Rezensionen

Laura Ritter/Emily J. Peters (Hg.): Bruegel und seine Zeit. Hirmer Verlag

Eine tollgewordene Welt aus den Fugen, aufgequollene Fischbäuche und Höllenfahrten. Heilige in schlechter Gesellschaft und bunte Kirmessen. Bauernszenen, gesellschaftliche Moralsatire und das bürgerlich-protestantische Ideal vom guten Leben: eine überbordende Vielfalt kennzeichnet die Bildkunst der Niederlande im Zeitalter Bruegels. Der Katalog zu einer aktuellen Albertina-Ausstellung in Wien präsentiert eine Auswahl von Werken aus den Beständen der Sammlung und führt die Vielfalt der Zeichnung im niederländischen 16. Jahrhundert vor Augen. Eine Rezension von Ulrike Schuster.

Cover © Hirmer Verlag
Cover © Hirmer Verlag

Der vorliegende Band nimmt mit auf eine bewegte Zeitreise in eine Epoche von tiefgreifenden politischen und sozialen Umwälzungen. Die Burgundischen Niederlande, sie umfassten um 1500 die heutigen Gebiete Belgiens, Luxemburgs und Holland, erlebten zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Ära der Prosperität und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Dank der günstigen geopolitischen Lage entwickelte sich die kleine habsburgische Provinz zu einem Umschlagplatz von Waren aller Art. Neben dem Import von englischen Tuchen, Edelmetallen aus den deutschen Landen und Gewürzen über Portugal florierten die heimischen Kunstgewerbe. Sie produzierten Stickereien, Spitze, Tapisserien, Geschmeide, Möbel, sowie bildkünstlerische Erzeugnisse. Mit dem Aufschwung als internationaler Handelsplatz ging eine umfassende Urbanisierung einher. Städte wie Antwerpen, Brüssel oder Gent entwickelten sich zu führenden Metropolen und pflegten internationale Vernetzung.

In Antwerpen etwa hatten sich um die Jahrhundertmitte neben den lokalen Kaufleuten Handelspartner und –kontore aus Portugal, Spanien, Italien, Deutschland und England etabliert. Die Stadt wuchs rasant wurde zu einer der bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich erfolgreichsten der damaligen Zeit. Einher mit dem Aufstieg der Städte ging ein gesellschaftlicher Umbruch, das aufstrebende Bürgertum entwickelte sich zu einer einflussreichen Bevölkerungsschicht, die selbstbewusst an die Seite von Adel und Klerus trat. Von dieser Entwicklung profitierten nicht zuletzt die Künstler, die sich in ihren eigenen Gilden und Kammern organisierten und sich zunehmend vom allgemeinen Handwerkerstand abgrenzten.

Damit begann das große Zeitalter der niederländischen Kunst. Die wirtschaftliche und intellektuelle Blüte förderte die Entstehung eines florierenden Kunstmarkts, zu dessen Kundschaft nunmehr auch das bürgerliche Publikum zählte. Um der wachsenden Nachfrage entgegenzukommen, etablierten sich neue Bildmedien, vor allem in Bereich der Druckgrafik. Die neuen reproduktiven Techniken wie Holzschnitt, Kupferstich und Radierung ermöglichten die schnelle massenhafte Publikation und eine enorme Reichweite von Darstellungen aus allen inhaltlichen Bereichen.

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
Blick ins Buch © Hirmer Verlag

Zum anderen entwickelte sich das zeichnerische Einzelblatt zum eigenständigen Bildwerk. In vorangegangenen Jahrhunderten dienten Zeichnungen im angewandten Bereich als Entwürfe und Studienblätter oder als Vorlagen für Gemälde, Tapisserien, Glasfenster und das Kunsthandwerk. Skizzen boten zugleich Raum für visuelles Experimentieren in verschiedenen Techniken und Materialien und gaben dem Künstler mehr Freiheit zur Erprobung individueller Ausdrucksmittel. Eigenschaften, die nunmehr zunehmend als eine eigene Qualität wahrgenommen und wertgeschätzt wurden. Bald schon entwickelten sich gezeichnete Blätter zu begehrten Sammelobjekten. Eine Besonderheit innerhalb der niederländisch-zeitgenössischen Graphik bilden Hell-Dunkelstudien auf gefärbtem Papier, ihnen ist ein eigenes Kapitel im Band gewidmet: Der mit Pigmenten durch getränkte Bildträger liefert dabei einen Mittelton, der eine besonders plastische Modellierung von Volumina sowie Licht- und Schatteneffekten erlaubte.

Inhaltlich vermittelt die niederländische Kunst des 16. Jahrhunderts eine Themenbreite, die den Kanon der mittelalterlichen Bilderwelt bei weitem sprengte. In der Nachfolge von Hieronymus Bosch entstanden Darstellungen von monströsen Mischwesen und phantastischen Szenerien, sie erfreuten sich schon damals einer außerordentlichen Beliebtheit. Gerne abgehandelt wurden die grundlegenden Fragen nach dem moralisch richtigen Verhalten des Menschen, nach einem adäquaten Umgang mit Geld und Besitz so wie – politisch brisant vor dem Hintergrund der religiösen Konflikte und dem Unabhängigkeitskampf gegen die spanische Besatzungsmacht – nach dem rechten Glauben. Gleichzeitig erlebte die Porträtkunst einen großen Aufschwung. Ausgehend von der Illustration zu biblischen Szenen emanzipierte sich schließlich die Landschaftsdarstellung als eigenständiges Genre.

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
Blick ins Buch © Hirmer Verlag

In den hochkarätigen Abbildungen aus den Beständen der Albertina lässt sich genussvoll Schmökern. Vertiefende Essays (von K. Jonckheere, S. Porras und C. Schaaf-Fundneider sowie ein Geleitwort von Jan Jambon) führen ein in die Zeit des großen Umbruchs zwischen dem ausklingenden Mittelalter und der frühen Neuzeit. Er ist geprägt von neuen Diskursen und einer Veränderung der gesellschaftlichen Normen. Auch das Bild der Welt sollte sich in diesem Zeitabschnitt grundlegend verändern. Stilgeschichtlich vollzieht sich im langen 16. Jahrhundert der Wandel vom ausklingenden Mittelalter, über die kühnen Formexperimente des Manierismus, bis an die Schwelle des Barocks. Ein Beitrag zur Frage der Restaurierung der Papierarbeiten rundet die Darstellung ab.

Titel: Bruegel und seine Zeit
Herausgeberinnen: Laura Ritter, Emily J. Peters
Beiträge von K. Jonckheere, S. Porras, C. Schaaf-Fundneider
Geleit von Jan Jambon
Hirmer Verlag München 2023 und Albertina Wien
240 Seiten, 155 Abbildungen in Farbe
24,5 x 28,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4042-2
EUR 45,00

Ausstellung: Bruegel und seine Zeit
Albertina Wien
Noch bis zum 24.05.2023

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