Ralph Gleis, Ursula Storch (Hg.): Secessionen. Klimt - Stuck - Liebermann. Hirmer Verlag und Ausstellung Wien Museum

Wer im letzten Jahr die sehenswerte Ausstellung „Secessionen“ in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel verpasst hat, dem bietet sich nun – bis zum 13. Oktober 2024 – im neu eröffneten Wien Museum am Karlsplatz eine zweite Chance. Und wer auch dazu keine Gelegenheit findet, mag sich in das opulente und reich bebilderte, bei Hirmer in München erschienene Katalogbuch vertiefen. Rainer K. Wick war in Berlin und hat das Buch, das der Direktor des Wien Museums Matti Bunzl als „immense Freude“ bezeichnet, mit Interesse gelesen.

Ausstellungsplakat und Cover des Ausstellungskatalogs
Ausstellungsplakat und Cover des Ausstellungskatalogs

Die Jahre um 1900 waren eine Zeit tiefgreifender sozialer Umbrüche und kultureller Neujustierungen – man denke nur an die zahllosen Facetten der sogenannten Lebensreformbewegung –, und auch in der bildenden Kunst kam es in dezidierter Opposition zum akademischen Kunstbetrieb zu einschneidenden Neuerungen. Maßgebliche Motoren dieser Entwicklung waren die Secessionen (an Stelle heutiger Rechtschreibung – Sezessionen – wird hier in Anlehnung an Ausstellung und Katalog der historischen Schreibweise gefolgt). Es handelte sich um Abspaltungen vom tradierten Betriebssystem Kunst, die den Avantgarden der damaligen Zeit den Rahmen oder die Basis boten, ihre innovativen künstlerischen Konzepte und Praktiken einem größeren Publikum zu präsentieren und öffentlichkeitswirksam durchzusetzen. „Klimt, Stuck, Liebermann“, so der Untertitel der aktuellen Schau und des dazu gehörenden Katalogbuches, signalisiert, dass es hier nicht um eine Gesamtschau der Secessionsbewegung geht, sondern drei kunstgeschichtlich besonders bedeutsame Secessionen in den Blick genommen werden, nämlich jene in Wien, in München und in Berlin.


Dem möglichen Irrtum, durch die namentliche Erwähnung der drei Protagonisten Gustav Klimt, Franz von Stuck und Max Liebermann die Wiener Secession auf den Jugendstil, die Münchener auf den Symbolismus und die Berliner auf den deutschen Impressionismus zu reduzieren, tritt Ralph Gleis, derzeit Direktor der Alten Nationalgalerie in Berlin, zuvor Kurator am Wien Museum und ab 2025 Direktor der Wiener Albertina, in seinem Katalogvorwort nachdrücklich mit dem Hinweis entgegen, „dass in den verschiedenen Secessionen oft dieselben Künstler:innen ausstellten. Das galt sowohl für internationale Stars wie Edvard Munch, Ferdinand Hodler oder Auguste Rodin als auch für viele andere Teilnehmer:innen, die sich der Bewegung in allen drei Städten anschlossen.“ Tatsächlich ist die Gemengelage äußerst komplex, und dies zu verdeutlichen gehört zu den Anliegen sowohl der Ausstellung mit ihren zum Teil Kultstatus genießenden Exponaten als auch der Textbeiträge des hervorragend gestalteten Katalogbuches.


Mit ihrem Essay „Aufbruch in eine plurale Moderne“ gelingt Ralph Gleis und Ursula Storch, Kuratorin und Stellvertretende Direktorin am Wien Museum, eine gut lesbare Einführung in „das Wesen des Secessionismus in seiner Bedeutung für die Moderne“. Dabei geht es jenseits lokaler Ausprägungen in erster Linie darum, Aufschluss über das „gemeinsame Wollen“ der Secessionen zu gewinnen. Dieses gemeinsame Wollen bezog sich ganz allgemein auf die Schaffung alternativer Ausstellungsmöglichkeiten zum herkömmlichen, oft von einem mediokren Akademismus zeugenden offiziellen Kunstbetrieb, um so ohne staatliche Bevormundung neue künstlerische Positionen öffentlich sichtbar zu machen und sich von den Massenausstellungen der bestehenden Kunstgenossenschaften abzuheben. Im ökonomischen oder merkantilen Sinne waren die Secessionen Zweckgemeinschaften mit dem Ziel der Daseinssicherung ihrer Mitglieder, im Sinne der ästhetischen Gegenentwürfe, die die Künstler lieferten, waren sie aber mehr als das, nämlich Gesinnungsgemeinschaften mit einem stark ausgeprägten ideellen Impetus.


