Rezensionen

Matthias Depoorter: Flämische Meister. Von van Eyck bis Bruegel. Hatje Cantz

Wer ein Überblickswerk über die Flämischen Meister des 15. Jahrhunderts schreibt, stellt sich in eine große, Ehrfurcht gebietende Forschungstradition. Namhafte Kunsthistoriker haben auf diesem Gebiet ihre jeweilige Duftmarke hinterlassen, erinnert sei nur an Max J. Friedländer, Charles de Tolnay, Erwin Panofsky, Wolfgang Schöne, Friedrich Winkler, Otto Pächt oder Hans Belting. Für sie alle war die Epoche mehr oder weniger durch die Eckdaten 1432 (vermutliche Fertigstellung des Genter Altares durch die Brüder van Eyck) und 1569 (Tod Pieter Bruegels d. Ä.) verbindlich gesetzt. - Ein unbeackertes Feld der Forschung ist die Malerei der «burgundischen Niederlande» keineswegs. Dazu sind Fülle und Qualität der Tafelmalerei einfach zu gewaltig. Was hat es also mit der Neuerscheinung «Flämische Meister. Von van Eyck bis Bruegel» durch den Belgier Matthias Depoorter auf sich? - Walter Kayser hat sich auf die Suche nach einer Antwort gemacht.

Cover © Hatje Cantz Verlag
Cover © Hatje Cantz Verlag

Wenn man nach einem goldenen Zeitalter der Malerei Ausschau hält, wird man in den südlichen Niederlanden des 15. Jahrhunderts vielleicht noch eher als in der sagenhaften italienischen Frührenaissance jenseits der Alpen schnell fündig. Denn nachdem es 1384 zu der politischen Vereinigung von französischer Verfeinerung und flämischem Kaufmannsgeist am Hof Philipps des Guten gekommen war, entfaltete sich bald eine künstlerische Blüte, die schwerlich ihresgleichen sucht. Ja, man kann sagen, hier im Norden wurde das Bild noch mehr zu dem, was wir heute darunter verstehen und was Leon Battista Alberti in seinem Traktat «Della pittura» (1435) als Idealvorstellung formulierte: ein Fenster zur Welt («una finestra aperta sul mondo»), welches die Natur, die «wunderbare Bildnerin aller Dinge», als Lehrmeisterin gewählt hat, um «das Abwesende anwesend sein zu lassen». Das gilt in mehrfachem Sinn: in der Erschließung des Innen- und Außenraums, der Entdeckung der Landschaft als eigenständiger Gattung, im Entwickeln der Perspektive, aber auch im Porträt, das erstmals einen Menschen, der abwesend ist, uns individuell unverwechselbar und lebensecht gegenübertreten lässt.
Der Verfasser dieses Bandes, der vom renommierten Berliner Hatje Cantz aufs Beste ediert wurde, bewegt sich offensichtlich auf vertrautem Gelände. Denn Matthias Depoorter (Jahrgang 1980) zeichnete erst jüngst als Kunsthistoriker am Museum der Schönen Künste in Gent mitverantwortlich für die großartige Schau «Van Eyck. Eine optische Revolution». Daneben hat er für viele Zeitschriften gearbeitet. Schwerpunkt war bereits in seinem 2010 erschienen Buch «Van Eyck to Dürer» die altniederländische Malerei seiner Heimat. Daneben hat er in mehreren Publikationen (2012, 2015 und 2016) seine zweite Passion mit der zur Malerei verbunden, indem er der Darstellung von Vögeln nachging, und zwar nicht nur in der niederländischen Kunst des 15. und 16. Jahrhundert, sondern auch im Barockzeitalter.

