»Priester lässt dich grüßen, Gretschin. Male für mich zwei sechsflügelige Engel auf zwei Ikonen, damit ich (darauf) einen Deesisrang (stelle). Grüße dich. Gott wird dich belohnen, aber wir sprechen auch noch über die Bezahlung.«
Wo hat man das schon einmal gesehen: Briefe, auf Birkenrinde geschrieben, die uns den Alltag eines mittelalterlichen Lebens unmittelbar näher bringen. Das Zitat stammt aus einem solchen Schreiben von etwa 1200 und enthält eine Bestellung zweier Ikonen für eine Ikonostase (eine kultische Bilderwand, die im orthodoxen Kirchenbau zwischen Altarraum und Laienraum aufgebaut ist), die mit einer Deesis, der Darstellung einer »Fürbitte«, versehen sein sollte. Der Rindenbrief und viele weitere Alltagsgegenstände wie Schmuck, Münzen, Stofffragmente sowie Kultgerätschaften usw. sind in dem Katalogband »Nowgorod – Das goldene Zeitalter der Ikonen« zu sehen. Und um es schon vorweg zu sagen: Diese Kleinodien lassen das Buch zur grandiosen Entdeckung werden, während die in der Qualität sehr schönen Ikonenabbildungen den Band schon zum Genuss machen. Es treffen zwei Welten aufeinander: hier die statische Bildwerdung ewiger Schönheit des göttlichen Wesens, wie sie sich in den anonymen Ikonen jenseits musealer Kunstgeschichte erkennen lässt, dort die Urheber und Auftraggeber, die auf die allzu menschlichen Bedürfnisse verweisen - »wir sprechen auch noch über die Bezahlung«.
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Die begleitenden Texte des Bandes machen die Zusammenhänge der großen Bildtradition deutlich. Heinz Spielmann, der als künstlerischer Leiter die Ausstellung zusammen mit Ortrud Westheider betreut hat – ein eingespieltes Team im Hause Bucerius –, erläutert nicht nur »Konzept und Präsentation der Ausstellung«, sondern verweist auch auf die »Heidnischen Grundlagen der Ikone« vor dem Hintergrund des Neuplatonismus Plotins, nicht ohne einen kleinen Exkurs über Wassily Kandinskys Essay »Über das Geistige in der der Kunst« anzufügen. Engelina Smirnowa und Tatiana Wilinbachowa geben tiefe Einblicke in die »Byzantinischen Einflüsse auf die Kunst Nowgorods« und die Ikonenmalerei Nowgorods«. Da die Ikonenmalerei, wie angedeutet, weniger Kunst im heute geläufigen, engeren Sinne als weiter gefasste Vermittlung von Glaubens- und Lebensinhalt ist, wird sie in kleineren Beiträgen auch in den Kontext der Geschichte und Archäologie Nowgorods, der Architektur und Monumentalmalerei, des Kunsthandwerks und der Schriftkultur gestellt. Abschließend stellt Irina Solowjowa »Die Geschichte der Kunstsammlungen in Nowgorod und Sankt Petersburg vor. Sehr hilfreich für den Ikonenfreund ist das knappe Glossar am Ende des Bandes. Ergänzt wird die Ikonenparade – last not least – durch Plastiken und Reliefs, die die Anmut und Strenge der Ikonenmalerei ins Dreidimensionale übertragen – hervorzuheben sind hier etwa vollplastische Graddeckel und Brustikonen sowie phantastische Darstellungen des führenden Heiligen Georg.
Seit langem ist das Interesse für die Ikonenmalerei der Ostkirche im Westen ungebrochen. Gegenwärtig wird das an zumindest zwei Ausstellungen deutlich: zum einen diese großartige Präsentation im Hamburger Kunstforum Bucerius, die bereits im Mai dieses Jahres zu Ende ging, aber von Ende Oktober an im Walters Art Museum in Baltimore zu sehen sein wird (bis 1. Januar 2006), zum anderen die nicht minder beeindruckende Ikonenschau mit Werken aus dem Nationalmuseum Belgrad unter dem Titel »Glanz des Himmels«, die im Rostocker Kloster zum Heiligen Kreuz noch bis zum 7. August 2005 gezeigt wird (sie reist dann weiter ins Diözesanmuseum Rottenburg und ins Kloster Himmerod).
Heinz Spielmann / Ortrud Westheider (Hrsg.): Nowgorod. Das Zeitalter der Ikonen. München: Hirmer, 2005. 224 Seiten.
ISBN 3-7774-2595-8