Rezensionen

Reinhard Liess: Albrecht Dürer - Die Sprache seiner Gewänder. Michael Imhof Verlag

Das Cover lädt vielversprechend mit einem imposant wirkenden Faltenwurf eines Engelgewandes in das Thema ein. Dürers Draperien fordern den Blick des Publikums heraus. Die Hülle, das Verhüllen und die Aussagekraft jener (Ver)-kleidung ist von so gigantischer sinnlicher Macht, die geradezu nach einer Übersetzung schreit. Spannend und energetisch sprechen die Gewänder Dürers, van Eycks, Schongauers und Leonardo da Vincis wie auch Raffaels, wobei der Autor den Bogen des Blickfeldes sehr weit spannt. Melanie Obraz zeigt sich begeistert.

Cover © Imhof Verlag
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„Sive ut loquuntur“, so als würden sie [die Gewänder] selbst sprechen. Mit eben dieser lateinischen Sequenz beginnt Autor Reinhard Liess seine Ausführungen. Die wallenden Faltenwürfe sprechen also nicht wirklich, sondern es kommt den Betrachtern:innen nur so vor? Damit ist klar, dass ein Gegenüber jene verklausulierte Sprache verstehen muss. Schon aus diesem Grunde ist auf der ersten Seite von der „Anschauung“ die Rede: „Anschauung impliziert die intensive Arbeit des Auges.“ Gewiss könnte man Draperien lediglich als Beiwerk oder Ausschmückung interpretieren, eben als ein Detail. Doch gerade auf das sogenannte Kleine kommt es in den aussagekräftigen Arbeiten Dürers an. In Anlehnung an Dürer: „Schon jenes Kleine muss recht sein, da es das Große trägt.“ Auch hier lässt der Autor bewusst offen, was genau gemeint ist. Die im Buch zur Geltung kommenden Zeichnungen verdeutlichen die selbstreflexive Herangehensweise Dürers, denn seine Entwürfe entstanden fast ausschließlich aus dem Grunde, um eigene Fragen hinsichtlich künstlerischer Prozesse zu klären. So gesehen waren sie in der Hauptsache nicht für ein Publikum gedacht, doch im Nachhinein erschließen sie Betrachtern:innen die technische wie künstlerische Arbeitsweise Dürers.

Auch deshalb muss sich das Publikum in die Welt Dürers begeben, um zu verstehen. Der Prozess des Verstehens gerät hier zu einem aufwühlenden Erlebnis und ermöglicht eine völlig neue Erfahrung, zeigen sich die Faltenwürfe doch in einer Weise gestaltet, dass sie nicht lediglich eine Verhüllung von Verborgenem liefern, sondern vor allem neue Bilder hervorrufen. Die Beziehung zwischen dem sichtbaren Faltenwurf und dem nicht sichtbaren, aber erahnbaren Körperteil erzeugt eine Spannung, die dennoch nie nach einer Enthüllung heischt. Die Draperien des Tuches verleihen den verhüllten Körpern eine Ruhe ,die zum Verweilen einlädt. So wird eine Art der Kontemplation gefördert, die gewohnte Sichtweise verändert und sogar in Frage gestellt.

© Imhof Verlag
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Was ist das Besondere an diesen Draperien und worin besteht der Unterschied zu ähnlichen Arbeiten von Leonardo da Vinci, Michelangelo Buonarroti, Martin Schongauer wie auch Jan van Eyck? Der Autor zeichnet diese feinen Abweichungen äußerst präzise nach. Bei Leonardo erscheinen die Draperien akzentuierter und bei Dürer flachfließender im Ausdruck. Leonardo äußerte sich zu den Faltenwürfen bei Albrecht Dürer und bemerkte ihre Besonderheit, um ebenso Kritik zu äußern, da sie teilweise zu gebläht seien. Die sogenannten italienischen Einflüsse lassen sich bei Dürer erkennen, allerdings ohne in dem Maße beherrschend zu sein, dass sie die leidenschaftliche Ausdruckskraft seiner Kunst je vollkommen in den Schatten stellten.