Hinzu kam bei den Secessionen, wie bei zahlreichen Künstlergruppen auch, die sich im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert bildeten, das Anliegen, der sozialen Isolation des in der Regel als Einzelgänger schaffenden modernen Künstlers entgegenzuwirken. Der Kunstkritiker Albert Schulze-Vellinghausen hat es auf die prägnante Formel gebracht: „Eine Gemeinschaft Einsamer, eine Verbundenheit Selbständiger“. Und der Kunstsoziologe Hans Peter Thurn spricht in diesem Zusammenhang treffend von der „Sozialität der Solitären“. Es ging um geistigen Austausch und gegenseitige Anregung (übrigens nicht nur innerhalb der eigenen lokalen Gruppe, sondern auch auf überregionaler und sogar internationaler Ebene), und natürlich um die Kommunikation mit dem Kunstpublikum und das Hineineinwirken in die Gesellschaft. Im Sinne einer interdisziplinär agierenden Kunstwissenschaft wäre es sicherlich nicht ganz abwegig gewesen, wenn sich das Autorenteam gerade bei diesem Thema auf eine eingehendere, fachwissenschaftlich fundierte Behandlung dieser und ähnlicher kunstsoziologischer Aspekte eingelassen hätte.


Gleis und Storch heben hervor, dass „nur das Gebot der Freiheit der Kunst und die Maxime der Qualität“ die Aktivitäten die Secessionen leiten sollten. Das bedeutet, dass der Entfaltung der künstlerischen Individualität ein besonders hoher Stellenwert zugemessen wurde, gleichzeitig aber zur Qualitätssicherung ein strenger Selektionsmaßstab galt – Kriterien, die sich in der Praxis nicht immer als kompatibel erwiesen. Hinzu trat die Forderung nach unbedingter Zeitgenossenschaft, was im Wahlspruch der Wiener Secession, „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst in Freiheit“, seinen Ausdruck fand. Die Offenheit der Begriffe – Freiheit, Qualität, Zeitgenossenschaft – beziehungsweise deren mangelnde Konturenschärfe machte es möglich, dass die Secessionen ohne stilistische Festlegungen (fast) „allen Richtungen einer progressiven Moderne“ offenstanden, wie die Autorin und der Autor betonen und was der Besucher der Ausstellung umstandslos nachvollziehen kann. Das Spektrum reicht von Exponaten, in denen noch das Erbe des Historismus nachklingt, über Bildwelten des Symbolismus und Spielarten des Jugendstils bis hin zum damals in Frankreich längst etablierten, im deutschsprachigen Raum aber nach wie vor umkämpften Impressionismus.

links: Franz von Stuck, Die Sünde, um 1912 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Franz von Stuck, Selbstbildnis an der Staffelei, 1905 (Foto Rainer K. Wick)
links: Franz von Stuck, Die Sünde, um 1912 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Franz von Stuck, Selbstbildnis an der Staffelei, 1905 (Foto Rainer K. Wick)