VANEYCK_ghentalatarpiecelamb
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Das hier zur Diskussion stehende Buch ist sozusagen ein Nachklang zu der fulminanten van Eyck-Ausstellung vor zwei Jahren. Stand damals die «Ars nova» des extravaganten und äußerst selbstbewussten Pioniers im Vordergrund, so ordnet Depoorter ihn jetzt in eine Reihe fast gleichrangiger Meister ein. Er betont nun auch die Anteile, welche den Nachfolgen am Neuaufbruch der Malerei zukommt, kann man doch immer das historisch Phänomenale nur in doppelter Perspektive betrachten: indem man einmal das Diskontinuierlich-Innovative, den singulären Epochenbruch hervorhebt, dann aber (was deutlich schwieriger ist) das Augenmerk umso mehr auf die Traditionslinien und Kontinuitäten lenkt. Nur in solch dialektischer Doppelung wird man annäherungsweise der Blüte dieser Zeit gerecht werden können, und wie immer gibt es keine einfache Erklärung, sondern nur ein multikausales Bündel an Begründungen.
Depoorter will keine neuen Thesen zur Diskussion stellen. Er hält sich an die Dinge, die in der Forschung common sense geworden sind, und beginnt, als hätte er Max Friedländer im Ohr, der schon vor fast hundert Jahren sagte: «Mit Jan van Eyck beginne ich. Wie sonst wohl könnte ich beginnen?» Denn niemand läutete, wie gesagt, so offensichtlich die neue Epoche ein wie diese Ausnahmeerscheinung, die zwischen dem Hof Philipps und dem städtischen Patriziat, zwischen einer tiefen Frömmigkeit und zunehmenden Verweltlichung ebenso vermitteln konnte wie zwischen den Polen von Kunst und Handwerk, naturwissenschaftlichem Interesse und privater religiöser Praxis.
Depoorter fasst zunächst im Stil eines Handbuches noch einmal all die Faktoren verdichtet zusammen, die zu dem furiosen Neubeginn um 1430 führten. Zuallererst ist hier die technische Perfektionierung der Ölmalerei zu nennen. Van Eyck gilt zwar heute nicht mehr als deren Erfinder, er hatte aber doch an ihr maßgeblichen Anteil. Durch Hinzufügen von Sikkativen (Trocknungsmittel) gelang es ihm, mit den Terpentinölen so zu arbeiten, dass in verschiedenen dünnen transparenten Farbschichten übereinander jene leuchtende Tiefe und jene flüssigen Übergänge des Farbauftrags entstehen konnten. Das ermöglichte wiederum einen nie zuvor gesehenem Nuancenreichtum, waren doch auf diese Weise Transparenz und deckender Farbauftrag nebeneinander möglich. So konnten der Großmeister und seine Nachfolger mit naturwissenschaftlich-akribischer Beobachtungsgabe die Brechungen des Lichts einfangen. Sie modellierten die Gegenstände in gestochen scharfer Plastizität, brachten sie zum Strahlen und inneren Leuchten. Mit der maltechnischen Revolution geht ein ganz neues Verhältnis zur religiösen Sphäre einher. Der Himmel wurde auf die Erde geholt und die materielle Dingwelt erschien mit einem Mal in überirdischem Glanz, konnte doch diese neue, naturalistische Malweise die bis dahin deutlich unterschiedenen Realitätsebenen des Übernatürlich-Transzendenten und der alltäglich-irdischen Objektwelt sichtlich einander angleichen. Die Unbegreiflichkeit der göttlichen Sphäre mit ihren Heiligen und Engeln wurde in sinnlich greifbare Nähe gerückt, in die vertraute heimische Landschaft integriert, mitten unter die wieder erkennbaren Zeitgenossen, gekleidet nach der aktuellsten Mode. Der intendierte Illusionismus zeigt sich in jeder Weise: in der perspektivischen Erschließung des Raums, in der Vorliebe zu zahlreichen «trompe-l’œil»-Effekten, aber auch in der Darstellung all der Pracht an Standbildern, Goldschmiedepreziositäten, Teppichen und modischen Gewändern, die zur prunkvollen Hofführung der Burgunderherzöge gehörte. Auch der Kunstmarkt wandelte sich entscheidend, traten doch zunehmend neben der Kirche auch weltliche Mäzene und zunehmend begüterte Bürger als Auftraggeber auf den Plan. Flandern, damals die am stärksten urbanisierte Region Europas, war nämlich im Schnittpunkt verschiedener Handelsrouten vor allem durch den Tuchhandel reich geworden. Als wollte die Malerei die gewebten Ballen und Auslagen der feinen Stoffe feiern, erscheinen die Stifter auf den Altarbildern auf gleicher Höhe mit den biblischen Heiligen in Seide, Damast, Goldbrokat und vor allem in «Scarlet» gekleidet, jener dünnen Wolle, welche in Gent, Brügge, Tournai und Brüssel vertrieben wurde.

