Nie gelingt es, das wiederzugeben, was man sieht. Und nie hat man das gesehen, was man als Foto oder Gemälde vor sich hat. Auf der Suche nach dem optischen Unbewussten im Werk verschiedener Künstler attackiert Krauss ein zu starres, lineares Kunstgeschichtsmodell. Linda Philipp-Hacka hat die Streitschrift der amerikanischen Kunsttheoretikerin gelesen.
»Alle anderen Freuden aber übertraf in jener Periode das stille Betrachten der See. [...] Ich verbrachte vier bis fünf Stunden täglich mit bloßem Starren auf die See und Staunen über sie [...].«
Mit Passagen aus der Autobiografie John Ruskins, der hier einen Rückblick auf seine Kindheit gibt, betritt Rosalind E. Krauss das an dieser Stelle nur andeutungsweise wiederzugebende Feld ihrer 2011 im Verlag Philo Fine Arts erschienenen Schrift »Das optische Unbewusste«. Einführend in die Prinzipien der modernistischen Wahrnehmung veranschaulicht Krauss, wie sich der junge Ruskin in den Beobachtungen seiner direkten Umwelt verliert, wie er z.B. das Muster in einem Bodenbelag oder im Meer sieht, die Form der Dinge, deren »Bild« sieht, doch dabei nicht merkt, auf welche Weise diese Bilder ihn gefangen nehmen.
Anhand Mondrians »Plus-Minus-Gemälden« und »Rautenbildern« macht Krauss daraufhin den Leser mit den Begriffen der Logik vertraut und versucht ausführlich ihm das grafische Schema der »Kleinschen Gruppe« der Strukturalisten nahe zu bringen.
»Denn der Modernismus, der alles auf die Form setzt, gehorcht bereitwillig den Begriffen des Symbolischen«. Dieses Schema setzt sie nicht nur gleich zu Anfang ein, um das Grundprinzip der Wahrnehmung, nämlich das Gegensatzpaar »Grund – Figur« in einem geordneten System darzustellen, sondern ebenso zur Analyse weiterer Spannungsfelder modernistischer Ansätze in den sich anschließenden fünf Kapiteln.
Max Ernsts Frottagen und Collagen werden innerhalb ausführlicher Werkanalysen immer wieder auf Theorien der Neurophysiologie hin untersucht. Diese Arbeiten, in denen er Ausschnitte von Katalog- und Zeitschriftenabbildungen (»Readymades«) einsetzt, setzt die Autorin durch die Kontextualisierung mit der Traumproduktion und Erinnerungsverfälschung in Beziehung zur Psychoanalytik Sigmund Freuds. Nicht neu sind für sie dabei die Theorien zum »optischen Unbewussten« des Psychoanalytikers Jacques Lacan und des Philosophen und Literaturkritikers Roland Barthes, auf die ihre eigenen Theorien regelmäßig Bezug nehmen.
Die optischen Spielereien der »Rotorreliefs« von Marcel Duchamp, so führt Krauss weiter aus, verdeutlichen seine konzeptionellen Ideen, weil sie — wie er selbst sagte — im Gegensatz zur modernistischen Kunst »an die grauen Zellen appellieren und nicht nur an die Netzhaut«.
Ebenso philosophisch-analytisch verfährt Kraus mit den weiteren Beispielen, die sie in der surrealistischen Fotografie findet, oder wenn sie Picassos Schaffen in einer »zeitlosen Atmosphäre« und dessen Wunsch die Wirklichkeit anzuhalten beschreibt. Auch bei James Pollock und Eva Hesse gelingt es ihr, wirkungsvoll aufzuzeigen, dass das »optische Unbewusste« Anspruch auf Wiederholung, Zeit, Rhythmus und Raum erhebt.
Als eine der wichtigsten amerikanischen Kunsthistorikerinnen und -kritikerinnen, zu denen Rosalind E. Kraus zählt, wurde die Deutsche Erstübersetzung ihres bereits 1993 im Original erschienenen und inzwischen zum Standartwerk gewordenen »The Optical Unconscious« vom Fachpublikum bereits mehr als erwartet. Krauss knüpft mit »Das optische Unbewusste« an ihre durch den Modernismus, der Philosophie sowie der Analytik bestimmten Sichtweise auf die Kunstgeschichte an, wobei sich auch hier ihre Beeinflussung vom amerikanischen Kunstkritiker Clement Greenberg – wenn auch inzwischen kritischer – zeigt.
Der unvermittelte Einstieg in dieses Werk mag sich aufgrund der bemerkenswert theoretischen und formalen Dimension von Krauss’ kunsthistorischem Verständnis zunächst als kein leichtes Vorhaben erweisen. Dazu mögen auch die häufigen Zitate, die uneinheitlich mal durch Anführungszeichen, mal durch kursiv gesetzten Text und wiederum durch einfach eingeschobenen Blocksatz gekennzeichnet sind und die zum Teil nicht praktisch angelegten bibliografischen Anmerkungen ihren Teil beitragen.
Doch das Volumen der sich anschließenden kunsthistorischen und philosophischen Theorien, der analytischen Konzepte sowie deren anschaulichen Erläuterungen mit stetigen Verweisen zu Denkern, die bereist oben erwähnt wurden oder solchen wie Ferdinand de Saussure und Jacques Derrida, entlohnen dies prompt.
Die lang erwartete Übersetzung trägt nun dazu bei, das Wirkungsfeld des Diskurses von Krauss’ Ansätzen nochmals auszudehnen. Um ihrer Argumentationslinie zu folgen und den Text besser greifen zu können, verlangt Krauss nichtsdestotrotz viel peripheres Wissen oder zumindest eine ausführliche Lektüre ihrer anderen Schriften, deren Übersetzunge ins Deutsche ebenfalls angestrebt werden sollte.