Rezensionen

Hugo van der Goes - Zwischen Schmerz und Seligkeit: Die Gemäldegalerie Alter Meister in Berlin präsentiert eine (fast) vollständige Werkausgabe des großen Meisters

Es ist mehr als halbes Jahrtausend her, dass er gestorben ist. Und dennoch ist gerade Hugo van der Goes unter den großen Meistern des 15. Jahrhunderts einer der «modernsten». Diese seine Nähe zum heutigen Zeitgeist liegt nicht so sehr in der malerischen Perfektion begründet, die ihn neben Jan van Eyck und Rogier van der Weyden stellt und die sozusagen als ein Markenzeichen der gesamten Altniederländischen Malerei gelten kann, sondern vor allem an der Ausdrucksstärke, die in den Gesichtern und Gesten immer etwas Gebrochenes eingefangen hat. Ende März eröffnet nun in der Berliner Gemäldegalerie eine Sonderausstellung. Der bei Hirmer erschienene Katalog kann und will auch als monografische Publikation «state-of-the-art» verstanden werden. Walter Kayser hat sich beide angesehen - mit großem Gewinn und Vergnügen.

Cover © Hirmer Verlag
Cover © Hirmer Verlag

In der Geschichte der Berliner Sammlung des preußischen Kulturbesitzes war und blieb der Ankauf einer großen Tafel mit der «Anbetung der heiligen drei Könige» für den seinerzeit enormen Betrag von 1 Millionen Reichsmark die teuerste Erwerbung aller Zeiten. Bei der Auktion 1910 hatte man einen Strohmann bieten lassen, so dass sich anschließend die Verhandlungen und diplomatischen Verwicklungen mit Spanien noch Jahre in die Länge zogen. Die Mönche des galizischen Klosters, nach welchem der Mittelteil des Triptychons seinen Namen «Monforte-Altar» erhielt, gaben an, der Maler ihres Altars sei ein gewisser Peter Paul Rubens, - dabei wurde er um 1470/75, also weitaus mehr als hundert Jahre früher, von Hugo van der Goes geschaffen.
Wenn man heute vor dieser Tafel steht und sich vom Audioguide des Museums Erläuterungen ins Ohr träufeln lässt, wird man insbesondere auf eine großartig gemalte Hand hingewiesen. Es ist die Rechte des mittleren Königs. Während sein Blick schon ganz gefangen genommen wird vom Anblick des göttlichen Kindes, weist er in unwillkürlicher Gegenbewegung ganz selbstvergessen auf einen Goldpokal hin, den ihm ein untertäniger Diener als Begrüßungsgeschenk anreicht. Die Hand schwebt etwa in der Mitte des Bildes. Sie ist wie alle Hände auf diesem Bild groß und ausdrucksstark. Diese aber ist insofern in solch stupender Lebensechtheit gemalt, als sie vor dem Hintergrund des dunkelblauen, pelzverbrämten Mantels im Streiflicht wunderbar aufleuchtet und dabei zwischen Verschattung, Halbschatten und einem zwischen den Fingerspalten durchbrechendem Schein Lichteffekte in allen Nuancen einfängt.
Nun ist die minuziöse Wiedergabe von unterschiedlichen Oberflächen und jeglicher Stofflichkeit sicherlich ein Grundzug gerade der altniederländischen Malerei, ist sie doch auch die Frucht der gerade hier entdeckten Ölmalerei mit feinen Marderhaarpinseln; was allerdings bei der reichlichen Zirkulation und Abwandlung von Bilderfindungen oft musterhaft-konventionell, glatt und süßlich erscheinen mag, gerät Hugo van der Goes immer lebensecht, eindrücklich und von tiefem Ernst beseelt.

Noch eine andere großformatige «Geburt Christi» (um 1480) darf die Berliner Galerie ihr Eigen nennen. Und da der Maler nur ein schmales Œuvre von gerade einmal 13 Tafeln hinterlassen hatte (bei van Eyck und Rogier van der Weyden ist es jeweils gut und gerne doppelt so groß), ist das schon Grund genug zu dieser Ausstellung, zumal beide Berliner Tafelbilder im zurückliegenden Jahrzehnt aufwändig restauriert wurden und sich nun in einer zuvor ungeahnten Frische zeigen.