München – zwischen Jugendstil und Symbolismus


Im Anschluss an den Einführungstext von Ralph Gleis und Ursula Storch stellt Karin Althaus (Lenbachhaus München) unter dem Titel „Vorbild und Katalysator“ die Anfänge der Münchener Secession dar. Gegründet 1892 als Abspaltung von der existierenden örtlichen Künstlergenossenschaft und als Alternative zu einem von „Malerfürsten“ wie Franz von Lenbach oder Friedrich von Kaulbach geprägten, als rückschrittlich empfundenen Kunstbetrieb war sie die historisch erste Secession im deutschen Kulturraum. Mitglieder waren gleichermaßen bereits etablierte, meist dem Naturalismus beziehungsweise Realismus zuzurechnende Maler wie Hans Thoma, Wilhelm Trübner und Fritz von Uhde wie auch als progressiv geltende Künstler wie der Impressionist Lovis Corinth und Repräsentanten des Jugendstils wie Otto Eckmann, August Endell und Peter Behrens, um nur einige namentlich zu nennen. Das heißt, dass es keinen einheitlichen „Secessionsstil“ gab, sondern dass hier eine „stilpluralistische Elite“ (Karin Althaus) in Erscheinung trat, als deren zentrale Gestalt der zwischen Jugendstil und Symbolismus oszillierende Franz von Stuck figurierte.
Von ihm zeigt die Wiener Ausstellung neben ikonischen Werken wie „Die Sünde“ (hier nicht in der frühen Fassung von 1893, sondern in der späteren aus der Zeit um 1912) auch eine Darstellung der „Pallas Athene“. Dieses Motiv der altgriechischen Göttin der Weisheit, der Kunst und des Kampfes wurde zum Emblem der Münchener Secession. Schon 1893 erschien es auf dem von Stuck gestalteten Plakat für die 1. Internationale Kunstausstellung, fand danach auf zahlreichen Drucksachen Verwendung und wurde von Gustav Klimt 1898 auch für die kurz zuvor gegründete Wiener Secession adaptiert. (In Klammern sei daran erinnert, dass sich später die Nationalsozialisten dieses Motivs bemächtigt haben, um damit die Umschläge ihrer Monatsschrift „Die Kunst im Dritten Reich“ beziehungsweise „Die Kunst im Deutschen Reich“ und der Jahreskataloge der Münchener „Großen Deutschen Kunstausstellung“ zu dekorieren.)

nks: Franz von Stuck, Plakat für die 1. International Kunstausstellung (Secession), 1893 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Gustav Klimt, Pallas Athene, 1898 (Foto Birgit und Peter Kainz)
nks: Franz von Stuck, Plakat für die 1. International Kunstausstellung (Secession), 1893 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Gustav Klimt, Pallas Athene, 1898 (Foto Birgit und Peter Kainz)


München war um die Jahrhundertwende in den Bereichen Malerei, Grafik, angewandter Kunst und Architektur eine Hochburg des Jugendstils, nicht zuletzt durch die Gründung der Zeitschrift „Jugend“ im Jahr 1896 durch den Verleger Georg Hirth, die dem neuen Stil den Namen gab. Prägnanter hätte der Gedanke einer angestrebten Verjüngung, einer dezidierten Erneuerung, kaum auf den Begriff gebracht werden können. Damit verfügte die Secession über ein einflussreiches kunstpropagandistisches Instrument, um ihre Anliegen publizistisch zu untermauern. Ein Problem der Münchener Secession bestand allerdings in der Heterogenität ihrer Mitglieder, die kaum mehr miteinander verband als ihr Protest gegen die Mittelmäßigkeit und Innovationsfeindlichkeit der älteren Künstlergenossenschaft. Ein Blick in die offiziellen Kataloge der bis zu dreimal jährlich stattfindenden Secessionsaustellungen macht allerdings aus heutiger Sicht deutlich, dass es auch hier manch Traditionelles, ja erschreckend Mediokres gab. Und die Secession war keinesfalls eine Insel der Seligen. Rivalitäten waren an der Tagesordnung, und wie kontrovers es zugehen konnte, zeigte exemplarisch die Secessionsausstellung des Jahres 1899. In der Sektion „Kunst und Handwerk“ wurden der Öffentlichkeit Arbeiten der damals progressivsten Jugendstilentwerfer vorgeführt, etwa von Hermann Obrist, Otto Pankok, Bruno Paul, Richard Riemerschmid und, besonders zahlreich, von dem Belgier Henry van de Velde. Kurz danach konstatierte der Vorsitzende der Secession, Fritz von Uhde, dass „bei uns […] für das moderne Kunstgewerbe […] wenig Neigung und noch weniger Platz“ sei. Was Wunder, dass daraufhin maßgebliche Protagonisten des die freie und die angewandte Kunst miteinander verbindenden Gedankens des Gesamtkunstwerks München verließen, unter ihnen neben Pankok und Paul auch Peter Behrens, Otto Eckmann und August Endell.