Leonardo gründete seine Arbeiten auf Naturbeobachtung und war der wissenschaftlichen Beobachtung geneigt, was sich als „Ursache-Wirkungs-Verhältnis“ in den Körper- und Gewandbewegungen verdeutlicht. Ganz anders Dürer, der zwar auf Natürlichkeit bedacht war, die doch stets die dahinter lenkende Hand des Meisters verriet. Seine skizzierten Gewänder scheinen sich aus eigenem Antrieb zu bewegen.

© Imhof Verlag
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Vielleicht sind Dürers Zeichnungen deshalb teilweise technischer gestaltet und lassen eine fast abstrakte Konstruktivität ahnen. Dennoch ist offensichtlich, dass Dürers Figurenbildung auch Einflüsse von Michelangelo zeigen, ohne jedoch in purer Dekoration zu erstarren. Abbildungen zu Studien der Gewandzipfel geben einen fulminanten Einblick in Dürers geniale Beobachtungsgabe.
Das Spezifische an Dürers Arbeiten speist sich aus dem Geschichtlichen und vereinnahmt darin eine lange Entwicklungslinie, die sich in eben dieser kunstvollen Sprache seiner Gewänder gleichsam als Magie kundtut. Wohl auch deshalb hebt Liess hervor, Dürer sei „immer derselbe, aber nicht der gleiche“. Doch sind auch figürliche Identitäten entscheidend, in der die Bildthematik ihre Gewänder anbietet und zum Sprechen bringt. Interessant zeigen sich die Draperien im Vergleich zu Jan van Eyck und die üppig gestalteten Faltenmassen, denen eine „über alle Natur waltende“ Energie eigen zu sein scheint. Ebenso wird Roger van der Weyden und ein in der Tiefe des sinnlichen Spiels der Falten waltender sakraler Ernst thematisiert wie auch Martin Schongauers Interpretation des Faltenwurfs.

Vor allem aber ist die Augenarbeit und das Selbstsehen des Publikums das Wichtigste, denn der zu erwartende Augenblick, der sich einem Geistesblitz vergleichbar einstellt, will interpretiert werden. Nur so gelingt es die Sprache der Draperien wahrzunehmen, um jene in „fließender Rede und logischen Folgeschritten lebendig entwickeln“ zu können. Damit wird das Publikum den Sinngehalt des Ganzen und die Harmonie in den Skizzen und Gemälden Albrecht Dürers erkennen. Dann ist auch die Anschauung vollendet und der Kunstgenuss wird sich einstellen.
Die Verhüllung hebt die stoffliche Präsenz hervor, welche durch die Lichtmodellierung nochmals betont wird und so das nicht Sichtbare mit dem Sichtbaren verbindet, womit das so Verborgene durch die Hülle eine Verwandlung erlebt. Liess stellt in seiner Betrachtung exponiert heraus, dass es um den Genuss gehen darf und Schönheit wieder einen Stellenwert erlangen soll. Jene Schönheit, die sich in einer vollkommenen Harmonie zeigt und die der aktuellen Kunsttheorie meist entgegensteht.

© Imhof Verlag
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Das Auge als Zentrum der Sinne und die Aufgabe der Erarbeitung des eigenen Sehvermögens und die damit einhergehende Entwicklung, die eine solche in sich birgt, gilt es laut Liess unbedingt wieder in den „Blick“ zu rücken. „Die Trägheit des Augensinns lässt den Kunstsinn verkümmern,“ erkennt der Autor. Auch äußerte Dürer höchstpersönlich, dass es wichtig sei, genau hinzusehen.
Die feinsinnige wie bestechend genaue Sprache des Verfassers ermöglichen so auch den bisher noch nicht eingeweihten Betrachtern:innen einen Zugang und Genuss der Ausdruckskraft der Sprache der Gewänder bei Albrecht Dürer in seinen Zeichnungen und Gemälden. Detaillierte Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis komplettieren das Werk.

Titel: Albrecht Dürer. Die Sprache seiner Gewänder
Autor: Reinhard Liess
Verlag: Michael Imhof Verlag GmbH & Co.KG
Umfang: 160 Seiten, 48 SW- und 2 Farb-Abbildungen

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