Im letzten Jahr konnten die Besucher des Berliner Festivals »Tanz im August« das Werk einer der einflussreichsten Choreografinnen des postmodernen Tanzes neu entdecken: Deborah Hay (*1941). Sechs Neuauflagen bekannter Tanzstücke waren als Re–Interpretationen zu sehen. Darüber hinaus konnten die Besucher das Werk im Rahmen eines Symposiums und anhand von zwei Ausstellungen in der Akademie der Künste kennen lernen und genau untersuchen. Ergänzend ist auch ein Katalog erschienen. Susanne Braun hat ihn gelesen und sich außerdem in mehreren Aufführungen auf Spurensuche begeben.
In einer Ecke stehen Umzugskartons voller Archivmaterial, in einer anderen sind Bücher einladend aufgestellt und in einer weiteren gibt ein Plattenspieler Rockmusik über Kopfhörer wieder. Es ist ein bisschen so, als ob man Deborah Hay (*1941) in ihrem Wohnzimmer besuchen und in ihren Sachen stöbern würde. »Sie dürfen alles anfassen«, versichert Laurent Pichaud auf Nachfrage. Der Tänzer, Forscher und Mitarbeiter von Deborah Hay ist während der Öffnungszeiten häufig vor Ort und steht den Besuchern für Fragen zur Verfügung. Er hat das »Deborah Hay Documentation Center« konzipiert, das in der Berliner Akademie der Künste für die Dauer des Festivals im Max Liebermann–Saal beheimatet ist.
Vieles von dem, was im »Deborah Hay Documentation Center« zu sehen ist, findet sich auch in dem Katalog »RE–Perspective Deborah Hay« der bei HatjeCantz in Kooperation mit Tanz im August und HAU/Hebbel am Ufer herausgegeben worden ist. Anhand von Aufführungsplakaten, Fotos, Tanzanleitungen, Zitaten oder Briefen aus dem Archiv werden wesentliche Stationen des Werdegangs Hays von 1968 bis heute nachgezeichnet. Dazu gehören die Unzufriedenheit der Schülerin von Merce Cunningham (1919–2009) und Mitbegründerin des Judson Dance Theaters mit ihrer Karriere als Tänzerin in New York aber auch der Beginn ihrer Arbeit mit ungelernten Tänzern und die damit verbundene Archivierung ihrer Tanzstücke in Form von Text und Zeichnung. Das Schreiben wurde für Hay sogar notwendig, um ihre Choreografien besser zu verstehen: »I need writing to learn what I am dancing«, wird sie von Myrto Katsiki und Laurent Pichaud in ihrem Beitrag zum Katalog »Reading Deborah Hay« zitiert. Klar wird, dass ihre Anleitungen niemals absolut zu setzen sind, sondern den Tänzer*innen eine Hilfestellung dabei bieten sollen, ihre eigenen Interpretationen – ausgehend von Hays Ideen – zu entwickeln.
Hays Tänze lassen sich in nicht in gängige Bewegungsmuster einordnen und entwickeln dadurch sogar dadurch eine philosophische Dimension, wie Kirsi Monni darlegt. Die Tänzerin und Forscherin bringt Hays Arbeit mit Heideggers »Sein und Zeit« und Adornos »Ästhetischer Theorie« in Verbindung. Indem Hay den Tänzer*innen die Möglichkeit gegeben habe, nicht in bekannte Verhaltensmuster zurück zu fallen, seien sie auch dazu ermutigt worden, sich mit den grundlegenden Fragestellungen »why, how and what« zu beschäftigen und sie zum Ausdruck zu bringen.
Ergänzend dazu war auch die Video–Installation »Perception Unfolds: Looking at Deborah Hay’s Dance« in der Akademie der Künste zu sehen. Videos unterschiedlicher Interpretationen desselben Tanzes werden dabei auf weitestgehend durchsichtige Leinwände projiziert. Die Bewegungen der Besucher werfen Schatten und ergänzen die Bewegungen der Tänzer, zum Teil verdecken sie diese auch vollständig. Gerade dann, wenn die Ausstellung gut besucht ist, ergibt sich so aus dem Spiel von Licht und Schatten ein ständig wechselnder Eindruck.
Die Re–Interpretationen von Hays Stücken funktionieren ähnlich. Um zu verdeutlichen, dass die Tänzer und Hay selbst auf Basis der bekannten Choreografien immer wieder neue Deutungen mit unterschiedlichen Akzenten setzen, bekommen die Namen der Stücke den Zusatz »… revisited«. Wie sehr Hays Choreografie das tanz–affine Publikum immer noch anspricht, zeigt der begeisterte Befall, der die Aufführungen im Rahmen des Festivals »Tanz im August« begleitet. Eine Erklärung dafür liefert Susan Leigh Foster im Katalog: Hay mache grundlegende Fragen zu Körper, Geist, Raum oder Zeit in ihren Choreografien zum Thema. Diese Fragen könnten nie vollständig beantwortet werden, sie ließen sich allenfalls auf unterschiedliche Weise interpretieren und re–interpretieren. Letzlich blieben sie aber immer aktuell.
Hays Einfluss wird darüber hinaus in vielen Arbeiten anderer Choreograf*innen spürbar. Zum Beispiel philosophiert die Performerin in Nicola Gunns »Piece for Person and Ghettoblaster« laut darüber, warum es sie so unglaublich ärgert, dass ein Mann Steine nach einer Ente wirft. Worte und Bewegungen ergänzen oder konterkarieren einander. Die Stimmung changiert von absurd–komisch über ernst–nachdenklich bis hin zur bitterbösen Gesellschaftsanalyse, die weit über das Enten–Szenario hinaus weist. Humor auch ein Erfolgsrezept in vielen von Hays Stücken.
Aber auch »White Dog« von Latifa Laâbissi oder »The Fading of the Marvelous« von Catherine Gaudet atmen etwas von dem Geist, den Hay »aus der Flasche« gelassen hat. Diese Kunst bleibt sperrig und macht ein rein oberflächliches Vergnügen unmöglich.
In diesem Jahr musste das Bühnenprogramm von »Tanz im August« wegen der COVID–19–Pandemie abgesagt werden. Vom 21. bis 30. August wird es jedoch eine »Special Edition« des Tanz–Festivals geben, die online und im öffentlichen Raum statt findet. Das genaue Programm soll in der 2. Augustwoche auf der Webseite von »Tanz im August« veröffentlicht werden.
Tanz im August Special Edition 2020
32. Internationales Festival Berlin
21.–30.8.2020 | Online & Outdoor
https://www.tanzimaugust.de