links: Joseph Maria Olbrich, Plakat für die 2. Ausstellung der Wiener Secession, 1898 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Gustav Klimt, Judith, 1901 (Foto Rainer K. Wick)
links: Joseph Maria Olbrich, Plakat für die 2. Ausstellung der Wiener Secession, 1898 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Gustav Klimt, Judith, 1901 (Foto Rainer K. Wick)


Wien – der Hang zum Gesamtkunstwerk


Ganz anders die Situation in der österreichischen Hauptstadt, wo, angeregt durch das Münchener Vorbild, 1897 die Wiener Secession gegründet wurde und, im Unterschied zur bayerischen Metropole, der Hang zum Gesamtkunstwerk von Anfang an eine maßgebliche Rolle spielte. Ursula Storch vom Wien Museum, die die Ausstellung gemeinsam mit ihrem Berliner Kollegen Ralph Gleis kuratiert hat, thematisiert in ihrem Katalogbeitrag „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“ die frühen Jahre der Secession bis zum Ausscheiden der sogenannten Klimt-Gruppe im Jahr 1905. Gustav Klimt gehörte zusammen mit Josef Hoffman, Koloman Moser, Joseph Maria Olbrich und anderen nicht nur zu den Gründungsmitgliedern der Secession, sondern er war so etwas wie ihr Spiritus Rector und bis 1899 auch ihr erster Präsident. Dominieren in seinen klassischen Bildschöpfungen der Jahrhundertwende, die zum Inbegriff des Wiener Jugendstils wurden, abstrahierende Flächenhaftigkeit, ornamentale Stilisierungen und ein an die japanische Lackkunst erinnernder reichlicher Goldgebrauch (zum Beispiel in der eindrucksvollen „Judith“ von 1901), so zeigen einige seiner Landschaftsbilder und Frauenporträts eine gewisse Nähe zum Impressionismus – ein weiterer Hinweis auf die erwähnte Stilpluralität, die in der ersten Ausstellung der Wiener Secession unter dem Titel „Europäische Kunst der Zeit“ im Jahr 1898 gleichsam programmatisch wurde und die sich bei Klimt sogar im Œuvre ein und desselben Künstlers manifestierte.

links: Gustav Klimt, Bildnis Emilie Flöge, 1902 (Foto Birgit und Peter Kainz) rechts: Gustav Klimt, Seeufer mit Birken, 1901 (Foto N.N.)
links: Gustav Klimt, Bildnis Emilie Flöge, 1902 (Foto Birgit und Peter Kainz) rechts: Gustav Klimt, Seeufer mit Birken, 1901 (Foto N.N.)


So wie in München die Zeitschrift „Jugend“ die Secessionsbewegung publizistisch flankierte, wurde in der österreichischen Metropole die Zeitschrift „Ver Sacrum“ (Heiliger Frühling) zum Sprachrohr der Wiener Secession. Ihre grafische Gestaltung galt als ebenso revolutionär wie das klare, ja puristische Ausstellungsdesign in den Räumen des neuen, von Joseph Maria Olbrich entworfenen Secessionsgebäudes, das in der Zeitschrift „Ver Sacrum“ wie folgt charakterisiert wurde: „Maßgeblich für die Plandisposition war ausschließlich der Zweck: mit den einfachsten Mitteln einen brauchbaren Raum für die Tätigkeit einer modernen Künstlervereinigung abzugeben […].“ Hier fanden regelmäßig richtungsweisende Ausstellungen statt. Hervorgehoben sei nur die 8. Secessionsausstellung im Jahr 1900, die thematisch dem österreichischen und internationalen Kunstgewerbe gewidmet war. Nicht nur Josef Hoffmann und Koloman Moser zeigten hier ihre Möbelentwürfe, sondern als Gast nahmen auch der schottische Entwerfer Charles Rennie Mackintosh und dessen Frau Margaret Macdonald Mackintosh teil, deren Raumgestaltung die Entwicklung des konstruktiven Jugendstils österreichischer Observanz nachhaltig beeinflusste. Mehr noch als die 8. war die 16. Secessionsausstellung im Jahr 1903 international aufgestellt. Sie bot einen umfassenden Überblick über die „Entwicklung des Impressionismus in Malerei und Plastik“, so der Titel, und bezog in der Sektion „Übergänge zum Stil“ auch Tendenzen des Spät- und Nachimpressionismus sowie des Symbolismus, etwa der französischen Nabis-Künstler, ein.
In der 18. Ausstellung, ebenfalls 1903, wurde ein Querschnitt durch das Schaffen von Gustav Klimt gezeigt, der innerhalb der Secession den sogenannten Stilisten zugrechnet wurde, die sich für einen erweiterten, die Architektur und das Kunstgewerbe einschließenden Kunstbegriff und die Idee des Gesamtkunstwerks engagierten. Ihnen gegenüber standen die eher konservativen sogenannten Naturalisten, die durch die Hinwendung zur angewandten Kunst, auch im Zusammenhang mit der Gründung der Wiener Werkstätte, die Autonomie der Kunst gefährdet sahen. 1905 kam es unter den Mitgliedern zu einer Kampfabstimmung über den zukünftigen Kurs der Künstlervereinigung, in deren Folge die Stilisten, also die Gruppe um Klimt mit Hoffmann, Moser, Roller und anderen, aus der Secession ausschieden.