New York, The Met Cloisters: Art Resource / Scala, Florenz
New York, The Met Cloisters: Art Resource / Scala, Florenz

Nachdem Depoorter in seinem Basisartikel den Grundstein gelegt hat, entfaltet er die darin summarisch angeschnittenen Aspekte sukzessive in den Folgekapiteln. Dabei versucht er zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Es folgt eine Galerie von 50 ausgewählten und repräsentativen Einzelwerken, die zugleich in chronologischer Abfolge jene Meister exemplarisch vorstellen sollen, die auf den großen van Eyck folgten. Die den Bildern beigefügten Erläuterungstexte sind konzentriert und griffig. Je nach der Bedeutung, die einem Schlüsselwerk zugesprochen wird, wird es in drei Schritten abgebildet: zunächst das Werk im Überblick, dann, nochmals vergrößert, in einer doppelseitigen Wiedergabe, und schließlich in riesigen Detailauschnitten. Diese «herausgezoomten» Details sind in mehrfacher Hinsicht bewusst und wirkungsvoll eingesetzt, verdeutlichen sie doch zum einen, wie sehr sie sich bei der nahezu «fotorealistischen» Malweise der «Ars nova» anbieten. Gleichzeitig beweisen sie, wie sich hier neue Bildgattungen anbahnen, welche sich in den kommenden Generationen zunehmend aus dem religiösen Zusammenhängen lösen, verselbständigen und zur Aufgabe von Spezialisten werden: das Porträt, respektive Doppel- und Gruppenbildnis, die Genreszene, das Interieur, die Landschaft und in Sonderheit die Stadtvedute. Zum Dritten aber wirken die übergroßen Detailaufnahmen einfach als verblüffende Blickfänge wie ungesehen «moderne» Bilder.

New York, The Met Cloisters: Art Resource / Scala, Florenz
New York, The Met Cloisters: Art Resource / Scala, Florenz

Auf diese Weise wird glaubwürdig vermittelt, wie sehr sich mit den Bildern der altniederländischen Meister manche wegweisend-moderne Entwicklungen verknüpfen lassen: Der Individualismus, ein Grundzug der Neuzeit, bricht sich Bahn, indem die Maler ihre Werke zu signieren beginnen oder ein Jan van Eyck wiederholt seinen nicht unbescheidenen, zum Staunen animierenden Wahlspruch «Als ich can» (= «So gut ich es vermochte») in das Holz des Goldrahmens hineinschnitzt. Auch erscheinen in den ersten echten Portraits die Dargestellten als unverkennbare Persönlichkeiten «auf Augenhöhe» (wie man heute heute sagen würde): ganz und gar unidealisiert, mit all ihren Fältchen, mit geplatzten Äderchen im Augapfel, Bartstoppeln und Warzen. Dass sie dabei dem Betrachter in einer Dreiviertelansicht nahezu direkt gegenübertreten, ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass bis in die 70er Jahre des 15. Jahrhunderts in der italienischen Frührenaissance das strenge Profilbild verbindlich war. Dazu passt die Tendenz, die der Autor in einem weiteren Kapitel entfaltet: Kleine Andachtsbilder, die beim Beten in die Hände genommen und auf Reisen in einem schützenden Stoffetui mitgeführt werden konnten, sind ein Indiz für die Privatisierung der religiösen Praxis, zumal wenn das alte Motiv der «virgo lactans», der stillenden Gottesmutter mit dem Erlöserkind, in ihrer emotionalisierten Intimität ganz ins Allgemeinmenschliche übersetzt wird.

Insgesamt ist dies eine Publikation, die als Prachtband erfreut. Ein Überblickswerk zur Einführung ohne spektakuläre Erkenntnisse, aber mit vorzüglichem Bildmaterial, beschränkt auf wenige repräsentative «Highlights».

Titel: Flämische Meister. Von van Eyck bis Bruegel
Autor: Matthias Depoorter (Gestaltung von Leen Depooter)
Hatje Cantz-Verlag, Berlin 2023
Hardcover
23,50 x 29,00 cm
280 Seiten, 300 Abb.
ISBN 978-3-7757-5413-2
Preis: 40 €

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