dieses Gemälde wie für zahlreiche andere Pariser Straßen- und Platzansichten Pissarros sind der erhöhte Betrachterstandpunkt und die stürzenden Perspektiven. Der Künstler scheint gleichsam zu schweben – dies ein maßgebliches Indiz der Moderne, wie etwa Jeannot Simmen in seiner Schrift »Vertigo« herausgearbeitet hat – und die künstlerische Bewältigung der Schwierigkeiten, die die aus der Vogelperspektive resultierenden Verkürzungen mit sich brachten, hat den Maler nach eigener Aussage ganz besonders gereizt. Die Modernität dieser Bilder hat nur sekundär mit dem Sujet, dem »Neuen Paris« Hausmanns, zu tun, sondern in erster Linie mit einer ganz unkonventionellen, neuartigen Sichtweise. Diese steilen Aufsichten, die der perspektivischen Tiefenräumlichkeit der Straßenschluchten tendenziell ein Moment der Einebnung des Raumes in eine flächenhafte Bildstruktur entgegensetzen, wurden erst Jahrzehnte später, in den 1920er Jahren, unter dem Motto »Das Neue Sehen« zum Signum der Fotoexperimente eines László Moholy-Nagy, eines Alexander Rodtschenko und anderer, die die sogenannte Bauchnabelperspektive der herkömmlichen Lichtschachtkamera ablehnten und mit ihrer Leica, der ersten markttauglichen Kleinbildkamera, das Sehen revolutionierten, indem sie den Apparat bewusst kippten und so ungewohnte Drauf- oder Untersichten erzeugten. Insofern kann zum Beispiel ein Bild wie »Place du Théâtre Français« von 1898 als Vorwegnahme fotografischer Bildformen des 20. Jahrhunderts verstanden werden, und so ist es mehr als berechtigt, wenn Pissarro seine Stadtansichten selbst als »modern in vollstem Sinne« bezeichnet hat.
Anzumerken bleibt, dass die Wuppertaler Ausstellung Pissarro nicht als singuläre Gestalt präsentiert, sondern sehr geschickt Referenzwerke von mehr als dreißig prominenten Zeitgenossen unterschiedlichster Couleur zeigt, um den Künstler so in der komplexen Kunstszene der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu positionieren.