links: Thomas Theodor Heine, Plakat für die 3. Ausstellung der Berliner Secession, 1901 (Foto Dietmar Katz) rechts: Dora Hitz, Kirschenernte, vor 1905 (Foto Reinhard Saczevski)
links: Thomas Theodor Heine, Plakat für die 3. Ausstellung der Berliner Secession, 1901 (Foto Dietmar Katz) rechts: Dora Hitz, Kirschenernte, vor 1905 (Foto Reinhard Saczevski)


Berlin – Kristallisationskern des deutschen Impressionismus


Die dritte bedeutende Secession, die Gegenstand der aktuellen Ausstellung ist, wurde 1899 (nicht 1898, wie neuere Forschungen erwiesen haben) in Berlin gegründet. Sie richtete sich gegen den im deutschen Kaiserreich vorherrschenden Akademismus, gegen die verbreitete Ablehnung der Moderne, gegen den Bannstrahl, mit dem Kaiser Wilhelm II. als selbsternannter Richter in Kunstangelegenheiten vor allem den französischen Impressionismus zu treffen suchte. Ohne hier auf die Vorgeschichte einzugehen, die zur Gründung der Berliner Secession führte, sei als Besonderheit nur erwähnt, dass zu den ersten Mitgliedern neben vierundsechzig Männern auch vier Frauen gehörten: Dora Hitz, Sabine Lepsius, Julie Wolfthorn und Ernestine Schultze-Naumburg (bekannt auch als Ernestina Orlandini), übrigens die erste Ehefrau von Paul Schultze-Naumburg, der publizistisch nicht nur mit seinen „Kulturarbeiten“ hervorgetreten ist, sondern mit dem 1928 erschienenen, unsäglichen Buch „Kunst und Rasse“ dem NS-Regime den Boden für die Kampagne „Entartete Kunst“ bereitet hat. Während in den frühen Mitgliederlisten der Münchener Secession keine Frauen auftauchen und auch in der Wiener Secession „Frauen von jeglicher Mitgliedschaft ausgeschlossen waren“ (Storch) – Ausstellungsbeteiligungen waren allerdings möglich –, war Berlin in dieser Hinsicht deutlich fortschrittlicher eingestellt. So gehörten der Berliner Secession später unter anderen Käthe Kollwitz und die Frau des Malers Lovis Corinth, Charlotte Berend-Corinth, an, um nur zwei namentlich zu nennen.

links: Max Liebermann, Badende Knaben, 1900 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Max Liebermann, Bildnis Dr. Wilhelm Bode, 1904 (Foto Jörg P. Anders)
links: Max Liebermann, Badende Knaben, 1900 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Max Liebermann, Bildnis Dr. Wilhelm Bode, 1904 (Foto Jörg P. Anders)