Verantwortlich für die Schau und die vorzüglich edierte Begleitveröffentlichung zeichnen Stephan Kemperdick und sein Team. Dieser hat seit 2008 die Stellung des Kurators der altniederländischen Abteilung inne, für die er sich (natürlich) durch etliche Publikationen zum Umfeld empfohlen hat. Im Einzelnen veröffentlichte er zum Meister von Flemalle, zum Genter Altar der Brüder van Eyck, zu deren Schüler Rogier van der Weyden, aber auch zur deutschen Kunst der Spätgotik und Meistern wie Martin Schongauer oder Hans Holbein. Dabei führte ihn sein Weg über so namhafte Museen wie das Frankfurter Städel und das Kunstmuseum Basel.
Mit fast 60 vorzüglichen Leihgaben aus 36 unterschiedlichen Sammlungen, etwa dem Groeningemuseum in Brügge oder aus verschiedenen Londoner Häusern oder aus den Vereinigten Staaten, ist es gelungen, die Bilder in einen werkübergreifenden Zusammenhang zu stellen. Eine bislang einzigartige Unternehmung. Dabei darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass es leider aus (verständlichen) restauratorischen Einwänden nicht möglich gewesen ist, zwei zentrale (und ebenfalls monumentale) Werke in die Hauptstadt zu holen: den berühmten «Dreifaltigkeitsaltar» aus der Scottish National Gallery in Edinburgh und das Hauptwerk schlechthin: den «Portinari»-Altar aus Florenz. Nach wie vor dürfte es ja für jede Besucher:in der «Uffizien» eine eindrückliche Überraschung und ein überzeugender Beleg für die Ausnahmestellung des Niederländers sein, wenn sie/er hier, inmitten der großen Italiener des Quattrocento, auf den gewaltigen Altar (2,5 auf 6 Meter Breite) stößt. Tommaso Portinari, Repräsentant des Medici-Bankhauses im flämischen Brügge und Financier Karls des Kühnen, hatte das Triptychon für seine Familienkapelle in «San Egidio» in die Hauptstadt der Renaissance geordert, wo es am 28. Mai 1483 unbeschadet eintraf.

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
Blick ins Buch © Hirmer Verlag

Wer aber dieser Ausnahmekünstler war, ist aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht sehr deutlich auszumachen.
In zehn Essays versucht das Buch auf seinen ersten hundert Seiten zunächst unterschiedliche Aspekte seines Werks darzustellen und Licht in das nach wie vor große Dunkel zu bringen. Dabei geht es nach wie vor um Datierungsfragen und Zu- und Abschreibungen, um Hugo als Porträtmaler und Zeichner und um den Umkreis und seine Nachfolge. Es ist nicht einmal klar, ob und wann er tatsächlich in dem kleinen Städtchen Goes auf der Halbinsel «Walcheren» geboren wurde. Sicher ist, dass er am 4. Mai 1467 als «Freimeister» in die Lukasgilde zu Gent aktenkundig aufgenommen wurde. Wo er aber seine Ausbildung erfuhr, lässt sich nicht zur Gänze klären. Der Mitherausgeber Erik Eising beschäftigt sich in seinem Beitrag eigens mit Hugos Verhältnis zu Rogier van der Weyden, ist es doch ganz offensichtlich, dass Hugo viele Werke des bereits 1464 verstorbenen hochgeschätzten Brüsseler Meisters kannte. Nachweislich war er mit dessen Kompositionen, Figuren und Bildmotiven vertraut, wie auch mit Kupferstichen des in den Niederlanden wandernden deutschen Kollegen Martin Schongauer. Doch ob die vielen Verbindungslinien den Schluss erlauben, dass sich die Maler auch jemals persönlich begegnet sind oder ob Hugo gar noch als ganz junger Geselle in der Werkstatt und unter den Augen des 40 Jahre älteren Rogier seine ersten Schritte gemacht hat, bleibt wohl Spekulation. Immer wieder stellen die Verfasser der Katalogbeiträge deshalb notgedrungen verwickelte stilkritische Vergleiche an, um ihre Hypothesen und Befunde glaubwürdig zu begründen.
Sicher ist, dass Hugo van der Goes schon zu Lebzeiten hochgeschätzt wurde. Auch ein Albrecht Dürer hat ihn auf seiner Reise in die Niederlande 1520/21 als herausragende Figur in der zweiten Hälfte des vorangegangenen Jahrhunderts erkannt. Und sicher ist auch, was Hugos Malerei innerhalb der reichen künstlerischen Produktivität der wirtschaftlich so starken Zentren Flanderns und Brabants so auszeichnete. Seine Tafelbilder stechen aus der Fülle von vielfach abgewandelten bildnerischen Formeln bei einem begrenzten ikonografischen Themenspektrum vor allem durch dreierlei hervor: durch ihre ungewöhnliche Monumentalität, ihre koloristische Finesse und nicht zuletzt durch eine eigentümliche Herbheit und unverwechselbare Expressivität.
Ohne das spätere, typisch romantische Klischee von der unseligen Nähe zwischen «Genie» und «Wahnsinn» bemühen zu wollen, ist es eine existenzielle Lebenskrise, die ganz offensichtlich im Hintergrund steht: Anscheinend hat Hugo 1482 auf der Rückreise aus Köln einen Anfall von Wahn erlitten, der seinen Geist und/oder sein Gemüt nachhaltig erschütterte. Er zog sich in das «Roode Kloster» bei Brüssel zurück, wurde Laienbruder und vertiefte sich in die Gedankenwelt der «devotio moderna». Als Kardinalsünde sah diese Frömmigkeitsbewegung den Hochmut an, jede Form von Gefallsucht, die es zu bekämpfen gelte. Im Spannungsfeld zwischen der ewig drohenden Gefahr der «superbia» und einer umso stärker geforderten «humilitas» wurde der Maler dennoch das Gefühl nicht los, zu den «Verdammten» zu gehören. Auch quälte er sich immer mehr mit dem Vollenden seiner Werke. Nun ist das Phänomen des «malenden Mönchs» nichts Ungewöhnliches, nicht nur, wenn man sich die Anfänge der christlichen Kunst im Frühmittelalter vergegenwärtigt, sondern auch an zeitgenössische Beispiele wie Fra Angelico, Filippo Lippi oder Geertgen to sint Jans denkt. Doch bei Hugo ist fraglich, ob seine allerletzten Jahre im Kloster als Ursache oder als Endpunkt einer wie auch immer zu diagnostizierenden Erkrankung anzusehen ist, die wir heute vielleicht «Psychose» oder «Depression» nennen würden.
Nach wie vor empfing Hugo in seinem Atelier dort Besucher und Auftraggeber aus den höchsten Kreisen, etwa Maximilian von Österreich, der 1477 Maria von Burgund, die Tochter Karls des Kühnen, zur Frau genommen hatte. Wie sehr der Maler größtes Ansehen genoss und seinem Kloster beträchtliche Summen einbrachte, ist nicht zuletzt durch einen Mitbruder und Krankenpfleger, den Mönch Gaspar Ofhuys, bestens dokumentiert: «Als Maler hatte er einen solchen Ruf, dass es in seiner Zeit hieß, diesseits der Berge könnte man seinesgleichen nicht finden» (hier 49). Dankenswerterweise ist am Ende des Katalogteils dessen Bericht für die Chronik auf Latein und in Übersetzung abgedruckt. Ofhuys spricht von einer «sonderbaren Krankheit der Phantasie» und erwähnt suizidale und autoaggressive Tendenzen, gescheiterte Versuche, ihn musiktherapeutisch aufzubauen. Zugleich aber taucht er die Krankheitsbeschreibung in ein solch zeittypisch moralisierendes Licht, dass sich Erwin Panofsky schon vor Jahren über den Unterton «bigotter Böswilligkeit» entsetzte.