Erster Vorsitzender der Secession war bis 1911 Max Liebermann, dessen Vereinsarbeit tatkräftig von Walter Leistikow unterstützt wurde. 1901 wurden Lovis Corinth, der zuvor der Münchener Secession angehört hatte, und Max Slevogt Mitglieder der Berliner Secession. Mit diesem Dreigestirn prominenter impressionistischer Vollblutmaler – Liebermann, Corinth, Slevogt – avancierte Berlin zum Kristallisationskern des deutschen Impressionismus. Von der Secession organisierte Ausstellungen machten das Berliner Publikum mit den „neuesten Strömungen der europäischen Kunstszene“ bekannt, wie Anke Matelowski (Akademie der Künste Berlin) in ihrem Katalogbeitrag „Eine Instanz im deutschen Kunstleben“ feststellt. So wurden 1901 „erstmals in Deutschland Bilder Vincent van Goghs gezeigt. Im Jahr darauf […] der sogenannte Lebensfries von Edvard Munch […] und 1903 ein Gemälde von Paul Cézanne“, 1903/04 Zeichnungen von Auguste Rodin, 1910 Arbeiten von Ferdinand Hodler und 1911 sogar von den Fauves-Künstlern André Derain, Raoul Dufy, Maurice de Vlaminck sowie von Pablo Picasso – also trotz des in Deutschland seinerzeit grassierenden Nationalismus eine entschieden internationale Ausrichtung.

links: Lovis Corinth, Selbstbildnis ohne Kragen, 1900 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Max Slevogt, Bildnis Bruno Cassirer, 1911 (Foto Rainer K. Wick)
links: Lovis Corinth, Selbstbildnis ohne Kragen, 1900 (Foto Rainer K. Wick) rechts: Max Slevogt, Bildnis Bruno Cassirer, 1911 (Foto Rainer K. Wick)


Ganz ähnlich wie in der bayerischen Metropole und in der österreichischen Hauptstadt lässt sich auch im Fall der Berliner Secession die Soziodynamik der Künstlervereinigung dahingehend beschreiben, dass sich die Gründungsphase als Sturm-und-Drang-Zeit darstellte, auf die nach einigen Jahren der Konsolidierung eine Zeit der Krise folgte, die zu Austritten und Abspaltungen führte und als Desintegrationsphase bezeichnet werden kann. Nachdem 1910 zahlreiche zumeist expressionistische Mitglieder ausjuriert worden waren, bildeten diese die „Neue Secession“, und infolge unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten zwischen den unterschiedlichen Fraktionen verließen drei Jahre später unter der Führung von Slevogt und Liebermann mehr als vierzig Künstler:innen die Secession und gründeten 1914 die „Freie Secession“.


Ohne derartigen Verästelungen nachzugehen, veranschaulicht die Ausstellung, deren zeitlicher Bogen von 1892 bis 1913 reicht, die große Bandbreite künstlerischer Positionen und das Nebeneinander stilistisch individueller Ausprägungen. Gezeigt werde Gemälden, grafische Arbeiten und Skulpturen von rund achtzig Künstler:innen der Secessionen in München, Wien und Berlin, die zum großen Teil aus den Beständen der Berliner Alten Nationalgalerie und des Wien Museums stammen und durch Leihgaben aus bedeutenden deutschen, österreichischen und internationalen Sammlungen ergänzt werden. Thematisch in fünfzehn Sektionen gegliedert – etwa „Frühlingserwachen“, „Private Einblicke“, „Illustre Gesellschaft“, „Von Arbeit und Alltag“, „Begegnungen mit der Natur“, „Köpfe der Secessionen“ – entfalten Ausstellung und Katalog ein großartiges Panorama der künstlerischen Moderne im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Das ist nicht nur äußerst informativ, sondern auch und vor allem ein ästhetischer Hochgenuss par excellence.

Titel: Secessionen. Klimt - Stuck - Liebermann
Herausgeber:innen: Ralph Gleis, Ursula Storch
Beiträge von: K. Althaus, R. Gleis, A. Matelowski, U. Storch
Verlag: Hirmer
328 Seiten, 265 Abbildungen in Farbe
24,5 x 29 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4163-4


Ausstellung:
Wien Museum am Karlsplatz, bis 13.10.2024

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
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