© Hirmer Verlag
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Dennoch, die Malerei des Hugo van der Goes trägt nicht erst in den letzten beiden Lebensjahren, allerdings gegen Ende hin immer unverkennbarer, alle Zeichen einer tiefen Verstörung und existenziellen Verunsicherung. In die vertraute religiöse Thematik bricht deutlich etwas Unheimliches ein, die Fragwürdigkeit und Vulnerabilität des menschlichen Daseins. Eben deshalb wirkt er so modern. Das zeigt sich schon in den Hirtenfiguren: es sind wirklich die Erniedrigten und Beleidigten, die hier verstört und in ihrer drastischen Armseligkeit besonders erlösungsbedürftig in die scheinbar heile Welt des Weihnachtswunders einbrechen.
Neben den sprechenden Händen sind es immer wieder die in tiefem Ernst versunkenen oder gar versteinerten Gesichter, ihre stieren Blicke, die Vereinzelung und Beziehungslosigkeit der Figuren innerhalb einer Szene, ihr innerer Aufruhr, der sich in katatonischen Verrenkungen und aufgerissenen Augen Ausdruck verschaffen will. So werden bei ihm die alttestamentarischen Propheten zu Hellsehern vom Schlage Kassandras.
Am stärksten wirkt dieser Eindruck von Kontingenzerfahrung im «Marientod» aus dem Brügger Groeningemuseum. Niemals zuvor durfte dieses Bild Belgien verlassen. Es zeigt in einer gewagten Frontalkomposition, wie alle Apostel kreisförmig das Sterbebett umstehen. Die Enge ist so groß, dass sie sich eigentlich bedrängen müssten. Jedes Gesicht ist auf seine Weise erschütternd von Leiden gezeichnet. Doch das Bild zeigt auch: Die Apostel trauern zwar gemeinsam, aber nicht miteinander. - Ist es da übertrieben, wenn man schon an den Expressionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere an die exaltiert auffahrenden und verkrampften Gesten der von Egon Schiele und Oskar Kokoschka portraitierten Personen denken muss?

Titel: Hugo van der Goes - Zwischen Schmerz und Seligkeit
Autoren: Stephan Kemperdick/ Erik Eising (Hrsg.)
Hirmer Verlag, München
304 Seiten, 250 Abbildungen
ISBN (deutsche Ausgabe):
978-3-7774-3847-4
ISBN (englische Ausgabe):
978-3-7774-3848-1
Preis: 55 €

Die Ausstellung geht vom 31. März bis zum 16. Juli 2023

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